Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Zwölftes Kapitel

Frau La­nin hat­te sich zur Ruhe be­ge­ben. Das Ge­sicht, von der großen wei­ßen Schlaf­hau­be um­rahmt, ver­zog sich sor­gen­voll, denn die rech­te Stel­lung für je­des der mäch­ti­gen Glie­der zu fin­den, kos­te­te Frau La­nin all­abend­lich Mühe und Nach­den­ken.

Auch Fräu­lein Sal­ly war schon im Nacht­klei­de, trug ein licht­blau­es Ka­mi­sol, und ihre Lo­cken ver­ei­nig­ten sich in zwei großen Knol­len zu bei­den Sei­ten der Stirn; sin­nend sto­cher­te sie mit ih­rer Haar­na­del an der Ker­ze her­um und er­zähl­te:

»Gut! Sie stan­den also dort an der Türe der Tröd­ler­bu­de, mir ge­gen­über. Ich konn­te sie gut be­ob­ach­ten, denn an­fangs schob ich den Vor­hang ein we­nig zu­rück, spä­ter mach­te ich mit ei­ner Steck­na­del ein klei­nes Loch in den Vor­hang.«

»Ein Loch in den Vor­hang?« fuhr Frau La­nin auf.

»Mein Gott, ein ganz klei­nes Loch! Wer sieht das!« mein­te Fräu­lein Sal­ly un­ge­dul­dig. »In sol­chen Au­gen­bli­cken kön­nen alte Vor­hän­ge nicht ver­schont wer­den. An­fangs spra­chen sie mit­ein­an­der. Sie lach­ten recht wi­der­wär­tig; ver­stehst du, so wi­der­wär­tig frech – er kehr­te mir den Rücken zu…«

»Mehr hast du nicht ge­se­hen?« frag­te Frau La­nin ent­täuscht.

»So war­te doch, wenn du dich be­stän­dig rührst, kann ich nicht er­zäh­len.« Dann fuhr sie fort: »Sie lach­ten also wi­der­wär­tig frech und spra­chen mit­ein­an­der«, nahm Fräu­lein Sal­ly ih­ren Be­richt wie­der auf und bohr­te ihre Haar­na­del tief in die Ker­ze.

»Konn­test du et­was ver­ste­hen?«

»Gott sei Dank nicht! Ich sah, wie sie sich plötz­lich in die Ecke drück­ten und – du ver­stehst? Sie na­tür­lich mach­te den An­fang.«

»Was denn?«

»Nun – du ver­stehst –; ich mag es nicht sa­gen.«

»Gro­ßer Gott! Was denn? Sag es nur.«

»Ver­stehst du denn nicht? Sie, nun, sie…« Fräu­lein Sal­ly küss­te ihre ei­ge­ne Hand: »Ja, das sah ich!«

»Sie küss­ten sich also?«

»Das ist es, da du es ge­sagt ha­ben willst; sie küss­ten sich –« Or­dent­lich zi­schend stieß Fräu­lein Sal­ly die­ses Wort her­vor.

»O Gott, o Gott!« jam­mer­te Frau La­nin.

»Für Kla­gen ist es zu spät«, schalt Fräu­lein Sal­ly. »Wer trägt die Schuld? Wer hat die Per­son im­mer ein­ge­la­den? Wenn der Papa und du es wol­len, ich kann nicht nein sa­gen. Ich weiß ja, Gott sei Dank, von all die­sen häss­li­chen Sa­chen nichts. Jetzt aber, da ich er­kannt habe, mit welch ei­ner Per­son ihr mich um­ge­hen lasst, jetzt fühlt sich mei­ne Mäd­chen­wür­de ver­letzt. Was ihn be­trifft, so hät­test du oder der Papa ihn wohl vor den Fall­stri­cken die­ser Per­son war­nen kön­nen – den Fall­stri­cken – ja«; Fräu­lein Sal­ly fand Ge­fal­len an die­sem Wort und wie­der­hol­te es meh­re­re Male – denn Fall­stri­cke wa­ren es. Sie hat­te die­se Fall­stri­cke dun­kel ge­ahnt; aber was wuss­te sie denn von Fall­stri­cken!

»Bes­te Sal­ly«, wand­te Frau La­nin ein, »ich habe selbst ja von al­le­dem nichts ge­wusst.«

»Du hät­test es aber wis­sen sol­len«, rief das em­pör­te Mäd­chen. »Konn­test du ihm nicht An­deu­tun­gen ma­chen, dass… nun, mein Gott! Du weißt es ja bes­ser als ich. Ganz ver­dam­men kann ich ihn nicht; er ist leicht­sin­nig, aber nicht schlecht. Weil ihr ihm gar kei­ne An­deu­tun­gen ge­macht habt, so hielt er sei­ne… sei­ne Ach­tung für mich für aus­sichts­los; denn Ach­tung hegt er we­nigs­tens für mich. Ich bin an­fangs na­tür­lich zu­rück­hal­tend ge­gen ihn ge­we­sen; zu­wei­len fast streng. Ja, aber das ist so mein keu­sches We­sen. Ich bin keusch durch und durch. Ein­mal griff er mit mir zu­gleich in den Brot­korb und streif­te mei­nen Fin­ger; du ver­stehst? Da schau­te ich ihn vor­wurfs­voll und ernst an. Vi­el­leicht glaub­te er, ich wei­se ihn ab, und ge­riet – in sei­ner Verzweif­lung auf Ab­we­ge. Al­les ist mög­lich. Er kann noch ge­ret­tet wer­den; nur darf er sie nicht wie­der­se­hen.«

»Bes­tes Kind«, be­gann Frau La­nin, »warum bist du auch so ab­wei­send ge­gen ihn ge­we­sen? Du hät­test doch freund­li­cher sein kön­nen. Ich sehe nichts dar­in, dass er dei­nen Fin­ger be­rührt; dar­aus macht man einen Scherz. Du konn­test zum Bei­spiel ihn ne­ckend auf die Hand schla­gen, das macht sich ganz gut, oder so et­was.«

»Nein, nein«, rief Fräu­lein Sal­ly ent­schlos­sen. Sie hüll­te sich in das blaue Ka­mi­sol wie in einen Ve­sta­lin­nen­schlei­er, und die Knol­len auf ih­rer Stirn beb­ten. »Nein, das kann ich nicht, das ist ge­gen mein Na­tu­rell. Ich bin ernst und sin­nig an­ge­legt. So et­was tue ich nicht.«

»Schön, lie­bes Kind«, mein­te Frau La­nin ge­reizt. »Man darf nur nicht so ernst und sin­nig sein, dass man sit­zen bleibt.«

»Sit­zen bleibt?« Fräu­lein Sal­ly ward feu­er­rot. »Gut – du be­lei­digst mich? Ach, sehr müt­ter­lich, sehr christ­lich! Du nimmst den Men­schen ins Haus, da­mit ich mich an ihn ge­wöh­ne; du machst mir An­deu­tun­gen und Hoff­nun­gen, und läuft er end­lich ir­gend­ei­ner Per­son nach, dann be­lei­digst du mich noch. Sehr gut, dass ich das weiß. Jetzt erst füh­le ich es, dass ich ganz al­lein auf mich selbst an­ge­wie­sen bin, wie eine Wai­se.«

Tra­gisch strich sie sich die Knol­len aus der Stirn und woll­te stolz das Zim­mer ver­las­sen, ihre Mut­ter hielt sie je­doch mit schmel­zen­der Stim­me zu­rück. »War­te, Kind, so schlimm war’s ja nicht ge­meint. Mor­gen spre­chen wir mehr hier­über. Wir be­lau­schen sie, weißt du. Vor al­lem aber ver­bie­te ich der Rosa das Haus.«

»Nen­ne sie nicht Rosa«, be­fahl Fräu­lein Sal­ly.

»Sie heißt doch so.«

»Nein, für mich gibt es kei­ne Rosa mehr, für mich ist sie nur noch eine – Per­son.«

»Ah so –«

»Ja. Gute Nacht – ich muss al­lein sein. Wahr­schein­lich wer­de ich wei­nen.«

Fräu­lein Sal­ly ver­ließ das Zim­mer.

Sehr wahr­schein­lich ist es, dass Fräu­lein Sal­ly noch in ih­rem Zim­mer ge­weint hat, denn sie war am fol­gen­den Mor­gen nicht im­stan­de aus­zu­ge­hen. Sie saß hin­ter ge­schlos­se­nen Vor­hän­gen und zank­te mit dem klei­nen Dienst­mäd­chen, weil es die ar­men Ner­ven sei­ner Her­rin mit sei­nem lau­ten We­sen auf die Fol­ter spann­te.

Zu Mit­tag er­schi­en Fräu­lein Sal­ly im blau­en Ka­mi­sol und mit Haar­knol­len, und auf Am­bro­si­us’ lie­bens­wür­di­ge Fra­ge, was ihr feh­le, er­wi­der­te sie ein »Nichts«, das eben­so­gut be­deu­ten konn­te: Ich habe die Pest.

So­fort nach dem Mit­ta­ges­sen eil­te Fräu­lein Sal­ly, den Zahn­sto­cher noch zwi­schen den Lip­pen, in das Wohn­zim­mer, zog die Vor­hän­ge zu­recht, ver­grö­ßer­te das ges­tern ge­mach­te Loch, rück­te zwei Ses­sel her­an und war­te­te. An die Fens­ter­bank ge­lehnt, biss sie an ih­rem Zahn­sto­cher her­um, schüt­tel­te die Haar­knol­len und schau­te vor sich nie­der. Die Auf­re­gung, die sie bis­her be­seelt hat­te, schwand in der hei­ßen Stil­le die­ses Ge­ma­ches. Die ehr­wür­dig so­li­de Welt der Fir­ma La­nin, über der jetzt eine Wol­ke von Son­nen­stäub­chen und der Duft der Mit­tags­sup­pe lag, mach­te Fräu­lein Sal­ly trau­rig. An die Stel­le der Ver­ach­tung für die fre­che Per­son, die sich am Tröd­ler­hau­se von Am­bro­si­us küs­sen ließ, trat der Neid. Gern hät­te Fräu­lein Sal­ly auch eine heim­li­che Lie­be ge­habt, um sie in ei­nem son­ni­gen Win­kel zu ver­ber­gen. Ihr Herz ward sehr schwer bei dem Ge­dan­ken an die be­lausch­te Lie­bes­sze­ne. Es muss­te gut­tun, wenn er einen so um­fass­te, wenn er…

»Geht es schon an?« frag­te Frau La­nin und schurr­te her­bei.

»Nein«, er­wi­der­te Fräu­lein Sal­ly kurz und wand­te sich ab, denn sie fühl­te, dass ihre Au­gen vol­ler Trä­nen stan­den.

»So!« mein­te Frau La­nin und gähn­te.

Die­ses Gäh­nen em­pör­te Fräu­lein Sal­ly; sie be­zwang sich je­doch und sag­te nur bit­ter: »Ja – so –«

Mut­ter und Toch­ter sa­ßen nun ein­an­der ge­gen­über und schau­ten die Ara­bes­ken des Vor­han­ges an. Zu­wei­len er­hob sich Fräu­lein Sal­ly, späh­te durch das Guck­loch auf die Stra­ße hin­aus und mel­de­te: »Nichts.«

»Wo blei­ben sie nur?« seufz­te Frau La­nin schläf­rig.

End­lich, als Fräu­lein Sal­ly wie­der ihr Auge an das Löch­lein brach­te, blieb sie dar­an kle­ben.

»Was gibt es?« forsch­te Frau La­nin. Ihre Toch­ter schwieg. »Siehst du et­was?« Fräu­lein Sal­ly ant­wor­te­te nicht. »Geh, sag, sind sie da?« rief Frau La­nin und er­hob sich. Sie preß­te ihre schlaf­fe, wei­che Wan­ge an die hei­ße Wan­ge ih­rer Toch­ter, um zu dem Guck­loch zu ge­lan­gen; die hei­ße Wan­ge hielt je­doch stand, und die bei­den fest an­ein­an­der­ge­drück­ten Ge­sich­ter ver­zo­gen sich selt­sam, ein je­des aus Är­ger über das an­de­re. »Sag, sind sie da oder nicht?« be­fahl Frau La­nin jetzt streng.

»Ja doch!« er­wi­der­te Fräu­lein Sal­ly un­ge­dul­dig.

»So lass es mich se­hen!«

»War­te.«

»Du hast lan­ge ge­nug hin­aus­ge­schaut.«

Ver­ge­bens! Un­ent­schlos­sen und un­glück­lich blick­te Frau La­nin um sich. Was soll­te sie tun? Wie soll­te sie den Starr­sinn ih­rer Toch­ter bre­chen? Die Zeit ver­strich, wäh­rend sich drau­ßen die in­ter­essan­tes­ten Din­ge ab­spiel­ten. »Sal­ly­chen«, be­gann sie wie­der – im erns­ten Ton der Er­mah­nung, »ver­lass das Fens­ter, ich wün­sche es. Du siehst Din­ge mit an, die sich für ein jun­ges Mäd­chen nicht schi­cken. Bis­her habe ich dich sorg­sam be­hü­tet, habe al­les Böse von dir fer­ne ge­hal­ten. Ich habe es so­gar ver­bo­ten, dass du dich mit Hühner­zucht ab­gibst, du weißt, der Papa war auch da­ge­gen. Und nun so was! Sal­ly – Kind – höre.« Das Kind rühr­te sich nicht. »Sal­ly«, fuhr Frau La­nin in in­brüns­ti­gem Ge­bet­ston fort, »ge­hor­che dei­ner Mut­ter. Ich muss für dei­ne See­le dort oben ver­ant­wor­ten. Sal­ly! Be­den­ke, dass ein hö­he­rer Rich­ter auf dich her­ab­sieht. Den­ke dar­an, was Ra­ser vo­ri­gen Sonn­tag in der Kir­che sag­te.«

 

Fräu­lein Sal­ly wur­de un­ru­hig und drück­te ih­ren Kopf fes­ter ge­gen den Vor­hang.

»So sage we­nigs­tens, was du siehst«, flüs­ter­te Frau La­nin wei­ner­lich.

»Still! Sie küs­sen sich«, be­rich­te­te Sal­ly.

»Wo?«

»Er nimmt ihre Hand.«

»Was noch?«

»Vor­läu­fig nur die Hand.«

»So geht es nicht«, mur­mel­te Frau La­nin, trat ei­ni­ge Schrit­te zu­rück und rann­te mit der gan­zen Wucht ih­res Kör­pers ge­gen ihre Toch­ter an. Die­se fiel auf einen Ses­sel. »Es ist em­pö­rend«, rief sie mit blei­chen Lip­pen und füg­te höh­nisch hin­zu, das sehe der hö­he­re Rich­ter auch. Frau La­nin leg­te ihr Ge­sicht in vie­le di­cke Fal­ten, schau­te auf die Stra­ße hin­aus und hör­te nicht auf ihr zor­ni­ges Töch­ter­chen. Plötz­lich leg­te sich eine schwe­re Hand auf Frau Lan­ins Rücken, eine zwei­te schob sie sach­te bei­sei­te, und eine wür­di­ge lei­se Stim­me frag­te: »Was gibt es?« Herr La­nin war auf wei­chen Haus­schu­hen her­an­ge­schli­chen und nahm ru­hig von dem Guck­loch Be­sitz. Er ließ ein knur­ren­des »Oh!« hö­ren, dann schwieg er, stand mit ge­krümm­tem Rücken da, die Hän­de auf die Fens­ter­bank ge­stützt, und späh­te hin­aus. Mit An­ti­pa­thie schau­ten Mut­ter und Toch­ter auf den brei­ten Rücken des Haus­herrn. »Der geht ge­wiss nicht fort!« mein­te Frau La­nin.

»Es ist dei­ne Schuld, du warst zu laut«, er­wi­der­te Fräu­lein Sal­ly kühl und lach­te bit­ter, doch, schnell ge­fasst, be­schloss sie, im an­de­ren Vor­hang ein Loch für sich – für sich ganz al­lein zu ma­chen.

»Das kann ich auch tun«, sag­te Frau La­nin, und bei­de eil­ten an das an­de­re Fens­ter.

Ein je­der hat­te jetzt sein Guck­loch, und es herrsch­te Frie­den in der Fa­mi­lie La­nin. Re­gungs­los kleb­ten die drei Pro­fi­le an den Vor­hän­gen, und ein je­des hat­te ein fest zu­ge­drück­tes Auge und einen schief ver­zo­ge­nen Mund.

»Das ist zu stark!« stöhn­te Fräu­lein Sal­ly plötz­lich auf und eil­te zur Türe. Va­ter und Mut­ter blick­ten ver­wun­dert auf.

»Was will sie? Sie ist toll«, mein­te Herr La­nin.

Aber Fräu­lein Sal­ly wuss­te wohl, was sie woll­te. Sie riss die Hau­stü­re auf, steck­te ih­ren Kopf hin­aus, sand­te ein schril­les, ho­hes La­chen auf die Stra­ße hin­ab und ver­schwand wie­der. Das er­leich­ter­te ein we­nig ihr be­drück­tes Jung­frau­en­herz.

Fräu­lein Sal­lys Ge­läch­ter schreck­te die Lie­ben­den aus ei­ner en­gen Umar­mung auf. »War das nicht Sal­ly?« frag­te Rosa. »Ja­wohl, sie war es«, be­stä­tig­te Am­bro­si­us. Sie schau­ten sich an und be­gan­nen zu la­chen: »Sal­ly! Mein Gott! Sal­ly!« Das La­chen woll­te kein Ende neh­men. Rosa muss­te sich an Am­bro­si­us leh­nen, weil das un­bän­di­ge Ge­läch­ter sie al­ler Kraft be­raub­te. »Dort hin­ter dem Vor­hang hat sie ge­ses­sen. Gott, wie mag sie ge­schielt ha­ben.« End­lich dräng­te sich je­doch die Fra­ge auf, was soll­te ge­sche­hen? Rosa ward be­sorgt; Am­bro­si­us aber mach­te sich aus al­le­dem nichts. »Wir ge­hen ins Haus. Die tol­le Sal­ly soll uns nicht stö­ren; die ge­wiss nicht!« Er war ent­schlos­sen, sich die­se Lie­bes­stun­de nicht neh­men zu las­sen, das wuss­te er!

Sie gin­gen durch den Hof in die Tröd­ler­woh­nung hin­ein, Ida saß auf der Fens­ter­bank und sah die Ein­tre­ten­den so ru­hig an, als hät­te sie sie er­war­tet. »Ida, wir kom­men dich be­su­chen«, rief Am­bro­si­us gut­ge­launt.

»Müs­sen die Vor­hän­ge vor­ge­zo­gen wer­den?« frag­te Ida in gleich­gül­ti­gem Ge­schäftston.

»Ge­wiss«, er­wi­der­te Am­bro­si­us. »Es ist Ge­fahr im An­zu­ge.«

Das Zim­mer war äu­ßerst klein und fins­ter. In ei­ner Ecke stand ein ge­räu­mi­ges Bett, halb von ei­ner gel­ben Gar­di­ne ver­hüllt; da­ne­ben ein Kas­ten, an des­sen Ecken wel­ke Un­ter­rö­cke hin­gen. Auf ei­nem dünn­bei­ni­gen Tisch­chen am Fens­ter war al­ler­hand Gerät zur Schau ge­stellt, sil­ber­ne Kan­nen, zer­bro­che­ne Tel­ler, gold­durch­wirk­te Fet­zen. Da­vor auf ei­nem ab­ge­rie­be­nen ro­ten Samtses­sel saß die alte Jü­din und schlum­mer­te – eine große, farb­lo­se Mas­se. Wo die schmut­zi­gen Fet­zen ih­rer Klei­dung auf­hör­ten und wo der Kör­per be­gann, war nicht zu un­ter­schei­den; al­les schi­en gleich schlaff und von gleich gelb­grau­er Far­be. Nur zu­wei­len blitz­ten un­ter dem Tuch düs­te­re Fun­ken auf – das wa­ren dann die Au­gen. Frau Wulf nahm von ih­ren Gäs­ten kei­ne No­tiz, son­dern schlum­mer­te wei­ter. Ida stäub­te mit ih­rem Klei­de zwei Stüh­le ab, stell­te sie mür­risch vor Am­bro­si­us hin, zog die Vor­hän­ge vor das Fens­ter und setz­te sich schwei­gend auf das Bett.

»Hm – sehr ro­man­tisch«, sag­te Am­bro­si­us. Den­noch sa­ßen sie ein we­nig be­fan­gen mit­ten im Zim­mer. Die fröh­li­che Lau­ne war fort, und in bei­den reg­te sich die Sor­ge. »Ich soll­te viel­leicht heim­ge­hen«, be­merk­te Rosa klein­laut.

»Heim­ge­hen? Jetzt?« rief Am­bro­si­us ent­rüs­tet aus. Ro­sas nie­der­ge­schla­ge­ner Ton, ihr me­lan­cho­lisch mut­lo­ses Ge­sicht verd­ar­ben vollends sei­ne Lau­ne, und nichts ver­zieh er schwe­rer, als wenn man ihn ver­stimm­te und in sei­nem Her­zen den Welt­schmerz weck­te, das heißt den Ge­dan­ken an ge­wöhn­li­che Werk­ta­ge, an sei­nen On­kel, an sei­ne Pf­licht im Ge­schäft. Gut! Rosa soll­te ge­hen; die Über­zeu­gung aber konn­te sie mit­neh­men, dass sie sei­nen Plä­nen und An­schau­un­gen nicht ge­wach­sen war. Hät­te er ge­wusst, dass Rosa sich von ei­ner so al­ber­nen Per­son wie Sal­ly ein­schüch­tern ließ, er wäre ihr aus dem Wege ge­gan­gen. – Er er­hob sich, mach­te mit den Ar­men wei­te Be­we­gun­gen; sei­ne Stim­me nahm einen an­ge­neh­men Ba­ri­ton­klang an, und sei­ne Aus­drücke wa­ren ge­wählt und voll­tö­nend. Er woll­te sich über sei­ne Miss­s­tim­mung hin­weg­re­den.

»Nein! Ich hät­te dein ru­hi­ges – ich möch­te sa­gen – fried­lich-un­schul­di­ges Le­ben nicht ge­stört, hät­te ich ge­wusst, du seist nicht bes­ser als die an­de­ren. Ich ken­ne mei­nen un­glück­li­chen Cha­rak­ter. Ich weiß, auf der großen Heer­stra­ße ver­mag ich nicht ein­her­zu­ge­hen. Ich kann das eben nicht. Es liegt nicht in mei­nem Na­tu­rell! Ganz glück­lich wer­de ich nie sein; und die – die ich lie­be – wird es auch nicht sein. Das ist, möch­te ich sa­gen, der Fluch, der auf uns, qua­si ab­nor­men Geis­tern, ruht, dass wir je­dem, den wir lie­ben, un­ser Ver­häng­nis mit­tei­len.« – Das Be­wusst­sein, ein ab­nor­mer Geist zu sein, ein Ver­häng­nis und einen Fluch zu ha­ben, gab Am­bro­si­us wie­der sei­ne gute Lau­ne zu­rück. Er war stets der ers­te, den sei­ne Re­den über­zeug­ten. Wäh­rend des Spre­chens wand­te er sich öf­ters an Ida, und als er die Hand auf das Herz leg­te, blick­te er die alte schlum­mern­de Jü­din an. »Da­rum eben su­che ich ein tap­fe­res Herz, das wil­lig mei­nen – hm – Fluch teilt. Bist du die­ses Herz? Sage! Bist du es?«

Rosa neig­te den Kopf. Was sie hör­te, ge­fiel ihr sehr gut, aber ant­wor­ten! Ähn­li­ches hat­te sie schon in Ro­ma­nen ge­le­sen, es war ihr je­doch nie ein­ge­fal­len, dass man auf so et­was eine Ant­wort ge­ben konn­te. Da je­doch Am­bro­si­us schwieg, sag­te sie lei­se: »O ja!« mit dem deut­li­chen Be­wusst­sein, dass ein nack­tes »O ja« auf eine so hüb­sche Fra­ge eine lä­cher­li­che Ant­wort sei. Am­bro­si­us ge­nüg­te es. Gut, war Rosa die­ses Herz, dann durf­te sie sich nicht vor Sal­ly oder sonst je­man­dem in die­sem dum­men Nes­te fürch­ten.

Der Nach­mit­tag war weit vor­ge­rückt. Über die Wän­de zo­gen blass­ro­te Lich­ter, und drau­ßen auf dem Pflas­ter klap­per­ten die Schrit­te der Abend­spa­zier­gän­ger.

Am­bro­si­us seufz­te und er­griff Ro­sas Hand. »Nein, das darfst du nicht, mich ver­las­sen darfst du nicht.«

Rosa dräng­te sich an ihn her­an. Sie fürch­te­te sich vor der Welt, die drau­ßen zu lär­men be­gann und den Ton be­kann­ter Stim­men, ei­li­ger Schrit­te her­ein­sand­te. Es tat wohl, trau­lich bei­ein­an­der zu sit­zen und sich lang­sam von der Däm­me­rung über­de­cken zu las­sen.

Am­bro­si­us sprach jetzt mit ge­dämpf­ter Stim­me, dicht auf die wir­ren blon­den Haa­re des Mäd­chens nie­der­ge­beugt. Er woll­te sie schüt­zen. Er lieb­te sie nur zu sehr. Fort, in eine große Stadt woll­ten sie flüch­ten. Dort, im Ge­drän­ge und Lärm, wür­de sich das Band zwi­schen ih­nen en­ger noch und fes­ter knüp­fen. Jour­na­list, Schrift­stel­ler woll­te er wer­den, das war, er fühl­te es wohl, sein Be­ruf.

So ging es mit halb­lau­ter Lei­den­schaft fort. Rosa hielt die Au­gen ge­schlos­sen, und je­des Wort, das sie hör­te, nahm die An­schau­lich­keit ei­nes Trau­mes an – end­lo­se Stra­ßen vol­ler Son­nen­schein, Pa­läs­te, Men­schen­ge­tüm­mel – und über­all ein ge­fei­er­tes, ge­lieb­tes blon­des Mäd­chen. Als es ganz dun­kel war, schwieg Am­bro­si­us; nur noch das Schnar­chen der Jü­din war im Ge­ma­che ver­nehm­bar.

Plötz­lich ver­lau­te­te eine schläf­ri­ge Stim­me: »Ida, bring die Lam­pe.«

Rosa fuhr auf. Ja, sie war noch im­mer im Hin­ter­stüb­chen des Tröd­lers. »Es muss spät sein«, sag­te sie be­klom­men. Eine große Angst be­mäch­tig­te sich ih­rer. Sie muss­te fort – und drau­ßen harr­te et­was Bö­ses, Feind­li­ches ih­rer.

Ida brach­te die Lam­pe, und das har­te gel­be Licht ver­brei­te­te furcht­ba­re Trau­rig­keit um sich. Idas for­schen­de Au­gen, das ver­schla­fe­ne Ge­sicht der al­ten Jü­din, das Zim­mer mit sei­nen schä­bi­gen Sa­chen – al­les war nie­der­drückend, und doch hät­te das ban­ge Mäd­chen viel dar­um ge­ge­ben, nicht aus die­ser gars­ti­gen Stu­be hin­aus zu müs­sen. Aber es muss­te ja doch sein. »Ich gehe«, sag­te sie has­tig und bot ihre sor­gen­vol­le Stirn Am­bro­si­us zum Kus­se dar, dann war sie fort.

Am­bro­si­us saß noch da. Ihm war un­be­hag­lich ge­nug ums Herz; hiel­te ihn nicht die Scham ab, er hät­te, wie ein Kind, aus üb­ler Lau­ne ge­weint. Hin­aus soll­te er? Lan­ins ent­ge­gen­tre­ten? Das war zu fa­tal. Er ging nicht, er blieb sit­zen.

Dreizehntes Kapitel

Herrn Klappe­kahls Apo­the­ke war ein äu­ßerst freund­li­cher Auf­ent­halt. Geräu­mig, wei­ße Spit­zen­vor­hän­ge an den Fens­tern, ein Mo­sa­ik­fuß­bo­den, der auf blau­grau­em Grun­de wei­ße Ster­ne zeig­te, al­lent­hal­ben eine Ver­schwen­dung an Ma­ha­go­ni, die Türe, die Schrän­ke, die Fens­ter­bän­ke, die Stüh­le – al­les von Ma­ha­go­ni und spie­gelblank. Auf der grau­en Mar­mor­plat­te des La­den­ti­sches stan­den in mus­ter­haf­ter Ord­nung Waa­gen, Mör­ser, Ge­wich­te von je­der Grö­ße. Die Schrän­ke wa­ren voll schnee­wei­ßer Büch­sen und kla­rer Fla­schen, und al­les das von gol­de­nem Mor­gen­son­nen­schein über­flu­tet, von ei­nem schar­fen Ge­ruch von Me­di­ka­men­ten um­weht, zu dem ein Ro­sen­strauß auf dem Fens­ter­brett sei­nen zar­ten Duft ge­sell­te. Vor die­sem Ro­sen­strauß stand Herr Klappe­kahl, frisch ge­kämmt, ro­sig, in sei­nem lei­ne­nen Som­mer­an­zug, so rein und blank wie sei­ne Büch­sen oben in den Fä­chern. Er such­te sich ge­ra­de eine Rose aus, um sie in sein Knopf­loch zu ste­cken. In dem Blick, den er auf den klei­nen Platz vor dem Hau­se warf, lag eine Welt von Güte und Frie­den. Jetzt war der Ent­schluss ge­fasst, jetzt wuss­te er es, jetzt war ihm die gute Tat ein­ge­fal­len, mit der er die­sen schö­nen Som­mer­mor­gen be­gin­nen woll­te. Er ging zur Türe, öff­ne­te sie und rief sanft: »Zap­per!«

Zap­per kam; ein schma­ler, blei­cher Jun­ge mit her­vor­tre­ten­den blau­en Au­gen und ei­nem stark ent­wi­ckel­ten Kehl­kopf, auf dem sich ein An­satz von Bart be­fand. Das blon­de Haar hing un­ge­ord­net um den Kopf und war vol­ler Fe­dern. Auf sei­nen An­zug hat­te Zap­per gar kei­ne Sorg­falt ver­wandt. Der Rock war nicht ge­bürs­tet, die Ho­sen­trä­ger fehl­ten ganz. Bein­kleid und Wes­te schie­den sich und lie­ßen einen wei­ßen Streif se­hen, der Zap­per Ähn­lich­keit mit je­nen Pup­pen gab, die eine grau­sa­me Kin­der­hand mit­ten durch­ge­bro­chen hat und die nun hilf­los ihr In­ne­res von wei­ßer Wat­te se­hen las­sen. Zap­per ge­fiel sei­nem Prin­zi­pal auch nicht. »Zap­per«, sag­te Klappe­kahl und zog die Nase kraus. »Wie ha­ben Sie vo­ri­ge Nacht wie­der ge­lebt?« Zap­per schwieg und zog sei­ne Bein­klei­der mit bei­den Hän­den em­por. »Jun­ger Mann«, fuhr Herr Klappe­kahl fort, »se­hen Sie sich vor. Ich sage Ih­nen nur die­ses. Sie ken­nen mei­nen Grund­satz: Ein je­des zu sei­ner Zeit. Der Mensch muss in al­les Har­mo­nie zu brin­gen wis­sen. Hier, in mein Haus, passt die Un­so­li­di­tät nicht hin­ein. So­lan­ge Sie bei mir sind, müs­sen Sie sich dem Ton des Hau­ses fü­gen. Die­ser Ton, Sie wis­sen es ja, ist stren­ge Mora­li­tät. Da­für ge­ste­he ich Ih­nen das Recht zu, wenn Sie ein­mal selb­stän­dig sind und in eine grö­ße­re Stadt kom­men, sich das Le­ben von der an­de­ren Sei­te an­zu­se­hen. Har­mo­nie – das ist’s, hat schon ein – ein großer Den­ker ge­sagt.«

 

Zap­per emp­fand es wohl, wie we­nig er in Har­mo­nie stand mit der rein­li­chen Apo­the­ke und mit sei­nem schnee­wei­ßen Herrn; reu­mü­tig schlug er die Au­gen nie­der. »Fri­sie­ren Sie sich vor al­lem«, ver­setz­te der Apo­the­ker vä­ter­lich. »Dann ge­hen Sie ins Freie; das wird Sie er­mun­tern.«

»Ja – Herr Prin­zi­pal.«

»Ge­hen Sie nur; mer­ken Sie sich mei­ne Wor­te. Der Mensch muss sich erst eine mo­ra­li­sche Ba­sis er­wer­ben, ehe er dar­an­geht, die Tie­fen des Le­bens ken­nen­zu­ler­nen. Üb­ri­gens kön­nen Sie beim Tröd­ler Wulf an­sprin­gen. Die alte Frau soll krank sein. Sie hat ih­ren Hus­ten, sag­te mir der Jude. Ich habe hier einen Rest Brust­pa­stil­len; den kann sie ha­ben, wenn die Ida ihn holt. So, Sie kön­nen ge­hen. – Die Ida soll gleich kom­men«, rief er noch dem hin­aus­schlüp­fen­den Zap­per nach.

Herr Klappe­kahl war wie­der al­lein in sei­ner schö­nen Apo­the­ke. Mit klei­nen Schrit­ten ging er auf und ab, fuhr zu­wei­len mit der Hand über die Mar­mor­plat­te des La­den­ti­sches, er­griff die­sen oder je­nen Ge­gen­stand und ließ ihn in der Son­ne fun­keln, strich mit dem Fuß den grü­nen Lauf­tep­pich glatt – be­däch­tig und zart, jede Be­we­gung eine Lieb­ko­sung.

Plötz­lich ward die Türe auf­ge­sto­ßen, und Fräu­lein Er­nes­ti­ne steck­te einen Kopf mit sehr ho­her Fri­sur ins Zim­mer. »Va­ter –«

»Nun« – Herr Klappe­kahl schau­te nicht auf, son­dern rieb ein Ge­wicht an sei­nem Är­mel blank.

»Der jun­ge Mensch ist um zwei Uhr mor­gens nach Hau­se ge­kom­men; ich hab ihn ge­hört.«

»Ich weiß es, ich habe dar­über mit ihm ge­spro­chen.«

»Es ist ein Skan­dal! In sei­nem Zim­mer habe ich so­eben ein zer­bro­che­nes Glas ge­fun­den.«

»Set­ze es ihm auf die Rech­nung.«

»Es ist schon das drit­te.«

»Sei­ne Sa­che.«

»Va­ter! Was hast du über die Rosa Neu­es er­fah­ren?«

»Nichts.«

»Ach so! Ich dach­te mir’s.«

Bums – Fräu­lein Er­nes­ti­ne warf die Türe ins Schloss und ver­schwand. Der Apo­the­ker rück­te einen Stuhl in den Son­nen­schein, setz­te sich und gab sich dem stil­len Ver­gnü­gen hin, die Son­nen­strah­len bald auf dem rech­ten, bald auf dem lin­ken Stie­fel spie­len zu las­sen. End­lich gab die Tür­glo­cke einen hel­len Ton von sich, und Ida Wulf er­schi­en.

»Du bist’s, Ida? Komm nä­her, mein Kind«, sag­te Herr Klappe­kahl und lä­chel­te er­mu­ti­gend.

»Der Herr Zap­per«, be­rich­te­te Ida mit lau­ter Stim­me, »schickt mich her. Der Herr Apo­the­ker, sagt er, wol­len et­was für die Mut­ter ge­ben.«

»Ja, mein Kind! Hier nimm«, Herr Klappe­kahl hielt dem Mäd­chen eine klei­ne blaue Pa­pier­tü­te hin, »ge­gen den Hus­ten ist das.«

»Ich dan­ke schön, Herr Apo­the­ker«, ver­setz­te Ida und wog die Tüte in der fla­chen Hand. »Ich werd’s der Mut­ter sa­gen.«

»Tu das, mein Kind.« Herr Klappe­kahl setz­te sich wie­der be­quem zu­recht und fuhr fort, sei­ne Stie­fel zu son­nen. »Nichts Neu­es, Ida?« Das Mäd­chen stand breit­bei­nig da und ver­such­te die Na­men auf den Büch­sen zu ent­zif­fern.

»Bei uns? Nein, nichts Neu­es, Herr Apo­the­ker.«

»So – so! Sonst al­les gut? Kommt der jun­ge Herr von Tel­le­r­at noch oft zu euch?«

»Der, ja, zum Va­ter.«

»Er schenkt dir wohl zu­wei­len et­was?«

Hei­ter blin­zel­te Klappe­kahl zum Ju­den­mäd­chen hin­über. Ida aber blieb ernst. »Mir?« sag­te sie. »Nein! Fuß­trit­te gibt er mir.«

»Wa­rum das?«

»Weiß ich’s?«

Herr Klappe­kahl ward un­ru­hig. »Fuß­trit­te also – hm –« wie­der­hol­te er; dann rief er plötz­lich: »Da fällt mir et­was ein! Was war denn ges­tern bei euch los? – Die Rosa Herz… nicht?« Ida nick­te. »Was woll­te sie denn bei euch?«

»Ja, sie war da«, be­stä­tig­te Ida.

»Gut, er­zäh­le!«

Ida dach­te nach. »Der Schus­ter­bub Pe­ter«, be­gann sie lang­sam, »hat sich die Hand zer­schnit­ten. Ich woll­te den Herrn Apo­the­ker um ein Stück von dem gu­ten Pflas­ter für den Pe­ter bit­ten.«

»Ge­wiss, ge­wiss.« Herr Klappe­kahl lä­chel­te, aber nicht mehr so hei­ter wie vor­hin. Wäh­rend er das Pflas­ter zu­recht­schnitt, be­rich­te­te Ida mit ein­tö­ni­ger Stim­me und wieg­te sich auf ih­ren schief­ge­tre­te­nen Ab­sät­zen hin und her.

»Was sie ge­tan hat? Der jun­ge Herr hat vor der Tür auf sie ge­war­tet – sie ist ge­kom­men – dann hat er sie um die Mit­te ge­nom­men, und sie ha­ben mit­ein­an­der ge­spro­chen. Spä­ter sind sie zu uns ins Zim­mer ge­kom­men.« Herr Klappe­kahl hielt im Schnei­den inne und hör­te zu. »Die Vor­hän­ge habe ich zu­ge­zo­gen. Die Mut­ter und ich blie­ben im Zim­mer.« Herr Klappe­kahl schnitt wei­ter. »Ge­spro­chen ha­ben sie, aber ganz lei­se. Jetzt ist das Pflas­ter groß ge­nug, Herr Apo­the­ker.«

»Gut, gut, Ida! Hier hast du es. Sei recht brav. Be­hü­te dich Gott!«

»Dan­ke, Herr Apo­the­ker.« Mit die­sen Wor­ten schob sich Ida zur Tür hin­aus.

Nun ward Herr Klappe­kahl un­ge­dul­dig, und als Zap­per ins Zim­mer trat, rief er ihm är­ger­lich ent­ge­gen: »Wo blei­ben Sie? Sie wis­sen doch, dass ich in den Ma­gis­trat muss. Ich kann die Stadt­an­ge­le­gen­hei­ten nicht ver­säu­men, weil Sie ih­ren Kat­zen­jam­mer spa­zie­ren­füh­ren wol­len.« Ge­läu­fig fort­schel­tend such­te er sei­nen Spa­zier­stock aus der Ecke her­vor, nahm sei­nen Stroh­hut vom Na­gel, stell­te sich vor den Spie­gel, er be­griff wirk­lich nicht, wie ein jun­ger Mensch so we­nig Mora­li­tät ha­ben konn­te! Den Stroh­hut rück­te er keck auf die lin­ke Sei­te, schlug mit dem Stock auf den La­den­tisch, er hoff­te, Zap­per wür­de in sei­ner Ab­we­sen­heit nicht ein­schla­fen. Dann warf er noch einen Blick in den Spie­gel und ver­ließ das Ge­mach.

Bei Gott, die­ser lie­der­li­che Zap­per war schuld dar­an, dass Herr Klappe­kahl die Sit­zung ver­säum­te. Es war schon zwölf Uhr vor­bei, und als der Apo­the­ker auf den Markt­platz ge­lang­te, stan­den die Her­ren vom Ma­gis­tra­te schon alle auf der Rat­haustrep­pe, im Be­griff heim­zu­ge­hen. Vor­dem sie sich trenn­ten, un­ter­hiel­ten sie sich noch einen Au­gen­blick. Der klei­ne Kauf­mann Pal­tow mit dem schlau­en, glat­tra­sier­ten Ge­sicht und der mäch­ti­gen Nase zün­de­te sich ge­ra­de eine Zi­gar­re an, wieg­te sich auf sei­nen krum­men Bei­nen hin und her und hör­te eine Ge­schich­te an, die der Se­kre­tär, Herr von Fei­er­gro­schen, er­zähl­te – ein sehr adret­ter jun­ger Mann mit ei­nem rot­gol­de­nen Ba­cken­bart, ei­nem gol­de­nen Knei­fer auf der Nase und Lackstie­feln an den Fü­ßen. Da war ja auch La­nin! Er ver­ab­schie­de­te sich ge­ra­de von dem di­cken Bäcker­meis­ter Vogt und dem Ad­vo­ka­ten Gru­pe.

»Die Ehre, La­nin!« rief Klappe­kahl. »Die Ehre – die Ehre«, er­wi­der­te La­nin und lüf­te­te sei­nen Hut. Klappe­kahl fand es na­tür­lich, dass er nicht ste­hen­blieb, um zu plau­dern. Wenn man sol­che Ge­schich­ten im Hau­se hat!

Auf der Rat­haustrep­pe ward der Apo­the­ker mit lau­ten Ru­fen emp­fan­gen. »Da kommt un­ser pünkt­li­cher Stadt­va­ter!« mein­te Herr von Fei­er­gro­schen, und Pal­tow fand, dass Klappe­kahl heu­te zu lan­ge Toi­let­te ge­macht habe.

»Es ist nicht mei­ne Schuld«, ent­schul­dig­te sich Klappe­kahl. »Die­ser un­glück­li­che Zap­per macht mir viel Sor­ge. Wenn man solch einen jun­gen Men­schen im Ge­schäft hat, geht nichts vor­wärts.« Dann nahm er den Se­kre­tär bei­sei­te. »Wie sah denn La­nin heu­te aus?«