Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht

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Fall 1 Süßigkeitenwerbung

Inhaltsverzeichnis

Vorüberlegungen

Gliederung

Lösung

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Der Konsum von Süßigkeiten ist in Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Jeder zehnte Europäer soll bereits übergewichtig und deshalb gesundheitlich gefährdet va im Hinblick auf Stoffwechselerkrankungen und Zahnkrankheiten sein. Um dem zu begegnen, haben einige Mitgliedstaaten sehr strenge Werbeverbote für Süßigkeiten (Gummibärchen, Schokoriegel, Bonbons, Lutscher, Speiseeis) erlassen. Andere Mitgliedstaaten wollen hingegen weiterhin eine liberale Gesundheitspolitik betreiben, in wieder anderen wird noch darüber diskutiert, ob Werbeverbote eingeführt werden sollen oder andere Schutzmaßnahmen getroffen werden können. Der Rat hält eine Förderung des Gesundheitsschutzes zwar für geboten, sieht die unterschiedliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten aber kritisch.

In der Folge beschließt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission, nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und nach Zustimmung des Parlaments eine „Verordnung zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung zugunsten von Süßigkeiten (‚Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung‘)“. Danach darf für Süßigkeiten künftig generell nicht mehr geworben werden. Das Verbot ist umfassend und bezieht sich auf Anzeigen und Inserate in der Presse (Zeitungen und Zeitschriften), Rundfunkwerbung, Kinowerbung, Plakate, Broschüren und andere Werbeträger, wie zB auf Sonnenschirmen oder Fahnen vor Restaurants und Cafés, sowie auf werbebezogene Informationsveranstaltungen.

In den Erwägungen heißt es, dass diese Regelung dem Gesundheitsschutz diene; vor allem Kinder und Jugendliche seien vor den Gefahren des übermäßigen Süßigkeitenkonsums zu schützen. Außerdem stellten unterschiedliche nationale Regelungen zur Zulässigkeit von Werbung für Süßigkeiten Hemmnisse für den freien Warenverkehr und den Dienstleistungsverkehr dar und könnten zu Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt führen. Es bestehe die Gefahr, dass einige Mitgliedstaaten ihre Gesundheitspolitik künftig noch verschärfen, was zu weiteren Wettbewerbsverzerrungen führen könne.

Daher müsse das Süßigkeitenwerbeverbot umfassend sein. Damit der Absatz von Süßigkeiten reduziert wird, müssten sämtliche Waren und Dienstleistungen untersagt werden, die ausschließlich die Funktion der Werbung für Süßigkeiten haben (Plakate, Kinowerbung) sowie solche, die nicht ausschließlich als Medien für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten (zB Zeitungen und Zeitschriften) dienen.

Die Bayerische Industrie- und Handelskammer lehnt die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ab. Sie bezweifelt bereits die Kompetenz der EU für den Erlass eines derart umfassenden Süßigkeitenwerbeverbots. Damit würden nicht nur die Produzenten der Süßigkeiten, sondern auch Werbeagenturen und Presseunternehmen, die zB Tageszeitungen mit Werbung für Süßigkeiten vertreiben, erheblich betroffen. Diese Verordnung beseitige keine Hemmnisse des Binnenmarkts, sondern schaffe neue Beschränkungen. Die Union berücksichtige auch nicht, dass die Ein- und Ausfuhr von Presseerzeugnissen, die Werbung für Süßigkeiten enthalten, gegenwärtig auch in solchen Mitgliedstaaten zulässig ist, in denen diese Werbung grundsätzlich untersagt ist. Schließlich stehe einer europarechtlichen Harmonisierung Art. 168 Abs. 5 AEUV sowie das Subsidiaritätsprinzip entgegen. Ferner wären die Hersteller von Süßigkeiten, Presseunternehmen und Werbeagenturen erheblich in ihren Grundrechten betroffen.

Frage 1: Die Bayerische Industrie- und Handelskammer möchte wissen, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung mit Unionsrecht vereinbar ist.

Frage 2: Unterstellt, die europäische Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ist nichtig. Wäre ein deutsches Süßigkeitenwerbeverbotsgesetz, das wie die europäische Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ein absolutes Werbeverbot für Süßigkeiten regelt, unionsrechtskonform?

Bearbeitervermerk:

Alle aufgeworfenen Rechtsfragen sind – gegebenenfalls hilfsweise – rechtsgutachterlich zu erörtern.

Anmerkung:

Auf geltende Richtlinien und Verordnungen der EU ist nicht einzugehen.

Fall 1 Süßigkeitenwerbung › Vorüberlegungen

Vorüberlegungen

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Der Fall ist (modifiziert) im ersten Staatsexamen gestellt worden. Der erste Fragenkreis betrifft das System der europäischen Rechtsetzungskompetenzen, die der EuGH maßgeblich in zwei Entscheidungen zum Tabakwerbeverbot entwickelt hat. Im Lissabonner Vertrag ist die Abgrenzung der Kompetenzen von Union und Mitgliedstaaten grundlegend geregelt worden. Zu prüfen sind spezifische Rechtssetzungsbefugnisse der Union zum Gesundheitsschutz und zum Binnenmarkt sowie die Flexibilitätsklausel und weitere Anforderungen wie das Subsidiaritätsprinzip. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der europäischen Grundrechtsdogmatik. Der zweite Teil betrifft Standardfragen der Prüfung von Grundfreiheiten.

Fall 1 Süßigkeitenwerbung › Gliederung

Gliederung

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Frage 1
A. Zuständigkeit der EU zum Erlass des Süßigkeitenwerbeverbots
I. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung
II. Zuständigkeit der EU
III. Rechtsgrundlage: Art. 168 Abs. 5 AEUV
IV. Art. 114 AEUV – Harmonisierung im Binnenmarkt
1. Reichweite des Art. 114 AEUV
2. Abbau von Behinderungen der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts
3. Ergebnis
V. Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV
VI. Art. 115 AEUV
VII. Art. 352 AEUV – Flexibilitätsklausel
VIII. Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, Art. 5 Abs. 3 EUV
1. Ausschließliche Zuständigkeit der Union?
2. „Nicht ausreichend“ auf mitgliedstaatlicher Ebene; „besser“ auf Unionsebene
B. Verstoß gegen die Grundrechte
I. Rechtsgrundlage der europäischen Grundrechte
II. Meinungsfreiheit
1. Schutzbereich
2. Eingriff
3. Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs
4. Ergebnis
III. Unternehmerische Freiheit
IV. Eigentumsgarantie
C. Ergebnis
Frage 2
A. Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV
I. Schutzbereich
II. Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit
III. Rechtfertigung der Beschränkung
B. Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV
I. Schutzbereich
II. Beschränkung
III. Rechtfertigung der Beschränkung
C. Ergebnis

Fall 1 Süßigkeitenwerbung › Lösung

 

Lösung
Frage 1
A. Zuständigkeit der EU zum Erlass des Süßigkeitenwerbeverbots
I. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung

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Die Bayerische Industrie- und Handelskammer rügt in erster Linie die fehlende Kompetenz der Union zum Erlass des beanstandeten Süßigkeitenwerbeverbots. Wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV, wird die Union nur innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit tätig. Deshalb ist zunächst zu untersuchen, ob die Union für den Erlass der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung zuständig ist.

II. Zuständigkeit der EU

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Eine ausschließliche Zuständigkeit der Union i.S.v. Art. 3 AEUV ist nicht erkennbar. Im Rahmen der geteilten Zuständigkeit (Art. 4 AEUV) erstreckt sich die Zuständigkeit der Union auf gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hinsichtlich der im Vertrag genannten Aspekte (Art. 4 Abs. 2 lit. k AEUV). Sicherheitsanliegen werden mit der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung nicht geregelt. Art. 6 lit. a AEUV eröffnet der Union aber die Zuständigkeit für Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit im Wege der Durchführung von Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Nicht ausgeschlossen erscheint außerdem die geteilte Zuständigkeit der Union unter dem Gesichtspunkt des Binnenmarkts (Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV).

III. Rechtsgrundlage: Art. 168 Abs. 5 AEUV

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Auf der Grundlage von Art. 168 Abs. 5 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten, Maßnahmen zur Beobachtung, frühzeitigen Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren sowie Maßnahmen, die unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch zum Ziel haben, erlassen.

Auf Art. 168 Abs. 5 AEUV können Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit gestützt werden. Die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung trägt zwar zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit bei, aus dem Wortlaut und den genannten Regelbeispielen folgt aber, dass es sich bei den Unionsmaßnahmen nur um fördernde Maßnahmen handeln darf. Das folgt auch aus Art. 6 S. 1 AEUV, wonach die Union nur unterstützend, koordinierend und ergänzend tätig werden darf. Die hier gesetzten Maßnahmen gehen darüber hinaus. Hier ergreift die Union die Initiative und wird selbst aktiv. Die Verbotsverordnung greift vielfältig in die Freiheit der Unternehmen und des Binnenmarktes ein. Deshalb kann auch dahingestellt bleiben, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung der Bekämpfung „weit verbreiteter schwerer grenzüberschreitender Krankheiten“ dient, wie es bei bestimmten Stoffwechselerkrankungen der Fall sein könnte. Eine Maßnahme zur Beobachtung oder frühzeitigen Meldung liegt nicht vor. Als Maßnahme der Gesundheitspolitik ist die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung unzulässig.

IV. Art. 114 AEUV – Harmonisierung im Binnenmarkt

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Zu prüfen ist, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung auf Art. 114 AEUV gestützt werden kann. Gemäß Art. 114 Abs. 1 AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat zur Verwirklichung der Ziele des Art. 26 AEUV im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben.

1. Reichweite des Art. 114 AEUV

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Fraglich ist zunächst die Reichweite dieser Gesetzgebungskompetenz: Denkbar wäre, dass Art. 114 AEUV dem Unionsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewährt. Das hätte zur Konsequenz, dass bereits die Existenz unterschiedlicher Vorschriften in den Mitgliedstaaten über Werbung für Süßigkeiten eine Regelung der EU rechtfertigen würde.

Dagegen spricht aber eine Zusammenschau der Art. 114 AEUV und Art. 26 AEUV: Maßnahmen gemäß Art. 114 AEUV und Art. 26 AEUV sollen die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern. Ausdrücklich ist in Art. 114 AEUV bestimmt, dass Unionsmaßnahmen der Verwirklichung der Ziele des Art. 26 AEUV dienen müssen. Gemäß Art. 26 Abs. 2 AEUV, der die erforderlichen Maßnahmen für die Verwirklichung des Binnenmarktes zum Gegenstand hat, umfasst der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist. Eine allgemeine Kompetenz widerspräche dem Wortlaut dieser Bestimmung. Nicht zuletzt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 Abs. 1 und 2 EUV) steht einer Auslegung, die allein auf die Binnenmarktrelevanz abstellt, entgegen.

Ferner folgt aus Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV, dass nicht bereits die bloße Feststellung von Unterschieden zwischen den nationalen Vorschriften und die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder daraus möglicherweise entstehenden Wettbewerbsverzerrungen die Wahl von Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage rechtfertigen kann, sondern der fragliche Rechtsakt tatsächlich den Zweck haben muss, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern.[1] Ausdrücklich ist die besondere Rechtsgrundlage des Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV entgegen der allgemeinen Ermächtigungsklausel Art. 115 AEUV „für die Verwirklichung der Ziele des Artikels 26 AEUV“ konzipiert.[2]

Das schließt eine Anwendung des Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage nicht aus, um der Entstehung neuer Hindernisse für den Handel infolge einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen. Das Entstehen solcher Hindernisse muss jedoch wahrscheinlich sein und die fragliche Maßnahme ihre Vermeidung bezwecken.[3]

Nicht auf Art. 114 AEUV gestützt werden können Bestimmungen über die Freizügigkeit (Art. 114 Abs. 2 AEUV). Soweit daher der freie Personenverkehr insbesondere im Bereich der Dienstleistungsfreiheit betroffen ist (zB Werbeagenturen), kann nicht Art. 114 Abs. 1 AEUV als Rechtsgrundlage herangezogen werden, wenn die betreffende Dienstleistung die Freizügigkeit betrifft. Eine Harmonisierung von Regelungen zu Dienstleistungen kommt dann nur nach Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV in Betracht (s. unten V.).

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Allerdings könnte Art. 168 Abs. 5 AEUV einer Anwendung des Art. 114 AEUV entgegenstehen, der „jegliche Harmonisierung“ von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich ausschließt. Aus dem Wortlaut ergibt sich nicht eindeutig, ob diese Bestimmung dahingehend auszulegen ist, dass nur Maßnahmen unzulässig sein sollen, die primär auf den Schutz und die Förderung der menschlichen Gesundheit ausgerichtet sind. Für eine restriktive Auslegung spricht, dass Art. 114 AEUV selbst zur Verwirklichung des Binnenmarktes eine grundsätzlich umfassende Regulierung ermöglicht. Art. 114 Abs. 3 AEUV schreibt ausdrücklich vor, dass bei Harmonisierungen von einem hohen Gesundheitsschutzniveau ausgegangen wird.[4] Außerdem ergibt sich aus Art. 168 Abs. 5 AEUV nicht, dass auf der Grundlage anderer Vertragsbestimmungen erlassene Harmonisierungsmaßnahmen nicht Auswirkungen auf den Schutz der menschlichen Gesundheit haben dürften. Gerade der Ausnahmecharakter der Bestimmung spricht für ein restriktives Verständnis. Der rechtspolitische Hintergrund der beschränkten Unionszuständigkeit im Bereich des Gesundheitsschutzes ist, dass eine Nivellierung der hohen Gesundheitsstandards in einzelnen Mitgliedstaaten auf ein niedrigeres Unionsniveau ausgeschlossen sein soll; den Mitgliedstaaten soll die Option offengehalten werden, ein Optimum an Gesundheitsschutz zu ermöglichen. Das in Art. 168 Abs. 5 AEUV niedergelegte Harmonisierungsverbot kann daher nur so ausgelegt werden, dass es Harmonisierungsmaßnahmen in den Kernbereichen der Gesundheitspolitik verbietet.[5] Das schließt eine Harmonisierung selbst dann nicht aus, wenn sie im Schwerpunkt dem Gesundheitsschutz dient, solange die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessert werden.[6]

 

Allerdings dürfen andere Artikel des AEUV nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um den ausdrücklichen Ausschluss jeglicher Harmonisierung gemäß Art. 168 Abs. 5 AEUV zu umgehen.[7]

2. Abbau von Behinderungen der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts

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Eine Beschränkung des Binnenmarktes ist durch Hemmnisse oder Wettbewerbsverzerrungen möglich, die aus unterschiedlichen nationalen Vorschriften resultieren.

Die Beseitigung von Hemmnissen des freien Warenverkehrs: Für die Frage, inwieweit mit der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung Hemmnisse des Binnenmarkts aufgehoben werden sollen, ist zu unterscheiden zwischen den Süßigkeitenprodukten selbst, Waren und Dienstleistungen, die zwischen den Mitgliedstaaten gehandelt werden und nicht ausschließlich als Medien für die Werbung zur Absatzsteigerung der Süßigkeiten dienen (zB Zeitungen und Zeitschriften), und Waren und Dienstleistungen, die im Einzelfall ausschließlich als Medium der Werbung für Süßigkeiten dienen (Plakate, Kinowerbung).

(1. Gruppe der Hersteller von Süßigkeiten) Mitgliedstaatliche Werbeverbote hemmen den Vertrieb von Süßigkeiten; ein unionsweites Süßigkeitenwerbeverbot fördert den Handel mit diesen Erzeugnissen nicht. Zur Beseitigung von Hemmnissen des Binnenmarkts für Süßigkeiten kann die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung deshalb nicht auf Art. 114 AEUV gestützt werden.

(2. Gruppe der Presseunternehmen und anderer Medien, die nicht ausschließlich für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten eingesetzt werden) Kein Mitgliedstaat hat bisher ein Einfuhrverbot oder Einfuhrbeschränkungen für Presseunternehmen und andere Medien, die nicht ausschließlich für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten eingesetzt werden, beschlossen. Das gilt auch für Mitgliedstaaten, in denen diese Werbung untersagt ist. Zwar unterliegt die Ein- und Ausfuhr von Presseerzeugnissen und anderen Medien der Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV), eine Beschränkung dieses Marktes durch einzelne Mitgliedstaaten kann aber nicht ausgeschlossen werden, insbesondere weil Art. 36 AEUV Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit aus Gründen des Gesundheitsschutzes zulässt. Wegen der Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften, die zu einer immer stärkeren Beschränkung der Werbung für Süßigkeiten führt und der Überzeugung entspricht, dass diese Werbung den Süßigkeitenkonsum spürbar erhöht, erscheint es sogar als wahrscheinlich, dass künftig Hindernisse für den freien Verkehr von Presseerzeugnissen und anderen Medien entstehen werden.

Dieser Handel mit Presseerzeugnissen ist ebenso wie der anderer Medien auch zwischen den Mitgliedstaaten relativ bedeutend und wird an Bedeutung zunehmen. Das betrifft nicht nur Presseerzeugnisse in Mitgliedstaaten, in denen die gleiche Sprache gesprochen wird. Ein erheblicher grenzüberschreitender Verkehr besteht auch für Presseerzeugnisse zwischen Mitgliedstaaten, in denen unterschiedliche Sprachen gesprochen werden und hat seinen Grund vor allem im gesteigerten Mobilitätsverhalten der Europäer, das primärrechtlich durch die Freizügigkeitsregelungen vereinfacht wird (vgl Art. 21 AEUV). Für elektronische Medien ist der grenzüberschreitende Verkehr ohnehin offensichtlich.[8]

Die Verhinderung dieser möglicherweise künftigen Hemmnisse der Presseerzeugnisse und anderer Medien fördert den Binnenmarkt in diesem Bereich. Das genügt, um eine Regelungskompetenz der Union insoweit zu begründen.

(3. Gruppe der Medien, die ausschließlich für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten eingesetzt werden) Anders für die übrigen Formen von Werbung für Süßigkeiten: Entsprechende Verbote von Werbung auf Plakaten, Sonnenschirmen und Fahnen stellen sicherlich ein Hemmnis für den Binnenmarkt dieser Produkte dar. Im Gegensatz zu den nichtausschließlichen Werbeträgern würde ein unionsweites Süßigkeitenwerbeverbot den Handel mit den betroffenen Erzeugnissen aber nicht fördern, sondern weiter beschränken. Hier betrifft das Verbot das Medium selbst. Hemmnisse für den freien Verkehr von Werbeträgern in diesem Werbesektor können durch ein umfassendes Süßigkeitenwerbeverbot folglich auch nicht beseitigt werden.

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Die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen: Fraglich ist, ob bereits jede Form der Wettbewerbsverzerrung eine Harmonisierung durch die Union ermöglicht. Würde man das Überschreiten einer gewissen Mindestschwelle nicht für erforderlich halten, wären der Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers praktisch keine Grenzen gezogen. Zwischen den nationalen Rechtsvorschriften über die Voraussetzungen der Ausübung bestimmter Tätigkeiten bestehen nämlich vielfach Unterschiede, was sich unmittelbar oder mittelbar auf die Wettbewerbsbedingungen der betroffenen Unternehmen auswirkt. Dies wäre wiederum mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nicht vereinbar. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung müssen die Wettbewerbsverzerrungen, auf deren Beseitigung der Rechtsakt zielt, daher spürbar sein.[9]

Es ist deshalb zu prüfen, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung tatsächlich zur Beseitigung spürbarer Verzerrungen des Wettbewerbs beiträgt:

(1. Gruppe der Hersteller von Süßigkeiten) Was den Markt für Süßigkeiten betrifft, bestehen grundsätzlich keine Wettbewerbsverzerrungen, weil die Werbeverbote der Mitgliedstaaten für sämtliche in- und ausländische Unternehmen gleich gelten. Allein, dass Hersteller und Verkäufer von Süßigkeiten in Mitgliedstaaten mit restriktiven Rechtsvorschriften ihre Marktposition nur über den Preiswettbewerb entwickeln können, stellt keine Wettbewerbsverzerrung dar, sondern eine Beschränkung der Wettbewerbsarten, die in gleicher Weise für alle Wirtschaftsteilnehmer in diesen Mitgliedstaaten gilt.

Zwar können Werbeverbote für Süßigkeiten Markteinführungen erschweren. Der EuGH argumentiert in der Entscheidung zum Tabakwerbeverbot aber dahingehend, dass durch eine weitgehende Untersagung der Süßigkeitenwerbung die Verordnung diese Beschränkung generalisiert und folglich die Mittel, mit denen sich die Wirtschaftsteilnehmer Zugang zum Markt verschaffen und sich dort behaupten können, in sämtlichen Mitgliedstaaten einschränkt.[10]

(2. Gruppe der Presseunternehmen und anderer Medien, die nicht ausschließlich für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten eingesetzt werden) Ein Hemmnis für den Binnenmarkt besteht schon, wenn die Mitgliedstaaten hinsichtlich eines Erzeugnisses oder einer Erzeugnisgruppe divergierende Maßnahmen erlassen. Wird Werbung für Süßigkeiten in Presseunternehmen und anderen Medien in einem Mitgliedstaat verboten oder anderen Bedingungen unterworfen als in einem anderen Mitgliedstaat, in dem die Werbung für Süßigkeiten weniger reguliert ist, kann der Wettbewerb der Presseunternehmen und anderer Medien tatsächlich oder potentiell behindert werden.

Die Beseitigung dieser bestehenden und möglicherweise künftigen Hemmnisse der Presseerzeugnisse und anderer Medien fördert dann den Binnenmarkt in diesem Bereich.

(3. Gruppe der Medien, die ausschließlich für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten eingesetzt werden) Eine Wettbewerbsverzerrung ist nicht erkennbar: Was die Medien betrifft, die ausschließlich für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten eingesetzt werden, gelten die Werbeverbote in einem Mitgliedstaat für alle in- und ausländischen Unternehmen gleich.

Zwar sind Unternehmen, die in Mitgliedstaaten mit einer weniger restriktiven Regelung der Werbung für Süßigkeiten ansässig sind, hinsichtlich der Größenvorteile und der Gewinnerzielung begünstigt, diese Vorteile wirken sich jedoch auf den Wettbewerb nur entfernt und mittelbar aus und führen nicht zu spürbaren Verzerrungen.

Es mag nicht ausgeschlossen sein, dass Unterschiede zwischen bestimmten Regelungen zur Werbung für Süßigkeiten in Einzelfällen spürbare Wettbewerbsbeschränkungen herbeiführen können. Derartige vereinzelte Verzerrungen rechtfertigen es jedoch nicht, Art. 114 AEUV für ein allgemeines Werbeverbot zu verwenden, wie es die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung vorsieht.

Demnach kann der Unionsgesetzgeber die Wahl von Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, Wettbewerbsverzerrungen in der Werbebranche oder in der Süßigkeitenbranche müssten beseitigt werden.

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