Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen

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Aus der Reihe: Kullmann-Reihe #8
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Kapitel 12

Die Sonne tauchte die Welt in strahlendes Licht. Das Laub an den Bäumen hatte alle Farben des Herbstes angenommen. Es wirkte wie die bunt betupfte Farbpalette eines Malers. Schon von weitem erblickten sie den Kirchturm. Majestätisch prangte er über Ormesheim.

Sie steuerten Ingo Landrys Haus an, das direkt am Ortseingang dicht an der Adenauerstraße stand. Das Auto stellten sie davor ab, stiegen aus und traten auf die Haustür zu. Sie war verwittert. In einen großen Rundbogen eingebaut hatte sie die Originalform eines Scheuneneingangs. Anton Grewe zog den Schlüssel aus seiner Tasche und steckte ihn in das Schloss.

Er passte. Problemlos ließ er sich umdrehen.

»Was tun wir jetzt? Gehen wir hinein?«

»Klar! Jürgen will Ergebnisse. Die bekommen wir nicht, wenn wir hier herumstehen«, antwortete Anke und betrat die leere Doppelgarage.

Die Seitentür, die zum Wohnhaus führte, war nicht verschlossen. Doch, was sie dort zu sehen bekamen, zerschmetterte ihre Neugier im Nu. Kreuz und quer standen die Möbel und bildeten ein Chaos, das ein Durchkommen beschwerlich machte.

Mit Mühe und Not kraxelten die Beamten durch jedes Zimmer. Im Obergeschoss sah es genauso aus. Sämtliche Schränke waren geöffnet, die Schubladen herausgerissen. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden und ließ auf den ersten Blick erkennen, dass es sich um übliche Haushaltsgegenstände handelte.

Frustriert rief Anke bei Jürgen Schnur auf der Dienststelle an. Sie berichtete ihm, was sie vorgefunden hatten.

»Das ist das Werk der Hausdurchsuchung vor fünf Jahren«, sagte Schnur. »Also hat sich keiner die Mühe gemacht, in der Zwischenzeit dort aufzuräumen.«

»Sieht so aus. Ob wir in dem Chaos etwas finden, was die Kollegen vor uns noch nicht gefunden haben?« Anke zweifelte.

»Vermutlich nicht. Ich sehe keinen Grund, dass ihr noch mal alles auf den Kopf stellt.«

Erleichtert stiegen sie wieder in den Dienstwagen ein. Erik steuerte zielstrebig den Stall an. Anton Grewe, der auf dem Beifahrersitz saß, warf dem Fahrer einen staunenden Blick zu. Als er Eriks harten Gesichtsausdruck bemerkte, beschloss er, nichts zu sagen.

Auf der Bergkuppe tauchten Pferde auf riesigen Koppeln auf. Dahinter stand ein großer Reitstall. Nun verstand Grewe. Sie parkten dicht an den Stallungen, in denen Rondo untergebracht war und stiegen aus. Grewe folgte Erik und Anke in das große Gemäuer. Doch als er das erste Pferd sah, das durch die Stallgasse auf ihn zugeführt wurde, riss er vor Schreck die Augen weit auf, drehte sich um und flüchtete in den Dienstwagen. Dort wartete er, bis die Kollegen ihren Verbandswechsel an Rondos Bein beendet hatten.

»Soll das so weitergehen?«, fragte Grewe missgestimmt.

»Was?«

»Eure Eigenmächtigkeiten. Es mag ja köstlich sein, sich über meine Angst vor Pferden zu amüsieren. Aber eigentlich sind wir dienstlich unterwegs. Oder habe ich irgendetwas falsch verstanden?«

»Nein! Du siehst das richtig«, antwortete Anke. »Wir fahren jetzt ins Dorf. Dort werden wir die Leute zu Ingo Landry befragen.«

Die Antwort versöhnte Grewe. Erleichtert lehnte er sich auf dem Beifahrersitz zurück.

Erik steuerte den Wagen den Berg hinunter, bog rechts ab in die Kapellenstraße. Eine Weile sahen sie nur Wiesen und Felder, bis sie am Ortseingang die Strudel-Peter-Kapelle passierten.

Der weitere Verlauf der Straße führte steil bergab. Am Ortseingang teilte sie sich. Inmitten dieser Straßengabelung stand ein auffälliges, gelbes Haus, dessen Bauweise den beiden abzweigenden Straßen angepasst worden war. Schmal und hoch ragte es in die Luft. Der rückwärtige Teil war durch einen unförmigen Anbau verbreitert worden.

Im Schritttempo ließ Erik den Wagen an der Kirche vorbei hinunter ins Dorf rollen. Dort gelangten sie auf einen Parkplatz, der von mehreren Geschäften, einer Apotheke und der Kreissparkasse flankiert wurde.

Die drei Beamten stiegen aus und schauten sich um.

»Die Apotheke ist bestimmt der richtige Ort, um etwas über Ingo Landry zu erfahren«, schlug Anke vor.

Zügig überquerten sie die Straße. Die Apothekerin stand hinter der Theke voller Medikamente und schaute die drei Beamten erwartungsvoll an. Grewe zückte seinen Dienstausweis und stellte seine erste Frage: »Kennen Sie Ingo Landry?«

»Natürlich«, antwortete die Frau. »Wer kannte ihn nicht? Er wohnte hier unten in der Adenauerstraße. Lange Zeit war er verschwunden. Ist er denn zurückgekommen?«

»Das kann man so sagen.« Grewe wich aus. Er staunte über die Frage, weil die Zeitung ausführlich über den Leichenfund berichtet hatte.

»Das ist schön«, schwärmte die Apothekerin. »Er war immer nett und half jedem, wo er nur konnte.«

»Können Sie über ihn sagen, dass er Feinde hier im Dorf hatte?«

»Nein! Ingo doch nicht!«

»Dann war es für Sie bestimmt eine Überraschung, als er so plötzlich verschwand?«

»Eigentlich nicht. Als er das Buch geschrieben hatte, wurde ihm Ormesheim wohl zu klein. Wer weiß, wohin ihn der Ruhm brachte?«

»Mit wem lebte er zusammen?«

»Ingo lebte allein. Zumindest hier im Dorf. Freundinnen hatte er zwar immer – Frauen waren ganz verrückt nach ihm.« Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Aber für eine einzige konnte er sich nie entscheiden.«

»Gibt es jemanden im Dorf, mit dem er fest befreundet war, zu dem er engeren Kontakt hatte?«

»Ja! Ingo hat einen Freund vom Kindesalter an. Die beiden waren unzertrennlich – bis Ingo fortging. Er heißt Matthias Hobelt und wohnt in der Kapellenstraße 49.«

*

Mit dieser Information steuerten sie ihren Dienstwagen an. Lange muss­ten sie nicht suchen, denn durch die Kapellenstraße waren sie ins Dorf gekommen. Also fuhren sie den gleichen Weg zurück und stießen auf das Haus, in dem Ingo Landrys Freund wohnte. Es war das gelbe Haus inmitten der Gabelung. Den unförmigen Anbau im rückwärtigen Teil erkannten sie erst bei genauem Hinsehen als Garage. Das Garagentor war nur angelehnt.

Anstatt auf die Haustür zuzugehen, steuerte Erik das Tor an und öffnete es. Dort herrschte ein Chaos an verbogenen Metallteilen, alten Küchengeräten, ausrangierten Badewannen. Ein alter, rostiger Simca mit einem Nummernschild aus Zweibrücken setzte dem Schrott die Krone auf. Inmitten des Chaos stand ein kleiner, untersetzter Mann in schmutzigen Kleidern und schaute mit großen Augen auf die Eindringlinge.

»Wer sind Sie?«, fragte er unfreundlich.

Erik stellte sich und seine Kollegen vor.

»Polizei?«, staunte der kleine Mann.

Mühsam kroch er zwischen den Metallteilen hervor und ließ sich die Dienstausweise der drei Beamten zeigen.

»Und mit wem haben wir das Vergnügen?«, fragte Erik.

»Ich bin Matthias Hobelt.« Um Erik anschauen zu können, musste er sich anstrengen, dass er keine Genickstarre bekam.

»Sie leben hier in der Kapellenstraße?«

»Ja.«

»Wo arbeiten Sie?«

»Ich bin zurzeit arbeitslos.« Plötzlich änderte er seine Haltung. Er begann nervös zu trippeln. »Ich bin ehrenamtlich im Kulturverein Bliesmengen-Bolchen tätig. Bringt mir zwar nichts ein, gibt mir aber das gute Gefühl, für irgendetwas nützlich zu sein.«

»Was macht man bei einem Kulturverein?«

»Der Verein fördert die Naturbühne in Gräfinthal«, erklärte Hobelt, »das ist ein Nachbarort. Wenn Sie am Stall Hunackerhof vorbeifahren, stoßen Sie gleich darauf. Dort werden Veranstaltungen durchgeführt, Theaterstücke, vor allem Bühnenstücke für Kinder und Jugendliche. Die ehrenamtlichen Helfer sorgen für den reibungslosen Ablauf der Veranstaltungen. Zwischen den Saisonzeiten pflegen wir die Anlage.«

»Schön! Das haben wir also geklärt.« Erik nickte. »Deshalb sind wir aber nicht hier. Sie haben bestimmt schon erfahren, dass wir im Koppelwald einen Toten gefunden haben.« Hobelt wirkte plötzlich eingeschüchtert. Er nickte.

»Wir vermuten, dass es sich dabei um Ingo Landry handelt.«

Matthias Hobelt rieb sich durch seine fettigen Haare und antwortete: »Ich hatte die ganze Zeit gehofft, der Tote hinge mit dem Biosphärenprojekt zusammen. Deswegen kochen schon lange die Gemüter in unserem Dorf hoch.«

»Wenn der Tote mit dem Biosphärenprojekt in Verbindung stünde, würden wir Sie nicht aufsuchen müssen«, stellte Grewe klar. »Was bringt Sie auf diesen Gedanken?«

»Vielleicht wollte ich nicht wahrhaben, dass mein Freund tot ist. Ich habe immer gehofft, dass er lebt und sich irgendwo versteckt. Aber nun zu erfahren, dass er all die Jahre dort im Wald verscharrt war – wie ein Tier – das erschüttert mich«, jammerte Matthias Hobelt, als hätte Grewe nichts zu ihm gesagt.

»Warum sollte sich Ingo Landry einfach aus dem Staub machen?«

»Ganz einfach: Als das Buch auf den Markt kam, wurde es ein echter Renner. Ingo verdiente richtig gutes Geld damit.«

»Das erklärt nicht, warum Sie annahmen, er würde irgendwo unerkannt leben.«

Beunruhigt schaute Hobelt die Beamten an. »Das war einfach nur so ein Gefühl.«

»Wenn Sie uns anlügen wollen, strengen Sie sich bitte etwas mehr an. So einen Unsinn glauben wir Ihnen nämlich nicht«, machte Erik deutlich.

Hobelt begann in der kleinen Garage auf und ab zu gehen. Die Polizeibeamten schauten ihm dabei wortlos zu. Abrupt stoppte er, schüttelte den Kopf und schaute seine Besucher an.

»Also gut«, begann er. »Das Haus, in dem ich lebe, gehört Ingo Landry. Ich habe darauf gewartet, dass ich ausziehen muss, weil irgendein Erbe es verkaufen will. Aber nichts dergleichen ist geschehen. Deshalb nahm ich an, dass er noch lebt.«

 

»Das werden wir überprüfen.«

»Aber das ist noch nicht alles«, sprach Grewe und warf einen prüfenden Blick auf Hobelt.

Wieder herrschte eine Weile Schweigen, bis er ansetzte: »Ich …« doch weiter sprach er nicht.

»Ich und was noch?«, drängte Grewe.

Misstrauisch schaute Hobelt den Beamten an, schüttelte den Kopf und verkroch sich wieder in sein Schweigen.

»Ich glaube, wir müssen den netten Herrn vorladen«, meinte Erik ungeduldig. »Dann werden wir uns auch mit dem ganzen Schrott befassen, der hier liegt. Wer weiß, welche illegalen Geschäfte unser Verdächtiger neben seinem ehrwürdigen Amt macht?«

»Ich weiß es doch nicht«, platzte es aus Hobelt heraus. »Ich kann doch nur vermuten.«

»Und was vermuten Sie?«

Wieder zögerte Hobelt eine Weile.

»Ingo ließ sich dazu hinreißen, auf großem Fuß zu leben. Als der Gewinn stagnierte, saß er auf einem Berg Schulden.«

»Und was hat das mit seinem Verschwinden zu tun?«

»Ich vermutete die ganze Zeit, er hätte sein Verschwinden selbst arrangiert, um den Verkauf seines Buches noch einmal neu zu beleben.«

Teil VI
Sommer 2001

Krimiautor auf Erfolgskurs

Ingo Landrys Schreibstil ist von einer klassischen Einfachheit – die Taten, die Hintergründe, die Motive und das Regionalkolorit gekonnt für Kulisse, Staffage und Effekt eingesetzt. Dabei gilt die Landschaft nur als Hintergrund, zwar allegorisch vollgepackt, aber dennoch zweitrangig gegenüber der kriminellen Handlung, deren gesamtes Geflecht so in Szene gesetzt wird, dass sie den Leser nicht nur fesselt, sondern sogar in die Versuchung bringen, sich selbst als aufklärendes Mitglied der Gruppe von fiktiven Ermittlern zu empfinden.

Ständig begleitet den Leser bei diesem Buch etwas Bedrohliches. Sind es die Zwischentöne, die den Leser aufhorchen lassen, sind es die Grausamkeiten, die er mit einer Abstraktion beschreibt, dass der Fantasie des Lesers keine Grenzen gesetzt werden oder sind es die Details, die er verbal so geschickt einbaut, die es mehr zu erahnen als zu erkennen gilt, womit er im Leser dunkle und beunruhigende Gefühle hervorruft?

›Emanzipation des Mannes‹ ist nicht nur ein Buch, sondern eine Neuentdeckung des Genres Regionalkrimi. Ingo Landry besticht mit seinem Stil, mit dem er den Leser in die Rolle des beunruhigten Betrachters führt. Er erreicht damit, dass er dem Leser den sicheren Glauben vermittelt, der Autor habe die Leiden und die Ekstasen seines Themas selbst durchlebt, was die Authentizität des Buches verstärkt.

Sollte es eine Fortsetzung dieser neuen Linie des Genres von Ingo Landry geben, werden wir nicht umhin können, ihn in die Namensliste der größten Künstler einzuordnen – angefangen bei Sir Arthur Conan Doyle.

*

Sibylle raufte sich ihre kurzen, knallrot gefärbten Haare, bis sie in alle Windrichtungen abstanden. Ein dicker Kajalstrich unter den Augen zog sich in langen Streifen quer über ihr Gesicht, das eine purpurrote Farbe angenommen hatte.

»Du bist nicht die Einzige, die Krimis schreibt; das muss dir doch klar sein«, tröstete Antonia.

Wütend schaute Sibylle in ein blasses, rundliches Gesicht, eingerahmt von braunen Locken, die Antonia bis zu den Ohrläppchen reichten, wodurch die großen goldenen Ohrringe betont wurden. Ihre großen, rehbraunen Augen besänftigten Sibylles Zorn.

»Warum bist du immer so schrecklich vernünftig?«, frage Sibylle. Sie fühlte sich unverstanden.

»Weil das nur gut für uns sein kann. Wenn ich genauso schnell wie du an die Decke gehe, stürzt das Dach ein.«

»Aber verstehst du denn nicht, was hier passiert?«, prustete Sibylle los. Dabei zeigte sie auf den Zeitungsartikel. »Siehst du denn nicht, warum ich so entmutigt bin?«

»Doch! Trotzdem verstehe ich deine Reaktion nicht.«

»Dann lese ich dir mal den Zeitungsartikel vor, der über mich und mein Buch geschrieben worden ist.«

Wütend und mit lauter Stimme begann Sibylle vorzulesen, als säße eine Schwerhörige vor ihr:

*

Das Buch ›Frauen an die Macht‹ erreicht ein Niveau von einer Subjektivität, für die es keinen Platz in einem Roman geben darf – sei es ein Liebesroman oder ein Kriminalroman. Das Einzige, woraus die Autorin einen Vorteil ziehen kann, ist ihr weibliches Geschlecht. Denn wären diese Zeilen von einem Mann geschrieben worden, würde er sich dem Verdacht des Sexismus und der Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen aussetzen. Im Fall von Sibylle Kriebig ist dieses Buch nur als Aufschrei unterdrückter Frauen zu verstehen, die mehr aus sich selbst schöpfen als aus ihrer Fantasie, die in diesem Falle wohl in sehr geringem Maße vorhanden zu sein schien.

Anstatt aus der Kunst des Schreibens in diesem Jahrhundert zu lernen, scheint die Autorin fest entschlossen zu sein, ihr den Rücken zuzukehren und zwar mit einem solchen Maß an Erfolg, dass ihr die Weiterentwicklung der deutschen Sprache und der Themen, die für einen Krimi interessant sind, völlig entgangen sind.

Vielleicht erlangt Sibylle Kriebig einen größeren Erfolg bei dem Versuch, Kinderbücher zu schreiben. Da können ihre Talente und ihre Neigungen, allem etwas Negatives abzugewinnen, was mit Männern zu tun hat, besser zur Geltung kommen.«

*

»Du kannst dir wohl denken, dass ich deinen Zeitungsartikel schon kenne«, bekannte Antonia. »Und an den Ohren habe ich auch nichts.«

»Ja, verstehst du nicht, warum ich wütend bin?«

»Ich hatte dich gewarnt«, erinnerte Antonia. »Dass du dir keinen Gefallen damit tust, wenn du das Buch liest, war mir klar. Und das wollte ich dir auch beibringen, als wir nach der Lesung nach Hause gefahren sind. Aber nein, du willst immer mit dem Kopf durch die Wand.«

»Ich wollte nur verhindern, vorschnell zu urteilen«, konterte Sibylle, »denn genau davor hast du mich auch gewarnt. Jetzt bin ich mir sicher: Der einzige Unterschied zwischen unseren Büchern ist der, dass er Frauen tötet, während ich in meinem Buch Männer töte.«

»Das klingt für mich nicht nach einem Plagiat.«

Sibylle starrte Antonia verständnislos an. Sie ließ eine Weile verstreichen, bis sie endlich ausstieß: »Aber alles andere ist mit meinem Buch identisch. Sogar die Tatorte.«

»Hat er seine Opfer auf die Vauban-Insel in Saarlouis platziert?« Antonia runzelte die Stirn.

»Nein! Er hat einen anderen geschichtsträchtigen Ort gewählt, den archäologischen Park in Bliesbrück.«

»Wo ist das?«

»Im Mandelbachtal.«

»Warum behauptest du, er hätte in seinem Buch den gleichen Tatort gewählt wie du?«

»Ganz einfach: Ingo Landry lebt im Mandelbachtal. Also wählt er einen geschichtsträchtigen Ort in seiner Umgebung. Ich lebe in Saarlouis – was schließen wir daraus? Ich wähle einen solchen Ort in meiner Umgebung.«

»Das ist weit hergeholt.«

»Das ist Ideenklau!«

»Ich verstehe dich ja. Aber, in diesem Fall kannst du hundertmal Recht haben. Du hast nichts davon, wenn du dich ärgerst.«

»Was heißt hier ärgern? Ich sehe nicht tatenlos zu, sondern gehe einen Schritt weiter! Ich werde ihn wegen Ideenklau anklagen. Werden wir doch mal sehen, ob ich es Ingo Landry nicht noch heimzahlen kann.«

»Das wird ein schwieriger Prozess.«, warnte Antonia ihre Freundin, »Ideenklau ist kein Straftatbestand. Höchstens Verstoß gegen das Urheberrechtgesetz. Und das nachzuweisen ist fast unmöglich. Hinzu kommt, wie es vor deutschen Gerichten zugeht. Da kannst du schon gleich zehn Jahre einplanen.«

Sibylle ließ sich nicht beirren. »Ich weiß schon, zu welchem Anwalt ich gehe.« Trotzig schaute sie auf ihre Freundin. »Wir waren zusammen in der Schule. Wenn ich ihm gehörig einheize, wird er das Verfahren beschleunigen, du wirst sehen.«

»Ich bin immer noch der Meinung, du solltest dir das Ganze nochmal überlegen. Schreib lieber dein nächstes Buch, davon hast du mehr!«

»Du siehst doch, dass andere meine Lorbeeren einheimsen. Was habe ich davon, wenn ich Ingo Landry die nächste Vorlage liefere?«

Antonia gab es auf. Sie erkannte, dass sie mit Sibylle nicht reden konnte, wenn sie in dieser Verfassung war. Seufzend stellte sie sich ans Fenster. Es war ein sonniger Tag. Alles grünte und blühte auf ihrem kleinen, ungepflegten Wiesenstück, dass es den Eindruck liebevoller Gartenarbeit vermittelte.

»Ich gehe jetzt zu Rudolf, dem Anwalt. Er kann mich beraten«, hörte sie Sibylles Stimme hinter sich.

»Meinst du Rudolf Dupré?« Erstaunt drehte Antonia sich zu ihrer Freundin um.

»Genau den.«

»Der hat mal Schlagzeilen gemacht – allerdings im negativen Sinn. Er hat einen Prozess nicht nur versiebt, sondern wurde von seinem Mandanten wegen Unterlassung der Mitteilungspflicht angezeigt. Er ging sang – und klanglos unter«, resümierte Antonia. »Diesem Versager willst du vertrauen?«

»Er ist gut, glaub mir! Er hat einfach nur den falschen Mandanten ausgewählt, der ihn wegen seiner Arbeitsmethoden in die Pfanne gehauen hat«, verteidigte Sibylle den Anwalt ihrer Wahl.

»Und du willst ihn wegen seiner Arbeitsmethoden?«

Sibylle nickte.

»Heißt das, dass er mit unlauteren Methoden arbeitet?«

Sibylle blieb die Antwort schuldig. Sie zog sich eine Jacke an und verließ das Haus.

*

Der Vorgarten war verwildert. Rosenbüsche wucherten darin und wilde Orchideen. Alte Zypressen grenzten den Garten von der III. Gartenreihe ab und eine Trauerweide, die wie ein Baldachin über den Eingangsbereich wuchs, wucherte vor der Haustür. Sibylle gefiel das üppige Unkraut. Es versprühte die Atmosphäre von Wildnis und Abenteuer, ein Gefühl, das ihre Fantasie anregte.

Der Himmel war strahlend blau. Pünktlich zum Sommeranfang stellte sich sonniges Wetter ein. Genau die richtige Stimmung, etwas zu wagen, dachte Sibylle. Tatenlos zusehen, wie Ingo Landry ihr die Chancen stahl, kam für sie nicht in Frage.

Mit weit ausholenden Schritten machte sie sich auf den Weg zur Kanzlei, die sich im Zentrum der Stadt befand. Sie erreichte den Gro­ßen Markt, der umrahmt war von Platanen, die sich in Größe und Form wie ein Ei dem anderen glichen. Dieser quadratische Marktplatz bildete das Zentrum der Festungsstadt, deren Bauweise einst symmetrisch in Sternform angelegt worden war. Ludwig der Vierzehnte gab der Stadt nicht nur seinen Namen. Als Sonnenkönig verlieh er ihr ein Wappen, das mit der darin enthaltenen Sonne seine persönliche Bindung ausdrücken sollte.

Sibylle passierte ein imposantes Gebäude, ein Relikt aus den Gründerzeiten, die Kommandantur. Ganz im Stil des französischen Funktionsbarocks aus dem 17. Jahrhundert war sie von Sébastien Le Prestre de Vauban erbaut worden. Heute befand sich in dem geschichtsträchtigen Gebäude neben der Hauptpost die Buchhandlung, in der sie ihren Kriminalroman vorgestellt hatte.

Saarlouis wurde inzwischen nur noch teilweise von Vaubans Spuren geprägt. Nördlich der Innenstadt waren Wälle und Gräben erhalten geblieben. Die Wälle dienten inzwischen der Gastronomie, die Kasematten. Die Gräben wurden zu dekorativen Zwecken mit Wasser gefüllt und in städtische Grünanlagen integriert. Inmitten dieser Grünlagen lag auch die Festungsinsel, die den Namen Der halbe Mond bekommen hatte. Ebenfalls ein Relikt des Baumeisters Vauban und eine geeignete Kulisse für Sibylle, dort ihren Krimi zu platzieren. Der Krimi, für den sie heute den Großen Markt überquerte und zielstrebig die Anwaltskanzlei von Rudolf Dupré ansteuerte. Neben dem Rathaus führte die Adlerstraße vorbei, in der sich seine Kanzlei befand. Das Büro lag im ersten Stock und war über eine dunkle, schmale Holztreppe zu erreichen. Das Vorzimmer schimmerte ebenfalls nur spärlich beleuchtet, als wollte Rudolf Dupré Strom sparen. Die Sekretärin, eine ältere Dame, die ihre Zeit mit Stricken vertrieb, ließ hastig Wolle und Stricknadeln unter der Theke verschwinden und bemühte sich zu lächeln, als sie Sibylle kommen sah.

»Ich habe einen Termin bei Anwalt Dupré. Mein Name ist Sibylle Kriebig.«

Geschäftig schaute sie in einen Terminkalender, der so leer war wie das Wartezimmer.

»Ja, hier steht es«, nickte sie und setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Er erwartet Sie. Das letzte Zimmer rechts.«

Sibylle ging durch den schmalen Flur. Anklopfen musste sie nicht, die Tür stand offen.

Rudolf schaute ihr entgegen. Sein Haar wirkte ungepflegt, sein Gesicht unrasiert. Eine Zigarette glimmte zwischen seinen Lippen, eine dünne Rauchfahne stieg auf.

 

»Du bringst mir Unannehmlichkeiten«, begrüßte er Sibylle, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.

»Nimm dir noch eine Flasche Whisky dazu, dann siehst du richtig verkommen aus.« Sibylle ließ sich nicht provozieren, sondern breitete vor dem Anwalt ihr Anliegen aus.

»Was du vorhast ist juristischer Selbstmord«, lautete die Antwort darauf.

»Darin kennst du dich ja aus.«

Dupré hielt inne. Damit hatte Sibylle ins Schwarze getroffen. Es dauerte eine Weile, bis er anfügte: »Ich habe keine Lust, all diese Demütigungen noch mal durchzumachen. Seit ich meine Zulassung wieder habe, schlage ich mich ganz gut durchs Leben.«

»Das sehe ich!« Sibylle grinste. »Du sitzt hier herum, hast keinen einzigen Mandanten, die halbe Etage ist leer, weil niemand bereit ist, mit dir zusammenzuarbeiten. Du sparst am Licht, vermutlich weil du die Stromrechnung nicht bezahlen kannst. Deine Frau ist dir weggelaufen. Du bist der klassische Verlierer.«

»Gut erkannt. Deshalb frage ich mich, warum du mit deinem aussichtslosen Unterfangen ausgerechnet zu mir kommst. Willst du mir das bisschen Würde, das ich mir mühsam hergestellt habe, wieder nehmen? Nein danke!«

»Ich will dir zu Ruhm und Ehre verhelfen.«

»Ha, ha, ha«, konnte Dupré dazu nur bemerken.

»Du wirst einen Präzedenzfall schaffen und das große Geld machen. Wenn ich mit meinem Buch endlich den Erfolg habe, den ich verdiene, kann ich dich so gut bezahlen, dass du es nicht bereuen wirst, das Mandat angenommen zu haben.«

»Wenn … Das klingt mir alles viel zu hypothetisch. Wenn das alles nicht klappt, suche ich meinen Bruder auf und gründe mit ihm den Club der Obdachlosen.«

»Wie geht es deinem Bruder?« Sibylles Gedanken wanderten zu den Brüdern Alfons und Rudolf Dupré. Sie waren beide nicht gerade die großen Gewinner. Im Gegensatz zu Alfons, der völlig im sozialen Abseits gelandet war, hatte Rudolf sich immer noch mit seiner juristischen Ausbildung als Anwalt über Wasser halten können. Sibylle erinnerte sich an die Zeit, als Rudolf seine Zulassung von der Anwaltskammer entzogen bekommen hatte. Zu dieser Zeit hatte er noch für seinen Bruder gekämpft, hatte alle seine Kräfte eingesetzt, damit Alfons sich nicht aufgab und auf der Straße landete. Aber seine Bemühungen waren umsonst. Alfons lebte inzwischen unter den Pennern im Ludwigspark.

»Immer dasselbe«, antwortete Dupré.

Er rieb sich die Schläfen, drückte die Zigarette aus und nahm sich sofort die nächste aus der zerknüllten Schachtel. »Ich dachte, solange ich ihn regelmäßig im Ludwigspark aufsuchen kann, gelingt es mir, ihn wieder nach Haus zu holen. Aber nein.«

»Habt ihr Streit?«

»Ja!« Dupré zündete sich die Zigarette an, atmete den Rauch tief ein und blies die Wolke zur Decke. »Ich mache mir Vorwürfe, vielleicht bin ich einfach zu streng mit ihm.«

»Weit geht er nicht«, überlegte Sibylle laut.

»Du versteht hier was nicht. Ich will nicht, dass er unter den Pennern bleibt. Ich will ihn nach Hause holen.«

»Wenn das einem gelingt, dann dir«, änderte Sibylle ihren Kurs. »Bisher hat Alfons immer viel von dir gehalten. Deshalb gebe ich dir den Rat, nicht aufzugeben.«

»Du kennst dich aber gut mit den Versagern unserer Gesellschaft aus«, bemerkte Dupré bissig.

»Ich wollte dir nur Mut machen.«

»Toll!«, grummelte Dupré abfällig.

Sibylle hustete. Die rauchige Luft kratzte in ihrem Hals. Sie überlegte eine Weile, bis sie vorschlug: »Soll ich mal mit ihm reden? Was hältst du davon?«

»Danke! Aber ich kann mir denken, was dich zu dieser herzerwärmenden Hilfsbereitschaft motiviert: Du willst mit allen Mitteln erreichen, dass ich dein Mandat annehme.«

Sibylle grinste.

Dupré schaute in Richtung Fenster, das die Sicht auf einen grauen Innenhof freigab.

Als er sich Sibylle wieder zuwandte, sah sie, dass sie gewonnen hatte.

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