Jürgen Klopp

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Erster Sieg beim FC Bayern seit zwanzig Jahren

Als ein weiterer Meilenstein zur Meisterschaft erwies sich die Partie am 24. Spieltag bei Bayern München im Februar 2011. Die Bayern waren nach dem 1:0-Auswärtssieg in der Champions League bei Titelverteidiger Inter Mailand mit frischem Selbstvertrauen gestärkt und suchten nun ihre letzte Chance, noch in den Titelkampf eingreifen zu können. Ihr Präsident Uli Hoeneß erwartete gegen Dortmund »einen ganz klaren Sieg mit zwei Toren Unterschied«, wie er in der Bild-Zeitung optimistisch ankündigte. Gesagt, getan – nur dass beim 3:1 die zwei Tore Unterschied zugunsten der Gäste ausfielen.

Klopp hatte sein Team exzellent eingestellt und die gefürchtete Münchener Flügelzange um die Superstars Franck Ribéry und Arjen Robben matt gesetzt: Auf der linken Dortmunder Außenbahn doppelten Marcel Schmelzer und Kevin Großkreutz gegen Robben, auf der anderen Seite fand Ribéry kein Mittel gegen Lukas Piszczek, der defensiv auch von Mario Götze unterstützt wurde. Entstanden dann einmal freie Räume im zentralen Mittelfeld, wurden diese von den beiden »Sechsern« Nuri Sahin und Sven Bender gestopft. Im Ergebnis gelang es den Bayern nicht, ihr Spiel wie gewünscht aufzuziehen – auch, weil der Aktionsradius des Münchener Organisators Bastian Schweinsteiger aufgrund des engmaschigen und weit vorne beginnenden Dortmunder Abwehrverhaltens eingeschränkt war. Bemerkenswert: Ausgerechnet bei diesem Triumph stand mit einem Durchschnittsalter von 22,3 Jahren die jüngste Dortmunder Startelf der Bundesliga-Geschichte auf dem Spielfeld.

Nach diesem Erfolg, zugleich der erste des BVB bei den Bayern seit 1991, bekannten sich Spieler und Verantwortliche erstmals öffentlich dazu, Meister werden zu wollen. Zuvor schien auf Nennung des »bösen M-Wortes« eine vereinsinterne Strafe ausgesprochen worden zu sein, so, wie sich jeder Borusse darum gewunden hatte. Doch angesichts von nun zwölf Punkten Vorsprung auf den Zweiten Bayer Leverkusen – und sogar deren sechzehn auf den Titelverteidiger aus München – wären jede andere Zielsetzung nicht mehr glaubhaft gewesen.

Und tatsächlich gab der BVB seine Spitzenposition bis zum Saisonende nicht mehr her. Mit einem Durchschnittsalter von 24,2 Jahren wurde der »Kindergarten« zur jüngsten Meistertruppe der Bundesliga aller Zeiten.

Jugend statt Routine

Nach der Beinahe-Insolvenz des BVB hatte die schwarz-gelbe Fangemeinde von der nächsten Meisterschaft nicht einmal mehr zu träumen gewagt – und die folgenden Jahre in sportlicher Mittelmäßigkeit, Tendenz fallend, schien sie zu bestätigen: 2004 Sechster, 2005 Siebter, 2006 wieder Siebter, 2007 Neunter und 2008 Dreizehnter – ehe dann Jürgen Klopp das Ruder übernahm und die Trendwende einleitete.

Der zuvor letzte Dortmunder Trainer, dem dieses Kunststück gelungen war, war 2002 Matthias Sammer. Seine damalige Meistermannschaft lässt sich mit der von 2011 allerdings kaum vergleichen: Ihr Gerüst bestand in erster Line aus erfahrenen und oft kostspielig erworbenen Akteuren wie Jens Lehmann, Jürgen Kohler, Stefan Reuter, Christian Wörns, Dede, Miroslav Stevic, Jan Koller, Marcio Amoroso, Ewerthon oder Tomáš Rosický. Eigengewächse oder Nachwuchskräfte wie Lars Ricken und Christoph Metzelder waren eher die Ausnahme, ganz im Gegensatz zu 2011.

Der BVB machte aus der Not eine Jugend und setzte auf unverbrauchte, hungrige Spieler. Auf dem Feld agierte keine abgeklärt-reife Startruppe mehr, sondern »junge Wilde« wie der gebürtige Dortmunder Kevin Großkreutz, der das »Wir-sind-alles-Dortmunder-Jungs-Gefühl« vorlebte wie kein Zweiter. Ihm zur Seite standen ebenso hungrige Jungprofis wie Marcel Schmelzer, Mats Hummels, Mario Götze, Nuri Sahin oder Sven Bender. Das unbekümmerte, frische Auftreten dieser sportlichen Draufgänger machte es leicht, sich mit diesem Team verbunden zu fühlen.

Den BVB-Fans drängte sich der angenehme Eindruck auf: Hier wird Fußball ehrlich gelebt, die Nähe zu Region, Fans und Verein ist keine Worthülse, sondern wird mit Leben gefüllt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum dem Team von 2011 die Sympathien derart zuflogen. Ein Team, dessen Leistung ihr Torhüter Roman Weidenfeller treffend zusammenfasste – wenn auch nicht in reinstem Oxford-Englisch: »I think we have a grandios Saison gespielt!«, gab er beim spontanen Interview mit einem arabischen TV-Sender zu Protokoll. Ein Bonmot, das zum geflügelten Wort der folgenden Festivitäten wurde.

Festivitäten, die über zwei Wochen gingen und nach dem Sieg über Nürnberg ihren Anfang nahmen. »Wir hatten das Glück, schon vorzeitig Meister zu werden und so haben wir bei wunderschönem Wetter direkt eine große Party gestartet, sehr spontan, sehr ursprünglich. Das hat einen Riesenspaß gemacht«, erinnert sich Klopp gerne zurück.

Wie sehr Jürgen Klopp die Intensität berührte, mit der Dortmund seine Meisterhelden feierte, machte er im Mai 2011 in einem Interview deutlich:22

»Ich habe an diesem Wochenende, im Stadion, auf der Feier abends, am Sonntag beim Umzug durch die Stadt an mehreren Punkten gedacht: So was Schönes werde ich nicht mehr erleben! Das war jetzt der Höhepunkt! Und dann kamst du um die nächste Straßenecke, und es hat dich wieder überwältigt (...) Man hat zum ersten Mal wirklich verstanden, wie groß dieser Verein ist. Borussia Dortmund, das ist eine unglaublich große Energie (...) Wir haben fast alle mal Tränen in den Augen gehabt, manche haben richtiggehend geheult vor Freude. So etwas willst du wieder erleben. Dir wird an so einem Tag klar: In Dortmund ist Fußball nicht diese schönste Nebensache der Welt. Es ist eine Hauptsache (...) Die Leute hier, das habe ich spätestens am Sonntag verstanden, sind in weniger fantastischen Phasen mit dem gleichen Gefühl für den BVB da wie jetzt. Dieser Zusammenhalt verkürzt die schlechten Phasen.«

Als 23. Meistertrainer seit Gründung der Bundesliga verspürte Klopp weniger persönlichen Stolz über das Erreichte, sondern eine tiefe Freude darüber, den Menschen in der Region einen auf Dauer unerreichbar erscheinenden Traum erfüllt zu haben. Viel wichtiger war es, dass die Existenz des Vereins gesichert werden konnte, dass er überlebte. Der Titelgewinn als Geschenk und Dank für den immensen Kredit, den der BVB unter seinen treuen Fans noch besessen hatte, als die Banken ihn zu verweigern drohten.

Trainer des Jahres

Als Lohn für seine Leistung – und stellvertretend auch die seiner Mannschaft – wurde Klopp im Juli 2011 von den deutschen Sportjournalisten zum »Trainer des Jahres« und somit zum Nachfolger des früheren Bayern-Trainers Louis van Gaal gewählt. Dabei fiel sein Vorsprung bei der Wahl gewaltig aus: Mit 743 von 972 Stimmen vereinnahmte Klopp schlappe 76 Prozent der Stimmen auf sich, die nächstplatzierten Trainerkollegen Mirko Slomka (Hannover 96) und Lucien Favre (Borussia Mönchengladbach) kamen auf 52 beziehungsweise 38 Stimmen. Wie der BVB die Meisterschaft, so verteidigte 2012 auch Klopp seine persönliche Auszeichnung als Trainer des Jahres: Mit 496 Stimmen verwies er Favre (138) und Christian Streich (101 / SC Freiburg) deutlich auf die Plätze zwei und drei.

Der Ausgezeichnete selbst sah seine erste Meisterschaft bereits kurze Zeit später ganz pragmatisch und nüchtern: »Schon im Urlaub war sie Vergangenheit. Das ist schwer zu erklären. Es klingt jetzt so, als wäre es eine Formalität, das ist es gar nicht. Es ist ein wunderschönes Gefühl, aber das breitet man nicht aus.« Schon unmittelbar nachdem der Titel feststand, hatte Klopp betont, dass er eher Erleichterung denn überbordende Euphorie verspürte – die dann allerdings umso stärker bei der Meisterfeier aus ihm herausbrach.

Diese Einschätzung gut nachvollziehen kann Matthias Sammer, der Klopp beim Internationalen Trainerkongress 2011 in Bochum aus eigener Meister-Erfahrung ansprach: »Jürgen, als ihr Deutscher Meister wurdet, hast du gesagt: ›Ich habe gedacht, das fühlt sich ein bisschen anders an.‹ Aber ich kann dir sagen: Das wirst du immer in dir tragen. In dem Moment war es für dich einfach nur Erleichterung – und die spüren die Großen.«

»Eine vollkommene Szene«

Die Saison 2010/11 bot für den BVB viele Höhepunkte. Für Jürgen Klopp ist dabei auch eine Szene in bester Erinnerung, wie sie in dieser Form wohl nur einem Trainer auffällt, der akribisch an der Raumaufteilung seiner Mannschaft feilt. Dieses Idealbild kam am sechsten Spieltag zustande, in der Entstehung des Treffers durch Shinji Kagawa zum 2:1 beim FC St. Pauli (Endstand 3:1). Klopp gerät förmlich ins Schwärmen, denkt er daran zurück23:

»Die Strafraumbesetzung geht nicht besser als in dieser Szene. Wir wollen bei einem geordneten Angriff immer mindestens mit drei, besser vier Spielern im gegnerischen Strafraum sein, mindestens zwei weitere rund um den Strafraum. Götze geht mit dem Ball bis zur Torauslinie, passt von der rechten Seite zurück, Richtung Elfmeterpunkt, wo Großkreutz steht. Kevin könnte schießen, schießt aber nicht, sondern täuscht nur an, weiß aber, ohne zu gucken, dass Kagawa hinter ihm ganz frei stehen muss, weil das unser Spielzug so vorgibt. Kevin lässt also für Shinji durch, der den Ball flach in die Torecke schießt. Wäre der Ball an den Pfosten gegangen, dann steht dort verabredungsgemäß auch noch Bender, der den Abpraller hätte reinschieben können. Eine vollkommene Szene. Ich habe das Bild abgespielt und war glücklich.«

Klopp wertet Spiele umfangreich aus und gönnt sich dabei auch mal bis zu 30 DVDs pro Woche, um der Mannschaft positive wie negative Szenen vorzuführen – und zwar aufgesplittet nach Mannschaftsteilen, die so gezielt angesprochen werden. Ein Trainer, der seinen Spielern für den Urlaub ein Trainingsprogramm mitgibt und sich per SMS über das Gelingen informieren lässt. Ein Perfektionist.

 

Die Erleichterung, ein bevorstehendes Ziel nicht aus den Augen verloren und es letztlich erreicht zu haben. Denn ein zweiter Platz hätte ein Jahr zuvor noch als großer Erfolg gegolten, nicht aber nach diesem Saisonverlauf, in dem der BVB alles in Grund und Boden spielte.

»Wir sind guter Fußball« steht in großen Lettern an der Tunneleinfahrt der B1 in Dortmund-Mitte geschrieben. Klopps BVB füllte diesen Anspruch mit Leben.

So stürmte die Borussia zum Titel: Die Taktik des BVB in der Saison 2010/11

Die Spiele von Borussia Dortmund erstaunten im Meisterjahr die Massen. Dank seiner begeisternden Auftritte gewann der BVB viele Sympathisanten hinzu, innerhalb Deutschlands und noch weit darüber hinaus. Doch wie genau lief das Dortmunder Spiel ab? Mit welcher taktischen Ausrichtung legte Klopp den Grundstein für die grandiosen Vorstellungen seiner Elf? Eine Analyse.

Dortmund spielte 2010/11 im 4-2-3-1-System, in dem Nuri Sahin und Sven Bender als »Doppel-Sechs«24 im defensiven Mittelfeld agierten. Während sich Bender fast vollständig auf seine Aufgabe als zweikampfstarker »Staubsauger« vor der Abwehr konzentrierte, schaltete sich Sahin als Bereichsleiter in puncto Taktvorgabe und Organisation immer wieder mit ins Offensivspiel ein. Daher ist Bender in der Grafik weiter unten etwas zurückgezogen postiert. Um das Spiel vor sich zu haben, rückte auch Sahin immer mal wieder weiter zurück, um sich die Bälle direkt von den Abwehrspielern zu holen und einen neuen Angriff einzuleiten. So gehörte er häufig zu den Spielern mit den meisten Ballkontakten seiner Elf.

Für den kreativen Part in der Offensive zeichneten vor allem die »Zauberfüßchen« Mario Götze und Shinji Kagawa verantwortlich, die nicht nur selbst Torgefahr verkörperten, sondern auch Stoßstürmer Lucas Barrios in Szene setzten. Kevin Großkreutz bereicherte das offensive Dreier-Mittelfeld mit enormem Einsatz und Läufen bis zur Grundlinie. Mit spielerischer Dominanz, also schnellem Kurzpassspiel, ohne lange den Ball zu halten, zog das Mittelfeld die gegnerische Abwehr auseinander, bis sich dort Löcher auftaten. Flexible Spielverlagerungen von einer Seite zur anderen sorgten für zusätzliche Unordnung.

Großkreutz und Götze verschoben sich bei gegnerischem Ballbesitz weit nach vorne, um durch dieses Pressing auf den Außenbahnen eine Spielverlagerung ins dicht gestaffelte Mittelfeld zu provozieren – wo Sven Bender & Co. oft die Bälle eroberten. Dabei handelte die gesamte Elf gemeinschaftlich und schob sich weit nach vorne in die gegnerische Hälfte, um früh zu attackieren – eine effektive, aber auch kraftraubende Spielweise. Dieses konsequente und frühe Arbeiten gegen den Ball war einer der Schlüsselfaktoren für den Dortmunder Siegeszug durch die Liga.

Barrios interpretierte seine Rolle nicht als passiver Stürmer, der auf Vorlagen wartet, sondern ließ den Ball häufig auf die nachrückenden Mittelfeldspieler prallen, um sie mit in die Angriffe einzubinden. Im Strafraum angekommen, erhielt Barrios den Ball dann zurück, um seine hervorragenden Vollstreckerqualitäten in Torerfolge umzumünzen. Sein Vorteil: ob per Kopf oder per Fuß, der gebürtige Argentinier, der für Paraguay stürmte, konnte unterschiedlich angespielt werden, ohne an Torgefahr einzubüßen. Damit Barrios als einzige nominelle Spitze nicht allein auf weiter Flur agierte, war er auf das regelmäßige Aufrücken der offensiven Mittelfeldspieler angewiesen – was auch erfolgte.

Borussias Außenverteidiger Marcel Schmelzer und Lukas Piszczek rückten immer wieder gezielt und weit vor, um Überzahl im Mittelfeld zu schaffen und über ihre Flanken nach innen für zusätzliche Torgefahr zu sorgen. In diesen Fällen wichen Großkreutz oder Götze in die Mitte aus, um ihnen freien Raum zu geben. Bei Ballbesitz des Gegners verschoben sich Schmelzer und Piszczek auf eine Linie mit den Innenverteidigern Mats Hummels und Neven Subotic. Als technisch starke Abwehrspieler leiteten diese beiden bei Balleroberung als erste Akteure den eigenen Angriff ein. Insbesondere Hummels setzte dabei auch auf längere Bälle in die Spitze, um somit schnell das Mittelfeld zu überbrücken und die Unorganisiertheit des Gegners im Moment des Ballverlustes auszunutzen. Von den Innenverteidigern gehen in der Grafik keine Pfeile aus, da sie sich positionstreu verhielten.


Dortmunds taktische Aufstellung in der Saison 2010/11 (Die Grafik wurde erstellt von Thomas Bauer, Geschäftsführer der österreichischen Werbeagentur Designers in Motion, 2019 umbenannt in hiroki digital, deren Leistungsspektrum Kreation, Media, Web und Mobile beinhaltet. Seit seiner Firmengründung 2006 wurde das Team mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.)

Nur bei eigenen Ecken oder Freistößen rückten Hummels und Subotic vor, um ihre Kopfballstärke auch offensiv zur Geltung zu bringen. In diesem Fall wurden sie von den Außenverteidigern und vom defensiven Mittelfeld abgesichert. Hinter der Abwehr stand mit Roman Weidenfeller ein mitspielender Torwart, der nicht nur stur auf seiner Torlinie »klebte«.

Der BVB präsentierte sich als eine derart kompakte Einheit, da alle Spieler sowohl Defensiv- als auch Offensivaufgaben übernahmen. Eine strikte Aufgabentrennung existierte nicht. Durch paralleles Verschieben in Ballrichtung blieben die Abstände zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen gering, die Räume auf dem Spielfeld ausgewogen besetzt. Dank dieses Spielverständnisses kassierte Dortmund in 34 Spielen lediglich 22 Gegentore und spielte 14 Mal »zu null« – auch dank der guten Reflexe Weidenfellers auf der Linie.

Um Spielern eine Erholungspause zu gönnen, setzte Klopp hin und wieder auf eine Variation seiner Startelf. Doch Verletzungen wie von Kagawa oder Sahin ließen eine größere Rotation nicht zu, sodass die erste Elf nur selten freiwillig verändert wurde. Während Dribbelkönig Kagawa aufgrund eines bei der Asienmeisterschaft erlittenen Mittelfußbruches fast die gesamte Rückrunde ausfiel, verpasste Sahin wegen eines Innenbandteilrisses im rechten Knie den Saisonendspurt.

Für den in der Vorrunde so großartig aufspielenden Neuzugang Kagawa rückte Götze nach innen, dafür übernahm Blaszczykowski dessen vakanten Posten auf rechts. Alternativ rückte Robert Lewandowski auf die »10« ins zentral-offensive Mittelfeld und Götze blieb dann auf halbrechter Position – so wie beim 3:1-Erfolg in München. »Edeljoker« Lewandowski war immer dann erste Wahl, wenn Barrios ausfiel – und traf nach seinen Einwechslungen in der Liga vier Mal ins Tor.

Im defensiven Mittelfeld stand Antonio da Silva als erster Stellvertreter für Bender oder Sahin bereit. Kapitän Sebastian Kehl, ebenfalls auf der »Sechs« zuhause, verpasste verletzungsbedingt den überwiegenden Teil der Saison. In der Innenverteidigung bewies Felipe Santana bei seinen Einsätzen, ein gleichwertiger Stellvertreter für die gesetzten Hummels und Subotic zu sein. Ersatzkeeper Mitchell Langerak kam nur in einem Spiel zum Einsatz – das ausgerechnet beim furiosen Sieg in München, bei dem er fehlerlos agierte.

In der Saison 2011/12 blieb die Spielphilosophie des BVB im Wesentlichen bestehen, dafür erfolgten in der Stammelf zwei personelle Wechsel: Für den zu Real Madrid gewechselten Sahin ackerten entweder der wieder fitte Kehl oder Neuzugang Ilkay Gündogan an der Seite von Bender. Im Sturmzentrum verdrängte Lewandowski den zuvor gesetzten Barrios.

Meistersaison, die zweite – doch zunächst stockt’s

Der Beginn der neuen Spielzeit 2011/12 schien zunächst alle Skeptiker zu bestätigen, die es gleich gewusst hatten: Die Meisterschaft der Borussia war eine Eintagsfliege, die Titelverteidigung reine Utopie. Ohnehin war sie von den unverändert zurückhaltenden Klubverantwortlichen nicht als Ziel ausgegeben worden, das bewährte Understatement wurde weiterhin gepflegt. »Qualifikation für den internationalen Wettbewerb«, so lautete das ausgegebene Saisonziel.

Bereits während der Sommerpause 2011 hatte Klopp gemutmaßt, dass die bevorstehende Spielzeit eine schwierige für sein Team werden würde: »Wir werden viele Probleme bekommen in dieser Saison, das ist doch ganz normal. Wenn wir mal wieder ein Spiel verlieren, dann werden wir sehen, was es auslöst.« Ganz wichtig für Klopp war, die außergewöhnliche Meistersaison nicht ständig als Maßstab heranzuziehen – vor allem, um den Druck von seiner Mannschaft zu nehmen: »Wir dürfen nicht vergleichen. Wir dürfen nicht dieses Jahr gegen Hamburg spielen und denken: ›Letztes Jahr haben wir sie weggeräumt.‹ Wir müssen weiter in jedes Spiel eintauchen, uns komplett auf die Aufgabe einlassen. Dann haben wir eine relativ gute Chance, auch in dieser Saison ziemlich stark zu sein.«

Schneller als es Klopp lieb sein konnte, sollte der BVB tatsächlich mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Wurde der Meister nach dem glanzvoll herausgespielten 3:1-Auftaktsieg über den Hamburger SV noch medial abgefeiert, folgte bereits eine Woche später beim 0:1 bei 1899 Hoffenheim die – dort fast schon traditionelle – Ernüchterung. Nach weiteren Niederlagen zuhause gegen Aufsteiger Hertha BSC Berlin und bei Hannover 96 (jeweils 1:2) fand sich Dortmund nach dem sechsten Spieltag und bereits drei Niederlagen lediglich auf Rang elf wieder. Zum Vergleich: Drei Niederlagen hatte der BVB während der gesamten Hinrunde des Vorjahres nicht kassiert. Magere sieben Punkte nach sechs Partien – so schlecht war seit 27 Jahren kein Meister mehr in die nächste Saison gestartet.

Bei der Pressekonferenz nach dem Spiel gegen Hertha zeigte sich Klopp noch recht entspannt: »Das war ein Ausschlag nach unten, den man auch mal erleben muss und durch den man wieder merkt, wie geil es ist, ein Spiel zu gewinnen.« Bitter war jedoch die Niederlage in Hannover, die nach eigener 1:0-Führung durch zwei Gegentore in den letzten fünf Minuten zustande gekommen war. »Wir haben das Spiel aus der Hand gegeben. Das war ein aktiver Vorgang, der zu Passivität führte«, formulierte Klopp anschließend etwas paradox. Im Gefühl des sicheren Sieges hatte der BVB in der Schlussphase zu wenig Initiative gezeigt und damit Hannover gestärkt.

Auf die Palme brachte Klopp, dass die Borussia vier der ersten sechs Saisongegentore nach Standardsituationen kassierte: »Das geht gar nicht. Damit sich bei den Spielern nicht der Eindruck festsetzt, die Niederlage in Hannover wäre zufällig passiert«, werde er nun »deutliche Worte« sprechen. Vielmehr habe die Gier gefehlt.

Offensichtlich lastete die Bürde des Titelverteidigers schwer auf den jungen BVB-Schultern. Jeder Gegner ging mit noch ein paar Prozentpunkten mehr Motivation ins Duell mit der Borussia, schließlich galt es, den Meister herauszufordern. Klopp sprach später von einem »Rucksack« für sein Team, an den es sich zunächst gewöhnen musste.

Der BVB werde nun »anders wahrgenommen«. Dortmund war nicht länger der Herausforderer, auch wenn der Klub sich weiterhin gerne als solcher darstellte, sondern der Titelverteidiger. Klubchef Hans-Joachim Watzke betonte immer wieder, die Borussia sei »kein normaler Titelverteidiger« – ebenfalls in dem Bemühen, die Mannschaft zu entlasten.

Dass nach einem großen Erfolg das letzte Fünkchen Konzentration und Entschlossenheit zumindest zeitweilig nachlässt, ist menschlich. Gepaart mit Gegnern, die sich Woche für Woche wild entschlossen zeigten, wurde dies jedoch zu einer ungünstigen Kombination, auf die der BVB erst eine Antwort finden musste.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?