Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3. Ergebnis

15

Eine Werbeverbots-Regelung kann allein für den Bereich der Presse und anderer Medien, die nicht ausschließlich für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten eingesetzt werden, auf der Grundlage von Art. 114 AEUV erfolgen.

V. Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV

16

Als Rechtsgrundlage könnte ferner Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV zur Koordinierung der mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Dienstleistungen in Betracht kommen. Das könnte insbesondere für solche Dienstleistungen von Bedeutung sein, die die Personenfreizügigkeit nach Art. 114 Abs. 2 AEUV betreffen.

Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV lassen ihrem Wortlaut nach aber nur eine Regelung durch Richtlinien zu. Eine VO kann darauf nicht gestützt werden.

VI. Art. 115 AEUV

17

Art. 115 AEUV ist gegenüber Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV subsidiär. Eine Harmonisierung auf der Grundlage von Art. 115 AEUV ist nur durch eine Richtlinie möglich. Diese Rechtsgrundlage ist daher nicht einschlägig.

VII. Art. 352 AEUV – Flexibilitätsklausel

18

Auf der Grundlage der Flexibilitätsklausel kann die Union Rechtsakte erlassen, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und wenn in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind (Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV).

Art. 352 AEUV reicht deutlich weiter als die alte Kompetenzabrundungsklausel Art. 308 EG. Die alte Kompetenzabrundungsklausel war auf die Zielverwirklichung im Rahmen des Gemeinsamen Marktes beschränkt, nun genügt bereits, dass ein Tätigwerden der Union „im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche“ erforderlich erscheint. Das BVerfG geht im Lissabon-Urteil davon aus, dass die Vorschrift dazu dienen kann, im nahezu gesamten Anwendungsbereich des Primärrechts eine Zuständigkeit zu schaffen, die ein Handeln auf europäischer Ebene ermöglicht.[11]

Gleichwohl dürfen die auf der Flexibilitätsklausel beruhenden Maßnahmen keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den Fällen beinhalten, in denen die Verträge eine solche Harmonisierung ausschließen (Art. 352 Abs. 3 AEUV). Genau das regelt aber Art. 168 Abs. 5 AEUV im Bereich des Gesundheitsschutzes.

Außerdem sind die Verfahrensvorschriften nicht eingehalten: Aus dem Sachverhalt ist nicht zu entnehmen, dass die Kommission den Deutschen Bundestag und den Bundesrat nach Art. 352 Abs. 2 AEUV im Rahmen des Verfahrens zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 5 Abs. 3 EUV auf die Vorschläge aufmerksam gemacht hätte. Zudem haben der Deutsche Bundestag und der Bundesrat der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung nicht nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zugestimmt. Das aber verlangt das BVerfG, weil die Flexibilitätsklausel in ihrem Anwendungsbereich unbestimmt ist und im nahezu gesamten Anwendungsbereich des Primärrechts eine Zuständigkeit der Union schaffen kann. Die Übertragung einer Blankettermächtigung auf die Union wäre verfassungsrechtlich unzulässig.

Im Ergebnis scheidet Art. 352 AEUV als Rechtsgrundlage aus.

VIII. Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, Art. 5 Abs. 3 EUV

19

Wie ausgeführt kommt der Union allenfalls für die Harmonisierung des Pressemarktes und anderer Medien eine vertragliche Rechtsgrundlage zu. Hierfür ist das Vorliegen der Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips zu prüfen.

Das in Art. 5 Abs. 3 EUV geregelte Subsidiaritätsprinzip stellt nach mittlerweile herrschender Meinung eine Kompetenzausübungsregelung dar, dh es bestimmt, in welchen Fällen die Union von einer ihr durch den Vertrag zugewiesenen Kompetenz Gebrauch machen darf.

1. Ausschließliche Zuständigkeit der Union?

20

Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 3 EUV ist zunächst, dass die beanstandete Regelung nicht einen Bereich betrifft, der in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt. Die Rechtsangleichung auf der Grundlage von Art. 114 Abs. 1 AEUV gehört nicht zur ausschließlichen Zuständigkeit der Union (Art. 3 AEUV).

2. „Nicht ausreichend“ auf mitgliedstaatlicher Ebene; „besser“ auf Unionsebene

21

Ferner müssen die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten, Regionen oder Kommunen nicht ausreichend und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene erreicht werden können. Der EuGH[12] sieht hierin und entgegen dem eindeutigen Wortlaut nicht zwei, sondern lediglich eine einzige Voraussetzung.

Hier ist zu bedenken, dass – obwohl die grundsätzliche Justiziabilität nach Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls besteht – diese Vorschrift dem Unionsgesetzgeber gerade bei der Einschätzung der Wirksamkeit von geplanten Maßnahmen einen weiten Gestaltungsspielraum eröffnet. Insoweit hat der EuGH bereits die heterogene Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften als hinreichendes Argument dafür gelten lassen, dass eine Maßnahme auf Unionsebene besser als auf mitgliedstaatlicher Ebene erreicht werden kann.[13]

Mit dem Lissabon-Vertrag wurden die verfahrensrechtlichen Vorgaben erheblich erweitert: Die Kommission muss zunächst umfangreiche Anhörungen durchführen (Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll) und ihre Gesetzesentwürfe dem Unionsgesetzgeber und den nationalen Parlamenten gleichzeitig zuleiten (Art. 4 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll). Diese Entwürfe sind zu begründen (Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll). Den mitgliedstaatlichen Parlamenten kommt die Befugnis zu, binnen acht Wochen eine begründete Stellungnahme abzugeben (Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll). Daran schließt sich ein „Verhinderungsverfahren“ an (Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll). Hier hat die Kommission ihren Vorschlag für eine Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung weder dem öffentlichen Anhörungsverfahren unterzogen, noch diesen den nationalen Parlamenten vorher mitgeteilt. Die Verordnung ist deshalb rechtswidrig zustande gekommen.

B. Verstoß gegen die Grundrechte
I. Rechtsgrundlage der europäischen Grundrechte

22

Nach Art. 6 Abs. 1 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der GRC niedergelegt sind.

Die GRC gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC). Die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ist eine Maßnahme der Union und deshalb an den europäischen Grundrechten zu messen. Auch soweit die Mitgliedstaaten im Vollzugswege die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung durchzuführen haben, sind sie an die europäischen Grundrechte gebunden.

II. Meinungsfreiheit
1. Schutzbereich

23

Art. 11 GRC bestimmt, dass jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.

Nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Deshalb hat die EMRK bei der Bestimmung der Rechte, die das Unionsrecht schützt, und des Umfanges des gewährten Schutzes besondere Bedeutung als Inspirationsquelle (vgl. a. Art. 52 Abs. 3 GRC).

 

Nach der Rechtsprechung des EGMR verdienen alle Formen der Meinungsäußerung Schutz nach Art. 10 Abs. 1 EMRK.[14] Dazu gehören auch Informationen wirtschaftlicher Natur, also die Verbreitung von Informationen, die Äußerung von Ideen oder die Verbreitung von Bildern als Teil der Verkaufsförderung einer Wirtschaftstätigkeit und das entsprechende Recht, solche Mitteilungen zu empfangen.[15] Informationen wirtschaftlicher Art tragen zwar nicht in derselben Weise wie politische, journalistische, literarische oder künstlerische Meinungen in einer liberalen demokratischen Gesellschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele bei, persönliche Rechte werden jedoch als Grundrechte nicht nur wegen ihrer instrumentalen, gesellschaftlichen Funktion anerkannt, sondern auch, weil sie für die Autonomie, die Würde und die Persönlichkeitsentwicklung erforderlich sind. Die Freiheit der Bürger, ihre wirtschaftliche Betätigung durch Äußerungen zu fördern, fließt daher nicht nur aus ihrem Recht auf wirtschaftliche Betätigung und im Unionskontext aus der allgemeinen Gewährleistung einer auf freien Wettbewerb gestützten Marktwirtschaft, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Anspruch als Menschen, Ansichten zu jeder Frage einschließlich der Qualität von Waren oder Dienstleistungen, die sie verkaufen oder erzeugen, auszudrücken und zu empfangen.

2. Eingriff

Durch die Süßigkeitswerbeverbotsverordnung ist Werbung verboten und damit in die Meinungsfreiheit eingegriffen.

3. Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs

24

Die Meinungsfreiheit kann beschränkt werden, um anderen den Genuss von Rechten oder die Erreichung bestimmter Gemeinwohlziele zu ermöglichen. Es gelten der Gesetzesvorbehalt und die Wesensgehaltsgarantie (Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC) sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wonach Einschränkungen nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC). Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Unionsorgane erkennt der EuGH diesen einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum zu. Gerade bei gesetzgeberischen Entscheidungen in komplexen Regelungsbereichen soll es nur die Aufgabe des Gerichtshofes sein, zu prüfen, „ob den Organen beim Treffen einer solchen Entscheidung ein offensichtlicher Irrtum oder Ermessensmissbrauch unterlaufen ist oder ob sie die Grenzen ihres Spielraums offensichtlich überschritten haben“.[16]

GA Fenelly hat im Fall „Tabakwerbeverbot“ vorgeschlagen, der Rechtsprechung des EGMR zu folgen, der normalerweise verlangt, dass die Vertragsstaaten einen überzeugenden Beweis eines dringenden sozialen Erfordernisses für eine Beschränkung der Meinungsfreiheit beibringen müssen.[17] Dagegen werden Beschränkungen wirtschaftlicher Informationen als gerechtfertigt anerkannt, wenn die zuständigen Behörden die Beschränkungen aus vernünftigen Gründen für erforderlich halten.[18] Eine solche unterschiedliche Behandlung kann damit gerechtfertigt werden, dass Informationen wirtschaftlicher Natur und (etwa) politische Meinungsäußerungen mit dem Allgemeininteresse in unterschiedlicher Weise in Beziehung stehen. Während die politische Meinungsäußerung selbst außerordentlich wichtigen gesellschaftlichen Interessen dient, haben Informationen wirtschaftlicher Natur normalerweise keine weitere soziale Funktion als ihre Rolle, die Wirtschaftstätigkeit zu fördern, weshalb dem Gesetzgeber auch ein weites Ermessen zukommen kann, um Beschränkungen im Allgemeininteresse zu verhängen.[19]

Der Gesundheitsschutz ist einer der Gründe, den Art. 10 Abs. 2 EMRK als Beschränkung der Meinungsfreiheit zulässt. Ferner kommt dem Gesundheitsschutz in Art. 36 AEUV sowie in den eigenen Politiken der Union nach Art. 6 S. 2 lit. a AEUV, Art. 9 AEUV, Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 AEUV eine herausragende Bedeutung zu. Angesichts der erheblichen Rolle des Süßigkeitenkonsums als Erkrankungsfaktor und als Ursache vielfältiger Gesundheitsprobleme in der Union wäre ein möglicher Rückgang des Süßigkeitenkonsums ein großer Gewinn für die allgemeine Gesundheit.

Die Beschränkung der Meinungsfreiheit beruht aber auf einer Verordnung die – wie ausgeführt – nicht den Binnenmarktzielen entspricht.

4. Ergebnis

25

Ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit liegt somit vor.

III. Unternehmerische Freiheit

26

Die unternehmerische Freiheit ist nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gewährleistet (Art. 16 GRC). Der EuGH hat schon vor Inkraftsetzung der Grundrechte-Charta die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts anerkannt.[20]

Die unternehmerische Freiheit kann jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen und muss im Hinblick auf ihre soziale Funktion gesehen werden. Zwar kann der Schutz der Wirtschaftsteilnehmer keinesfalls auf bloße kaufmännische Interessen oder Chancen ausgedehnt werden, deren Ungewissheit zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehört,[21] doch kann die unternehmerische Freiheit Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Art. 52 GRC).

Allein auf das hohe Schutzgut der Gesundheit bezogen erscheint ein umfassendes Süßigkeitenwerbeverbot nicht unverhältnismäßig. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Verordnung keine Beschränkungen auferlegt, die den Binnenmarktzielen entsprechen. Daher kann ein Verstoß gegen die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit insoweit angenommen werden.

IV. Eigentumsgarantie

27

Die Eigentumsgarantie ist durch Art. 17 GRC gewährleistet. Hierzu zählt auch der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb.[22] Das Eigentum ist nicht schrankenlos gewährleistet, weil es im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden muss. Eigentum kann durch Enteignung entzogen werden und seine Nutzung kann nach Maßgabe des Art. 17 Abs. 1 S. 3 GRC gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist. Auch hier kann auf die angestellten Überlegungen verwiesen werden. Da die Verordnung nicht den Binnenmarktzielen entspricht, liegt eine unzulässige Beschränkung der Eigentumsgarantie vor.

C. Ergebnis

28

Die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ist insgesamt nichtig.

Frage 2

In Betracht kommt eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit, soweit die Produzenten von Süßigkeiten und Presseunternehmen betroffen sind. Werbeagenturen und Rundfunkunternehmen können in ihrer Dienstleistungsfreiheit betroffen sein.

A. Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV

Es könnte ein Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit vorliegen, soweit Süßigkeiten oder Medien zur Werbung für Süßigkeiten durch das Süßigkeitenwerbeverbot betroffen sind.

I. Schutzbereich

29

Waren iSd Art. 34 AEUV sind Erzeugnisse, die einen Geldwert haben und deshalb Gegenstand von Handelserzeugnissen sein können.[23] Sowohl Süßigkeiten als auch Presseartikel sind daher Waren iSd Art. 34 AEUV.

Auch der persönliche Schutzbereich ist eröffnet: Auf Art. 34 AEUV kann sich jede Person oder jedes Unternehmen berufen, das ein Interesse an der Durchsetzung der Warenverkehrsfreiheit hat, insbesondere weil es Waren herstellt, vertreibt, kauft oder verkauft.

Es ist davon auszugehen, dass diese Waren im grenzüberschreitenden Verkehr angeboten und nachgefragt werden. Das gilt insbesondere auch für Presseartikel im Verkehr mit gleichsprachigem Ausland.

II. Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit

30

Eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit liegt dann vor, wenn Einfuhren mengenmäßig beschränkt werden oder es sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung handelt (Art. 34 AEUV). Mit der sog. Dassonville-Formel[24] ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten anzusehen, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.[25]

Das nationale Süßigkeitenwerbeverbot ist zunächst eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit, weil Presseerzeugnisse mit Werbung für Süßigkeiten nicht mehr vertrieben werden dürfen. Ferner wird auch in die Warenverkehrsfreiheit der Produzenten von Süßigkeiten eingegriffen, weil ein Werbeverbot absatzhindernde Wirkung hat.

Dieser weite Ansatz der „Dassonville-Formel“ bedarf aber einer tatbestandsmäßigen Reduktion. Denn tatsächlich führt die „Dassonville-Formel“ dazu, dass praktisch alle wirtschaftslenkenden Gesetze marktbeschränkende Wirkung haben. In der Entscheidung „Keck“ hat der EuGH das umfassende Beschränkungsverbot daher erheblich modifiziert: Nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, sollen nicht geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils „Dassonville“ unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Denn sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedsstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als dies für inländische Erzeugnisse der Fall ist. Diese Regelungen fallen dann nicht in den Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV.[26]

Demnach müsste das Süßigkeitenwerbeverbot eine Verkaufsmodalität darstellen und unterschiedslos für inländische und ausländische Unternehmer gelten. Hier ist nicht davon auszugehen, dass lediglich eine Verkaufsmodalität vorliegt. Zwar gilt das Süßigkeitenwerbeverbot unterschiedslos für inländische wie ausländische Unternehmer; einem Produzenten aber, der ein Produkt in einen nationalen Markt neu einführen will, stehen wegen des Werbeverbots kaum Möglichkeiten offen, potentielle Kunden auf sein Produkt aufmerksam zu machen. Dies geht insbesondere zu Lasten von Produzenten aus anderen Mitgliedstaaten, eben weil regelmäßig heimische Unternehmen auf dem inländischen Markt bereits etabliert sind, und es meistens ausländische Unternehmen sind, die versuchen werden, als Neueinsteiger auf dem Markt eines Mitgliedstaats Marktanteile zu erringen. Darin unterscheidet sich das absolute Werbeverbot von Verkaufsmodalitäten: Die Verbrauchergewohnheiten werden zementiert und der Marktzugang deshalb erschwert.[27]

 

Dafür, dass ein absolutes Werbeverbot für Süßigkeiten den Marktzugang betrifft, spricht ferner, dass gerade bei Erzeugnissen wie Süßigkeiten der Genuss mit herkömmlichen gesellschaftlichen Übungen sowie örtlichen Sitten und Gebräuchen verbunden ist, mit denen inländische Produzenten besser vertraut sind als ausländische.[28]

Das Werbeverbot hat daher unterschiedliche Auswirkungen auf den Absatz inländischer Erzeugnisse und Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten. Es liegt eine Marktzugangsregel vor. Von einer Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit ist somit auszugehen.

III. Rechtfertigung der Beschränkung

31

Diese Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit kann gerechtfertigt sein.[29] Einerseits ist Art. 36 AEUV eine „Schranken-Schranke“ für diskriminierende Maßnahmen – Art. 36 AEUV lässt Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen zu –, andererseits hat der EuGH in „Cassis de Dijon“[30] entschieden, dass Hemmnisse für den Binnenhandel der Union, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, hingenommen werden müssen, soweit diese Beeinträchtigungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.

Die Maßnahme muss geeignet und angemessen sein. Sie darf weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen (Art. 36 S. 2 AEUV). Das Süßigkeitenwerbeverbot ist freilich geeignet, den Gesundheitsschutz zu fördern; es trägt zum Kampf gegen Krankheiten bei. Nichts deutet darauf hin, dass die Gründe des Gesundheitsschutzes missbraucht und zur Diskriminierung von Waren aus anderen Mitgliedstaaten oder zum mittelbaren Schutz bestimmter nationaler Produktionen verwendet werden. Das nationale Süßigkeitenwerbeverbotsgesetz würde daher nicht gegen die Warenverkehrsfreiheit verstoßen.

Weitere Bücher von diesem Autor