Das heimliche Spiel

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»Du hast sehr laut geschrien, vorher«, bemerkte Clara, in Gedanken versunken.

»Niemand verstand es«, sagte die andere zornig, mit weinerlicher Stimme; und sie wandte der Freundin ihr fast alt gewordenes Gesicht zu mit den trockenen Augen, die vergrößert schienen wie von schwarzer Schminke. »Er ist nicht mehr da«, murmelte sie mit einem Seufzer, »er ist fortgegangen.«

Mitten zwischen diesen hohen, gestaltlosen Häusern sah sie so klein aus, daß Clara Mitleid mit ihr hatte; da erzählte sie ihr heimlich: »Heute haben wir alle ›hier‹ geantwortet beim Aufrufen, als dein Name verlesen wurde.«

Maria schüttelte sich und sagte: »Komm!« Die beiden Freundinnen faßten einander bei der Hand. Maria ging ängstlich voraus und führte Clara, indem sie ihr neues, verwelktes Gesichtchen nach vorne schob. Der Wind wurde schwächer und die Menschenmenge spärlicher, je weiter sie voranschritten. Als sie zu einer niedrigen, grasbewachsenen Mauer kamen, war der Nebel durchsichtig geworden wie Fensterglas.

»Hier ist niemand mehr«, flüsterten sie.

Maria hielt verstohlen inne, noch außer Atem. Dann schüttelte sie den Kopf und kauerte sich dicht an die Mauer mit einem sehnsüchtigen, absonderlichen Lächeln.

»Schau!« rief sie in einem kurzen, triumphierenden Schrei. Und langsam, mit unendlicher Angst und Ehrfurcht, wie jemand, der ein Geheimnis entdeckt, öffnete sie vorne den Halsausschnitt ihrer Schulschürze. »Darunter hat sie nichts an«, dachte die Freundin.

Und mit geneigten Köpfen schauten sie beide und hielten den Atem an vor Verwunderung. Man sah, daß die Brust zu wachsen begann; auf der kindlichen weißen Haut sprossen auf beiden Seiten zwei kleine nackte Dinge hervor, zwei wachsenden Blumenknospen gleich.

Sie lachten miteinander, ganz leise.

Die Großmutter

Als sie mit vierzig Jahren Witwe wurde, merkte Elena, daß sie nur halb lebendig war und sich in einer erbarmungslosen und unüberwindlichen Leere befand. Ihr Mann war ihr nie ein wahrer Gefährte gewesen; sie hatte neben diesem Kaufmann dahingelebt oder richtiger: vegetiert, denn er war geizig wie eine Schmarotzerpflanze, der das geringste bißchen Erde und Wasser genügt, um nicht zu verdorren. Doch nachdem der Mann nicht mehr da war, fühlte sie sich, als hätte sie im Winterschlaf gelegen und nähme nun, von einer heftigen Erschütterung geweckt, den Winter wahr, der ihren Schlaf umgeben hatte und der ihr jetzt bei ihrem Erwachen keine Nahrung spenden konnte. Das Haus, das der Mann ihr hinterlassen hatte, lag eingepfercht in einer der finsteren Schluchten, von denen es in der Stadt so viele gab. Einst war diese Stadt von einem Volk von Kaufleuten und Seefahrern auf dem Rücken eines ganz aus Felsen und Klüften bestehenden Hügels erbaut worden; und während einige Häuser hoch oben in der Sonne lagen, waren andere zwischen Treppen und engen Gäßchen zusammengedrängt, wo es häufig zu Raufereien kam und wo man mit geweiteten Nasenflügeln begierig darauf wartete, daß der Wind den Geruch des Meeres herüberwehe.

Das Haus war mit gewöhnlichen und geschmacklosen Möbeln eingerichtet, Dutzendware oder Gelegenheitskäufe, die zwischen kahlen, hohen Wänden standen. Mäuse und Mistkäfer nisteten in Löchern, und Elena bewegte sich in diesen Zimmern wie in der Tiefe eines Brunnens. Mit den Augen suchte sie das Licht, denn es war ihr, als sei sie eingeschlossen zwischen glatten und ausweglosen Mauern, die sie mit großen Anstrengungen immer wieder vergeblich zu erstürmen suchte. Beklommenheit und Verwirrung überkamen sie, und zuletzt faßte sie den Entschluß abzureisen.

Ihr Mann hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen; aber zu wissen, daß sie nun frei und reich war, half ihr nicht, jenes Bedürfnis nach einsamer Stille abzuschütteln, das sie von jeher gehabt hatte. Sie beschloß also, in ein Landhaus zu ziehen, das sie noch nie gesehen hatte, obgleich es zu ihren Besitzungen gehörte. Sie wußte, daß es geräumig und ruhig war und daß ein Stockwerk vermietet war und das andere leer und für sie bereitstand. Ihre Phantasie begann um den Namen des Dorfes zu kreisen, um das Haus, den Fluß, die Kirche, und das Verlangen, all diese vorgestellten Dinge mit ihren Händen zu berühren, schnürte ihr die Kehle zu, bis sie weinen mußte. Sie weinte lange am trüben Fenster vor den schmutzigen, engen Gassen, aber ihr Körper schüttelte sich nicht. Ihre Gestalt war hochgewachsen und kräftig, ohne weibliche Rundungen, beinahe männlich und dennoch sonderbar weich; diese Weichheit verliehen ihr vielleicht ihr langsamer und zerstreuter Gang, die Zerbrechlichkeit ihrer Gelenke und durchsichtigen Finger und die singende Stimme, in der zuweilen volle und tiefe Töne aufklangen. Wenn auch in ihrem bleichen, länglichen Gesicht kein Schatten eines Fältchens zu sehen war, so lag doch eine Müdigkeit darin wie ein Verlangen nach Schlaf und Auflösung, und nur die starren Lichter ihrer Augen leuchteten lebhaft unter dem immer zerzausten, dunklen Haar. Ihr Lächeln war sanft und weich, trotz ihrer schlechten Zähne.

Mit stillem Eifer, der einem langsamen Fieber glich, traf sie die Vorbereitungen zur Abreise. Sie leerte die Schränke und Schubladen, dann und wann innehaltend, um mit verträumten, schweifenden Blicken über die Stoffe zu streichen. Eine große Hochzeitstruhe in der Ecke des Schlafzimmers enthielt Wäsche und Kleidchen für ein Neugeborenes, die sie selbst genäht hatte. Ihre Ehe war unfruchtbar gewesen, aber der Wunsch nach Kindern brannte in ihr während der Zeit der Jungfräulichkeit und der Reife; und während sie vergeblich wartete und spürte, wie ihr Leib in einer verzweifelten Sehnsucht verdorrte, hatte sie eine prächtige Ausstattung genäht und Lätzchen und Leibchen gestickt, wobei sie die gleiche kindliche und geheimnisvolle Freude empfand wie die Nonnen in den Klöstern, wenn sie Meßgewänder nähen. Viele Tage ihrer Ehezeit hatte sie mit dieser Arbeit zugebracht, die sie zuweilen wehmütig stimmte, zu weilen aber so entmutigte, daß sie in krampfhaftes Weinen ausbrach. Sie versuchte, sich lebendige, zarte Körperchen in diesen Windeln vorzustellen, und nachts zuckte sie zusammen, denn im Traum war es ihr, als fühle sie in ihrem Leib die Bewegungen eines Kindes. Jetzt zog sie ein Kleidchen nach dem andern aus der Truhe, hielt es in der Hand und liebkoste es. Abermals wurde sie von jenem alten Schmerz ergriffen, und die dunklen Wände lasteten auf ihr wie ein Alp; aber sie dachte daran, daß sie abreisen wollte, und riß sich zusammen. Die Kinderausstattung kam wieder in die Truhe, und mit dem übrigen Gepäck reiste sie ab.

Es war Herbst, und das Dorf, das sie empfing, lag in einer grauen Landschaft, in welche die rotbelaubten Bäume spärliche Farbflecke streuten. Von den erdfarbenen Häusern mit den roten oder schwarzen Dächern waren einige niedrig, nur einstöckig, andere schmal und lang, mit Fenstern wie Schießscharten. Hinter manchen offenstehenden Türen sah man die Herdfeuer glühen, und über die schlammigen Wege gingen Ochsenherden, und Bauern in grünlichen Mänteln ritten auf Pferden. Zum Ende des Dorfes hin lief ein vom Regen angeschwollener, lehmfarbener Fluß, der sich bei einem plötzlichen steilen Abfall des Geländes in einen Wildbach verwandelte und mit wütend brausenden Strudeln hinabstürzte; über den Fluß führte eine schmale Eisenbrücke mit dünnen Pfeilern, die an beiden Seiten von einem spitzen Bogen eingefaßt war. Nicht weit davon entfernt stand Elenas Haus.

Es war bescheiden, langgest reckt und hatte ein weit überspringendes Dach. In dem von einer Hecke umgebenen Garten wuchs zwischen dem Gemüse ein einziger Baum mit dünnem Stamm, ein Ailantus, der, weil er so außergewöhnlich rasch wächst, auch »Paradiesbaum« genannt wird. Seine Krone reichte schon bis zum oberen Stock. Unten lief ein plumper Bogengang um das Haus, und an der rechten Seite führte eine Außentreppe in das obere Geschoß hinauf. Die Zimmer waren geräumig und halb leer, so daß die Schritte auf dem steinernen Fußboden metallisch widerhallten. Die weißgekalkten Wände waren von Nischen, Türen und Alkoven unterbrochen, und durch die schmalen, hochgelegenen Fenster drang ein fahles, schräges Licht. Vor einem der Fenster blieb Elena auf Zehenspitzen stehen, bis es dämmerte, und betrachtete die Schlucht des Wildbachs, die schlammigen Straßen unter den Hufen der Pferde und das Dunkelwerden des Himmels.

Als es finster war, fiel ihr ein, daß sie den Bewohnern des Erdgeschosses ihre Ankunft mitteilen müsse. Sie stieg in den Garten hinunter, wo die Luft schneidend kalt geworden war, und klopfte an die Tür:

»Es ist offen!« sagte von drinnen eine tiefe, volltönende Stimme, die im Bogengang widerhallte.

Elena trat ein, und einem hellen Licht folgend, das scharfe Schatten in den Korridor warf, gelangte sie in eine Küche. Die Lampe mit der weißen, schwankenden Flamme hing gerade am Eingang, und der Mann, der gesprochen hatte – es war ihr sogleich, als erkenne sie ihn wieder –, saß an einem kleinen Tisch neben der Tür und schnitzte mit einem sichelförmigen Messer menschliche Züge in einen grobbehauenen Baumstamm; sie wußte bereits, daß ihr Hausbewohner ein Schnitzer von Heiligenfiguren war.

Er mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein, und über seiner männlichen, kraftvollen Gestalt wirkte sein Gesicht beinahe weiblich, gleichsam unvollendet wie das eines Kindes. Er hatte große blaue Augen, gebogene Wimpern, weiche frische Lippen und lockiges rotes und ziemlich wirres Haar. Der blonde Bart machte das Gesicht nicht derber, sondern verlieh der Haut einen rosig bronzefarbenen Schimmer, und die leichte Bewegung seiner großen Hände rings um das Holz war geheimnisvoll und wunderbar wie Kinderspiel. Er trug alte Hosen aus rotem Barchent und eine grünliche, abgeschabte Wildlederjacke. An den Füßen hatte er weite, mit Fell gefütterte Pantoffeln.

 

Nach einem Augenblick des Zögerns erhob er sich, als Elena eintrat, und stammelte eine Begrüßung, wobei er plötzlich errötete, aber nicht aufhörte, mit seinen Fingern über das Holz zu streichen.

»Ich bin die Besitzerin des Hauses«, sagte Elena ganz sicher und heiter, »ich bin heute angekommen.«

»Ach, ja«, sagte er verlegen mit derselben frischen und volltönenden Stimme, die zu ihr gesprochen hatte, als sie hereinkam; dann wandte er sich zur Seite und fuhr fort: »Mama, die Signora ist da.«

Jetzt bemerkte Elena, daß sich in dieser rauchigen und schrägen Küche noch jemand bewegte. Neben dem Herd, auf dem ein nach Speck duftendes Gericht schmorte, kniete die Gestalt einer Frau, die damit beschäftigt war, in der Kohlenglut herumzustochern. Sie drehte sich kaum um bei dem Ruf, und Elena spürte sogleich, daß ein schwarzer Blick sie anblitzte. Einen Augenblick später stand die Frau auf und kam argwöhnisch näher; sie lehnte sich an den Sohn mit dem Ausdruck eines Kindes, das eine Natter im Gras erblickt und sich an den Rock der Mutter flüchtet.

Verstört wandte Elena die Augen ab und richtete sie gegen die Decke, die sehr hoch war und im Schatten lag, so daß sie sonderbar fern erschien. Doch voll Verlangen nach Sympathie und Freundschaft schaute sie von neuem die beiden Schweigenden an. Die Frau war nicht sehr groß, sie schien uralt zu sein, ihr Gesicht war hager und sonnenverbrannt und voller Runzeln, doch dieses hinfällige Aussehen stand in seltsamem Gegensatz zu ihren ruckartigen, raschen und fieberhaften Bewegungen. Sie war wie eine Bäuerin gekleidet, mit schwarzem Rock, schwarzem Mieder und einem weiten, wollenen Umschlagtuch, das Fransen hatte und mit roten Arabesken bestickt war. Ein schwarzes Kopftuch, dessen Zipfel unter dem Kinn gebunden waren, umrahmte ihr Gesicht, so daß man die Haare nicht sah, und von den Ohren hingen ihr zwei hölzerne Ohrgehänge in der Form von Kreuzen, sicherlich eine Arbeit des Sohnes. Ihre Füße waren sehr klein und steckten kokett in blanken Stiefelchen mit gerundeten Spitzen, die zu ihrer ländlichen Kleidung gar nicht paßten.

»Wenn die Signora Platz nehmen möchte«, sagte der Sohn nach einer Weile, »und zum Nachtessen bei uns bleiben…« Elena errötete, als sei sie bei einem Vergehen ertappt worden. Die Alte schien von Entsetzen ergriffen:

»Aber nein!« rief sie, ohne Elena anzublicken. »Es ist nichts im Haus. Es ist überhaupt nichts da…« Und hastig wiederholte sie immer wieder dieses »Nichts« und fuchtelte mit den Händen.

Betroffen blieb Elena noch einen Augenblick stehen; ihr war zum Weinen zumute. Draußen ertönte der Schrei eines Nachtvogels, und sie glaubte sogar seinen Flügelschlag zu vernehmen.

»Guten Abend«, flüsterte sie eilig und streckte die Hand aus. Der junge Mann drückte sie in der seinen, die groß und warm war, und die Augen der Alten funkelten. Die Nacht war so schwarz, daß die Erde sich nicht mehr vom Himmel unterschied; nur an einer Stelle des Himmels erschien eine undeutlich leuchtende Helle, vielleicht der Mond, der durch die Wolkenmassen schimmerte.

Mitten in der Nacht glaubte Elena ein leichtes Kratzen an der Tür zu hören und dann einen schleichenden Schritt, wie den eines Tieres, der näherkam. Und dann fühlte sie an ihrer Haut unter den warmen Decken etwas Weiches, Gewichtloses, Flüchtiges. Sie hüllten sich zusammen in einen gemeinsamen warmen Atem ein; Elena streckte die Arme aus und öffnete die trockenen Lippen mit jener Kraftlosigkeit und Ruhe, die einem das Fieber gibt. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Es war niemand im Zimmer, sie war ganz mit Schweiß bedeckt.

Den Rest der Nacht verbrachte sie in einem trägen, tiefen Schlaf. Als eben der Morgen dämmerte, er wachte sie und ging in den Garten hinunter. Ein Teil des Himmels war heiter, die Sonne war noch nicht aufgegangen, und ein feuchtes, eisiges Licht fiel auf die Dinge herab; schon waren Pferdehufe zu hören und dann und wann ein paar schallende Stimmen. Auch ihre Hausgenossen waren schon wach; aus der angelehnten Tür tönte ein dumpfer Singsang in einer unverständlichen und kindischen Sprache. Es war die Alte, die ein Klagelied sang. Dann ging die Tür weit auf, und die hohe Gestalt des Bildschnitzers erschien in der Öffnung. Elena zuckte zusammen, sie fühlte sich nicht vorbereitet auf diese Begegnung, und der junge Mann schien sogar noch schüchterner als am Abend zuvor. Seine Augen waren wie befeuchtet vom morgendlichen Schimmer, und in seinen Zügen lag noch die zerfallene Blässe des Schlafs.

»Wollt Ihr meine Heiligen sehen?« flüsterte er unvermutet, als sei es ein Geheimnis.

Elena ging ihm durch den kurzen Flur voran; die Alte am Herd hielt in ihrem Lied inne, um auf ihre argwöhnische und erschrockene Art hinüberzuschielen, aber sie sagte nichts. Die beiden wandten sich nach links, und Elena betrat eine niedrige, dunkle Kammer, in der neben einem vergitterten Fenster ein paar Figuren in einer Reihe standen, die ihr kaum bis zur Hüfte reichten. Sie waren von naiver und feierlicher Steifheit und hatten die natürliche Farbe des Holzes. Eine Heilige Jungfrau mit einer dreireihigen Kette um den Hals streckte die langen und gespreizten Finger aus, wie um zu flehen, aber ihr Antlitz war gleichmütig und ausdruckslos. Ein David, halb nackt und skeletthaft, die Haare lose auf die Schultern herabfallend, schaute starr nach vorn mit seinen pupillenlosen Augen, während er mit dem Fuß auf einen noch ungeformten, kaum angedeuteten Kopf trat. Ein Engel stand streng und aufrecht da, von einer Kutte mit symmetrischen Falten bedeckt, und seine geschlossenen Flügel waren im Vergleich zum Körper ungeheuer groß. Schweigend betrachtete Elena alle diese Idole, unfähig, etwas über sie zu sagen. Das kleine Fenster ging auf den Wildbach hinaus, und in der aufgehenden Sonne sah man durch das Gitter den Widerschein des auf dem Wasser tanzenden Lichtes. Der junge Mann hatte sich liebevoll über seine Statuen gebeugt, um einen Staubschleier von Davids Gewand zu wischen, als sie von der Alten unterbrochen wurden, die mit flehender und zugleich befehlender Stimme von der Küche her rief:

»Giu-seppe! Giu-seppe!«

Sie schraken auf, und diesmal ging der Bildhauer Elena voran in die Küche. Als bemerke sie die Gegenwart der anderen Frau nicht, sagte die Mutter vorwurfsvoll zu ihrem Sohn:

»Hast du vergessen, daß es Zeit für die Messe ist?« Dann ging sie in eine Ecke und hob ein Paar lange, glänzende Stiefel auf. Der junge Mann setzte sich wortlos auf einen mit Stroh bezogenen Stuhl, und die Alte kniete sich vor ihn hin. Gebückt, bis sie ganz krumm war, zog sie ihm mit aufmerksamen und demütigen Gebärden die Pantoffeln aus und die schwarzen Stiefel an. Während er reglos mit stillem Lächeln dasaß, band sie ihm das Seidentuch um den Hals, und nachdem sie einen Kamm aus der Tasche gezogen hatte, kämmte sie ihm lange das blonde, vom Schlaf zerzauste Haar.

Schließlich schob er sie sachte mit der Hand beiseite, stellte sich aufrecht hin und ging hinaus, ohne zu sprechen. Elena, unfähig, einen Schritt zu tun oder eine Silbe von sich zu geben, blieb in der Küche an der getünchten Wand stehen, auf welche die Sonne jetzt rote Strahlen warf. Unterdessen ging die Alte zum Herd und nahm einen Rosenkranz vom Nagel. Sie kam mit einem so leichten Schritt zurück, daß Elena es nicht bemerkte und zusammenzuckte, als sie auf ihrem Gesicht den Atem der Alten spürte. Die Alte war so nahe an sie herangetreten, daß die Zipfel des Kopftuches sie streiften und Elena ihre Zähne knirschen hörte. Unter dem Netz der Runzeln erschien das Gesicht der alten Frau aufgewühlt wie von einem Sturm:

»Du hast ihn mir verhext«, zischte sie Elena ins Gesicht mit einer seltsamen Raschheit, »weh dir, wenn du ihn mir wegnimmst.« Diese Worte hörten sich an wie ein Schluchzen. Elena wollte etwas entgegnen, aber schon ging die Alte mit ihrem behenden Gang hinter dem Sohn her. Dann konnte Elena sie durch das Fenster sehen, wie sie auf dem gewundenen Pfad hinabstiegen und wieder auftauchten. Der hochgewachsene und kräftige Sohn schien langsam zu gehen, und doch mußte die Mutter den Schritt beschleunigen, um mitzukommen. Sie reichte dem Sohn kaum bis zur Schulter, das schwarze Kleid wallte ihr um die Beine.

Plötzlich legte Elena sich ihren violetten Schal wieder um den Kopf, denn es fiel ihr ein, sie könne ebenfalls zur Kirche gehen. Da sie den Weg nicht kannte, war sie gezwungen, den beiden, die schon einen weiten Vorsprung hatten, von ferne zu folgen, und sie begann zu laufen. Der steinige Pfad führte bergauf und bergab, und sie lief so schnell, daß es war, als gleite der Weg unter ihren Füßen fort. Sie verlor die beiden vor sich nicht aus den Augen; doch mit einemmal schien es ihr, als seien sie verschwunden, und ihr Herz klopfte vor Erregung. Der Weg fiel an dieser Stelle steil ab, und sie lief nun doppelt schnell, die Zipfel des Schals an ihre Brust pressend. Sie vernahm einen mächtigen Orgelklang und einen Chor von Stimmen, und da wußte sie, daß sie bei der Kirche angekommen war.

Sie staunte über die große Menschenmenge, die sich trotz der frühen Stunde hier eingefunden hatte. Die Leute des Dorfes mußten sehr fromm sein. Einige Pferde, die man am Bein an Baumstämmen festgebunden hatte, warteten etwas vom Eingang entfernt. Die heilige Stätte war voll von Leuten, die in ihrer Bauerntracht dicht aneinandergedrängt standen und mit weit aufgerissenen Mündern sangen, die Augen auf den Priester gerichtet, der die Messe las. Der Raum war schmal, langgest reckt und schmucklos, und durch die sehr hohen Fenster ohne Glasscheiben strömte ein heftiges Licht. Dieses Licht vermischte sich mit dem Weihrauch, der so dicht war, daß sein Geruch die Kehle zusammenschnürte und die Gläubigen in einen flimmernden Nebel getaucht waren.

Elena blieb beim Weihwasserbecken stehen und versuchte, mit den andern zu singen. Aber sie war vom raschen Laufen ermüdet und vom Weihrauch betäubt, so daß ihre Lippen sich ohne einen Laut bewegten. Gleich beim Hereinkommen hatte sie nicht weit entfernt den Bildhauer und seine Mutter erblickt. Um eine Berührung mit der übrigen Menge zu vermeiden, hielten die beiden sich dicht an der Wand; der Mann sang gleichmütig und richtete die Augen starr auf den Altar; die Mutter, die Hände unter dem Umschlagtuch gefaltet, folgte mit in verzückter Anbetung geweiteten Pupillen jeder Bewegung seiner Lippen, als müsse sie erst in diesem Augenblick die Worte des Chorals von ihm lernen. Alle beide waren sie tief versunken in ihren Gesang und merkten es nicht, als der Chor verstummte; so schwebten ein paar Sekunden lang nur ihre beiden vereinten Stimmen durch die Kirche. Elena hörte mit Verwunderung die Stimme des jungen Mannes, die, im Schweigen widerhallend, aus der Orgel hervorzukommen schien.

Als die Messe zu Ende war, fühlte sie sich plötzlich vorwärts gestoßen von den vielen Menschen, die beim Weihwasserbecken das Knie beugten. Einen Augenblick lang sah sie noch die Alte und fühlte ihren aufmerksamen und drohenden Blick auf sich ruhen; aber bald tauchte sie mit dem Sohn in der Menge unter. Die Kirche leerte sich, und die Leute verschwanden in den Gassen; die Pferde entfernten sich mit leichtem Trab. Jetzt wurde die schon senkrecht stehende Sonne von einer schwarzen Wolkenmasse gestreift, die Strahlen durchdrangen den gewitterschweren Schatten und brachen sich zerstiebend in der Mulde des Tals. Elena beeilte sich, da sie den Regen voraussah. Mühelos, fast ohne zu überlegen, fand sie den Weg wieder, den sie beim Kommen gegangen war. Kaum war sie beim Gartentor angelangt, als die düstere und funkensprühende Luft in einen fegenden Windstoß umschlug und der mit Wasser vermischte Staub aufwirbelte. Und dann regnete es mit blinder Wut.

Einige Tage sah Elena ihre Nachbarn nicht. Oft hörte sie die Stimme der Alten laut sprechen oder im Ton einer dumpfen Klage ihren Sohn rufen; doch wie in einem geheimen Einverständnis vermieden sowohl sie als auch die beiden andern eine Begegnung. Sie hatte das Gefühl, als hätten Mutter und Sohn einen magischen Kreis um sich gezogen, den zu überschreiten ihr nicht gestattet war. Sie blieb außerhalb der Kreislinie, furchtsam und wie verzaubert. Anstatt aber den Frieden zu genießen, den sie vom Aufenthalt auf dem Lande erhofft hatte, ging sie wie eine Schlafwandlerin durch die Zimmer, von unbestimmten Leidenschaften erregt. Manchmal überkam sie ein leichter Schlummer, aus dem sie mit einem Ruck aufschreckte, bestürzt und mit schmerzenden Gliedern wie jemand, der gewaltsam an einen fremden Ort geworfen wurde.

Bei einem solchen Erwachen an einem späten Nachmittag erstaunte sie, daß sie mitten im widergespiegelten Licht des Flusses dasaß, das in breiten, schwankenden Wellen an die Wände schlug. Ihr war, als lande sie taub und trunken an einem fernen Ufer, und erst nach einigen Sekunden merkte sie, daß Giuseppe vor ihr kniete mit lächelnden, in kindlicher Anbetung verlorenen Augen.

 

Angsterfüllt sprang sie auf.

»Ich bin es«, stammelte er. Ihr Antlitz erbleichte, eine Flamme zuckte ihr über die Haut, und eine brennende Blutwelle strömte in ihre Brust. Mit unsicheren, verlangenden Händen berührte sie sein Haar, und einen Augenblick lang schwankten sie, vom Licht umhüllt. Da umfaßte der Jüngling ihre Hüften und lehnte schweigend seinen Mund an ihren unfruchtbaren Leib.

Ihre Heirat wurde auf Weihnachten festgesetzt; dann nämlich war Elenas Trauerzeit um. Während der Tage, die der Hochzeit vorausgingen, vermieden sie, als sei es eine stillschweigende Abmachung, von der Mutter zu sprechen. Die Alte blieb in ihrem Zimmer und ging Elena aus dem Wege; wenn sie jedoch durch einen Zufall zusammentrafen, wandte sie rasch ihr verzerrtes, erdfahles Gesicht ab. Eines Morgens aber, als Giuseppe nicht da war, hörte Elena eine rauhe, unmenschliche Klage, die aus einem geschlossenen Zimmer drang. Obwohl ein heftiger Widerwille sie fast erstickte, trat sie ein und sah in einer Ecke des Zimmers die Alte auf den Knien liegen und ihre Stirn gegen die Wand pressen. Der von den schwarzen Kleidern umhüllte Körper rührte sich nicht, aber die Muskeln zuckten unter der Haut, und die Eingeweide wurden vom Weinen erschüttert. Die Alte streckte die Arme an der Wand aus und krümmte die Finger, als suche sie einen Halt, an den sie sich klammern könne.

»Signora …«, stotterte Elena töricht; aber die Alte wandte sich nicht um und antwortete nicht, sondern nahm mit noch größerer Eile ihr verworrenes Fluchen oder Beten wieder auf:

»Man hat ihn mir gestohlen, meinen Sohn«, hörte Elena, »meinen einzigen Sohn, meinen Jungen.« Und auf ihrem faltigen, blassen Hals schwollen die Adern an, daß es aussah, als müßten sie zerspringen und als müßte die Alte auf einmal totenbleich umfallen. Mit einem Gefühl von schmerzender Scham ging Elena aus dem Zimmer. Die Verwünschungen und Klagen der Alten verfolgten sie unentwegt und flößten ihr Furcht ein, fast als sei ihr ein wütender Hund auf den Fersen.

Hinter einem Haus hervor trat Giuseppe ihr entgegen mit dem verlegenen Lächeln und der kindlichen Röte, die ihn jedesmal überkamen, wenn er Elena begegnete. Sobald sie beisammen waren, wußten sie nicht, was sie einander sagen sollten; eine unbestimmte Verwirrung erfaßte sie, wie vielleicht zwei Pilger sie verspüren, die nichts Gemeinsames haben, aber denselben Weg zurücklegen müssen. Doch kaum waren sie in einem dröhnenden Pulsschlag beieinander, den nur sie allein fühlen konnten, strebte und schwoll das Blut des einen dem Blut des andern entgegen, und die beiden Wogen flossen ineinander mit solcher Macht, daß sie meinten, alles Blut sei aus ihren Adern gewichen. Sie drückten einander die brennenden Hände, und ihr Atem vermischte sich in der eisigen Luft. Elena hatte eigentlich von der Mutter zu ihm sprechen wollen, aber nun waren die Klagelaute verstummt, und in der Stille heftete sich der Dunst des Sonnenuntergangs, der den Raum um sie frei ließ, an die Dinge ringsherum, so daß es aussah, als stiege er aus ihnen auf. Sie gingen ins Haus, und Elena glaubte, die Alte schlafe jetzt vielleicht.

Die Hochzeit wurde in Eile und in aller Stille gefeiert. Nun begann für Elena eine seltsame Zeit. Während sie in einem Zustand zwischen Trunkenheit und Schlaf umherging, schienen unter ihren Augen alle Dinge aus dem Chaos neu zu entstehen und aus einem inneren Antrieb Gestalt anzunehmen. Und das Sich- Entwickeln dieser Formen spürte Elena in sich selbst, unter ihrer Haut und in ihrem Gehirn, so deutlich, daß sie alle Dinge mit geschlossenen Augen hätte erkennen können. Zugleich geschahen unter ihren Augen sonderbare Verwirrungen; die Unterschiede zwischen den Gegenständen waren aufgehoben, eine geheime Übereinstimmung stellte sich her zwischen den Reichen der Natur, und es war, als höre das eine Reich auf, wo das andere begann, als habe das eine am anderen teil. Oft schien es ihr, als ob ein Stein atme und Wurzeln schlage in der Erde wie eine Pflanze. Oder die Bäume nahmen das starre Leben der Steine an, die Blätter flogen umher wie Insekten, und die Tiere wurden zu reglosen Massen. Und sie selbst fühlte sich wie ein Baum, aus dem die Knospen hervorsprossen mit qualvoller Wonne. Wenn sie einen Gegenstand auch nur streifte, erschauerte sie vor Freude; sie liebkoste alle Dinge, und es war ihr, als entdecke sie alles neu, als entstehe alles in ihrem eigenen Geheimnis. Ihre Augen glänzten, ihr Haar war weicher geworden und schien von Leben zu zittern. Ihr Busen, der immer flach und kümmerlich gewesen war, wölbte sich wie der einer Jungfrau; sie ging langsam und lässig mit königlicher Bewegung. Während die Tage verstrichen, entwickelte sich ihr Körper wie durch ein Wunder zu sanften, weiblichen Rundungen, und sie betrachtete sich erstaunt.

Als sie begriff, daß sie schwanger war, erfüllte sie eine so tiefe Freude, daß ihr war, als versinke sie darin. In ihrer überschäumenden Dankbarkeit schien es ihr, als sei ein Gott mit Leib und Seele gegenwärtig in ihrem eigenen Sein, und sie fiel auf die Knie, und die Tränen strömten über ihr Gesicht. Ganz dem Wunder zugewandt, das sich in ihr vollzog, vergaß sie, daß die Tage und Nächte aufeinanderfolgten; und Lachen und Weinen kamen ihr leicht und plötzlich wie bei Kindern. Als sie glaubte, die ersten Bewegungen des Kindes in ihrem Leib zu spüren, blieb sie wach in der Nacht, um sie wahrzunehmen. Mit angehaltenem Atem saß sie im Bett, das lose Haar auf den halbnackten Schultern, ein sehnsüchtiges Lächeln auf ihrem Mund. Mit zarten, mütterlichen Worten rief sie Giuseppe, der neben ihr schlief, und wenn er die schlaftrunkenen Augen öffnete, fragte sie ihn:

»Bist du glücklich?«, und mit einem kurzen, heftigen Lachen drückte sie ihn an ihre Brust. Noch lange betrachtete sie ihn, nicht ein einziger Ausdruck seines Gesichtes sollte ihr entgehen, und sie strich mit ihren sorglichen Händen über seinen Körper, damit das Kind sich nach seinen Formen bilde. Oft blickten sie einander verloren an, drückten sich die Hände, ohne zu sprechen, und aus ihren Umarmungen brach eine fast andächtige Heftigkeit, als solle jedesmal das Kind einen neuen Lebensimpuls daraus empfangen.

Nun war die alte Mutter gänzlich beiseite geschoben. In der ersten Zeit blieb sie in ihrem Zimmer, in eine verächtliche Feindseligkeit eingeschlossen. Aber dann konnte sie nicht widerstehen und kam mit verstohlenen und flüchtigen Blicken wieder hervor, beinahe schüchtern. Giuseppe beachtete sie kaum; manchmal ließ er sich von ihr kämmen oder die Schuhe anziehen, doch er sah zerstreut und abwesend dabei aus. Und wenn er nur den Widerhall von Elenas Stimme oder ihre Schritte vernahm, horchte er angespannt, ganz jenem Geräusch hingegeben. Die Alte wurde einer Bettlerin ähnlich: Sie erflehte von ihrem Sohn das Almosen eines Blickes, eines Wortes, als Zeichen ihrer alten Gemeinschaft. Vergeblich ging sie geschäftig um ihn herum, wobei sie ihre Stiefelchen knirschen ließ. Vergeblich knüpfte sie sich das Kopftuch kokett um das Gesicht, während ihre Augen vor Haß funkelten. Giuseppe war immer sprungbereit wie ein Hase im Wald. Die Mutter aber wurde schließlich so leblos und starr wie seine hölzernen Statuen. Reglos saß sie auf einem niedrigen Schemel in einer der in diesem Hause so zahlreichen Nischen oder auch auf einer Treppenstufe, die Hände unter den Falten des Umschlagtuches ineinandergelegt; es schien, als wolle sie die beiden überwachen, all ihr Tun und ihr zärtliches und fiebriges Geflüster. Zuweilen fingen sie einen ihrer wilden Blicke auf, der im Zorn um Mitleid zu bitten schien wie der Blick tollwütiger Hunde; doch sie achteten nicht darauf. Die Alte fing an, unverständliche Tiraden vor sich hin zu brummen, Flüche oder flehentliche Bitten, auf welche die Eheleute dann und wann lauschten mit einer undeutlichen und abergläubischen Besorgnis und offensichtlichem Verdruß; aber im Grunde hielten sie sie doch nur für eine Irre. Wenn sie allein war, kauerte sie sich in einen Winkel ihres Zimmers, die weiten Falten des Kleides hüllten sie ein, und sie schluchzte, bis sie außer Atem und leer und schlaff war wie ein Sack. Wenn es aber einmal geschah, daß der Sohn zu ihr trat und ihr zulächelte oder ihr leicht über die Hand streichelte, dann wies sie sein Erbarmen mit einem finsteren Blick von sich und zog sich in ihren Winkel zurück.