Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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»Ich weiß, ich weiß«, mein­te die Ge­ne­ra­lin. »Du musst im­mer et­was ha­ben, das dich quält, sonst ist dir nicht wohl. Schon als klei­nes Mäd­chen, wenn al­les sich auf einen Spa­zier­gang freu­te, sag­test du: was hilft es, es wer­den doch Stein­chen in die Schu­he kom­men. Un­se­re Mäd­chen! Die ha­ben ge­nug Dis­zi­plin im Lei­be. Sag’ ih­nen, da ist eine Frau Grill, die nicht ge­kannt wird, und ich sehe es, wie Lolo und Nini die Lip­pen zu­sam­men­knei­fen und ge­ra­de vor sich hin­se­hen, wenn sie an Ma­da­me Grill vor­über­ge­hen.«

»Ja und dann«, be­gann Frau von Butt­lär wie­der lei­se, »of­fen ge­stan­den, es ist auch we­gen Rolf. Die Per­son ist sehr hübsch, sol­che Per­so­nen sind im­mer hübsch und Rolf, du weißt …«

Die Ge­ne­ra­lin schlug mit der fla­chen Hand auf den Tisch: »Na­tür­lich, das muss­te kom­men, du bist jetzt schon auf Ma­da­me Grill ei­fer­süch­tig. Aber lie­be Bel­la, so ist dein Mann denn doch nicht. Na ja, im­mer die eine alte Ge­schich­te mit der Gou­ver­nan­te, die könn­test du auch ver­ges­sen. Ab und zu mal im Früh­jahr regt sich in ihm noch der Küras­sier­of­fi­zier, das ist eine Art Heuschnup­fen. Aber ihr Frau­en bringt durch eure Ei­fer­sucht die Män­ner erst auf un­nüt­ze Ge­dan­ken. Nein, lie­be Bel­la, wozu ist man, was man ist, wozu hat man sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung und sei­nen al­ten Na­men, wenn man sich vor je­der fort­ge­lau­fe­nen klei­nen Frau fürch­ten soll­te. Du bist die Freifrau von Butt­lär, nicht wahr, und ich bin die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow, nun also, das heißt, wir bei­de sind zwei Fes­tun­gen, zu de­nen Leu­te, die nicht zu uns ge­hö­ren, kei­nen Zu­tritt ha­ben; so, nun wol­len wir ru­hig schla­fen ge­hen, als gäbe es kei­ne Ma­da­me Grill. Wir de­kre­tie­ren ein­fach, es gibt kei­ne Ma­da­me Grill.«

Alle er­ho­ben sich, um in das Haus zu ge­hen. Fräu­lein Bork warf noch einen Blick zum Meer hin­ab und sag­te in ih­rem mit­lei­dig sin­gen­den Ton: »Die Grä­fin Dora­li­ce war einst auch ein­mal solch eine arme klei­ne Fes­tung.«

Die Ge­ne­ra­lin wand­te sich in der Tür um: »Bit­te, Mal­wi­ne, mei­ne Ver­glei­che nicht mit Ih­rer Poe­sie zu um­spin­nen, dazu ma­che ich sie nicht. Und dann noch ei­nes, ich bit­te, fer­ner Ma­da­me Grill nicht zum Ge­gen­stand Ihres Ver­tei­di­gungs­ta­len­tes zu ma­chen, Ma­da­me Grill wird nicht ver­tei­digt.«

Oben in der Gie­bel­stu­be, Lo­los und Ni­nis Schlaf­zim­mer, stan­den die bei­den Mäd­chen noch am Fens­ter und schau­ten hin­aus. Das mond­be­glänz­te Meer, das Rau­schen und We­hen da drau­ßen ließ ih­nen kei­ne Ruhe, es er­reg­te sie fast schmerz­haft, und das Paar, das dort un­ten an den blan­ken Säu­len der bre­chen­den Wel­len hin­schritt, ge­hör­te mit zu dem Er­re­gen­den und Ge­heim­nis­vol­len da drau­ßen, das den bei­den Mäd­chen ein selt­sa­mes Fie­ber in das Blut leg­te.

Un­ten auf der Bank vor der Kü­che saß Frau Klin­ke und kühl­te im See­win­de ihre hei­ßen Kö­chin­nen­hän­de. Vor ihr stand Er­nes­ti­ne, wies zum Stran­de hin­un­ter und sag­te: »Nee, Frau Klin­ke, dass die bei­den ver­hei­ra­tet sind, das glau­be ich nicht.«

*

Hans Grill und Dora­li­ce gin­gen am Mee­res­ufer ent­lang. Es ging sich gut auf dem feuch­ten, von den Wel­len glatt­ge­stri­che­nen San­de. Zu­wei­len blie­ben sie ste­hen und schau­ten auf den brei­ten, sich sacht wie­gen­den Licht­weg hin­ab, den der Mond auf das Was­ser warf.

»Nichts, heu­te nichts«, sag­te Hans und mach­te eine Hand­be­we­gung, als woll­te er das Meer bei­sei­te schie­ben. »Es ziert sich heu­te, es macht sich klein und süß, um zu ge­fal­len.«

»So lass es doch«, bat Dora­li­ce.

»Ja, ja, ich las­se es ja«, er­wi­der­te Hans un­ge­dul­dig.

Als sie wei­ter schrit­ten, hing Dora­li­ce sich ganz fest in Han­sens Arm. Sie konn­te sich ja ge­hen las­sen, die­ser Arm war stark und sie dach­te flüch­tig an einen an­de­ren zer­brech­li­chen und ze­re­mo­ni­ösen Arm, der ihr fei­er­lich ge­reicht wor­den war und auf den sich zu stüt­zen sie nie ge­wagt hat­te.

»Du bist müde?« frag­te Hans.

»Ja«, er­wi­der­te sie nach­denk­lich, »die­se lan­gen hel­len Tage, glau­be ich, ma­chen müde.«

»Viel ha­ben wir an die­sen lan­gen hel­len Ta­gen nicht ge­tan«, be­merk­te Hans.

»Ge­tan«, fuhr Dora­li­ce fort, »nichts. Im San­de ge­le­gen und auf das Meer ge­se­hen. Aber gleich­viel, ich konn­te doch al­les Mög­li­che tun, Din­ge, die ich sonst nie ge­tan, un­er­hör­te Din­ge, nichts hin­dert mich. Auf der Rei­se war das an­ders, da tut man die Din­ge, die im Rei­se­buch vor­ge­schrie­ben sind, aber hier muss das Neue kom­men und das macht viel­leicht müde.«

»Ge­wiss, ge­wiss«, be­gann Hans in sei­ner eif­ri­gen Art, »Mög­lich­kei­ten, na­tür­lich Mög­lich­kei­ten, das ist es, was der freie Mensch hat, es ist gleich, ob er et­was tut, aber nichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn, nichts bin­det ihn, was er tut und nicht tut, tut er auf ei­ge­ne Verant­wor­tung, und das kann müde ma­chen, o ja, das kann müde ma­chen«, und Hans lach­te ein lau­tes Ha! Ha! auf das Meer hin­aus, »freie Men­schen, freie Lie­be, denn das ist ja gleich, ob ein al­ter Eng­län­der aus Lon­don uns durch die Nase et­was ge­sagt hat, was wir nicht ver­stan­den ha­ben, das bin­det nicht. Also freie Men­schen, freie Lie­be, freie …« Er hielt plötz­lich inne und frag­te: »Wa­rum lachst du?«

Dora­li­ce hat­te ih­ren Kopf zu­rück­ge­bo­gen, um zu Hans hin­auf­zu­se­hen, und sie lach­te. Die schma­len, sehr ro­ten Li­ni­en der Lip­pen öff­ne­ten sich ein we­nig, lie­ßen im Mond­schein für einen Au­gen­blick das Weiß der klei­nen Zäh­ne durch­schim­mern. So hell be­schie­nen war das Ge­sicht sehr hübsch mit sei­nem kind­li­chen Oval, den graublau­en Au­gen, in die das Mond­licht ein selt­sam far­bi­ges Schil­lern leg­te, und dem hell­blon­den Haar, an dem der Wind zaus­te. Ja, Dora­li­ce muss­te im­mer la­chen, wenn Hans sei­ne großen Wor­te her­sag­te, jene Wor­te, die klan­gen, als hät­ten sie in Zei­tun­gen oder lang­wei­li­gen Bü­chern ge­stan­den, aber wenn Hans sie aus­sprach, be­ka­men sie et­was Jun­ges, et­was Le­ben­di­ges, sie klan­gen, als schmeck­ten sie ihm gut, wenn er sie so zwi­schen sei­nen ge­sun­den wei­ßen Zäh­nen her­vor­zisch­te.

»O nichts«, sag­te Dora­li­ce, »sprich nur wei­ter von dei­nen frei­en Men­schen.« Al­lein Hans war emp­find­lich ge­wor­den: »Mei­ne frei­en Men­schen, da ist doch nichts zu la­chen«, dann schwieg er.

»Du hast ja ganz recht«, mein­te Dora­li­ce, um ihn zu ver­söh­nen, »viel­leicht macht das müde, wenn nichts einen bin­det. Bei uns auf dem Lan­de dort bei der Rog­ge­nern­te ge­hen hin­ter den Mä­hern Mäd­chen her, wel­che die Ähren zu Gar­ben bin­den. Das ist sehr an­stren­gend. Um we­ni­ger zu er­mü­den, bin­den sie sich Tü­cher ganz fest um die Tail­le. So war es viel­leicht dort, und jetzt, wo mich nichts fest­bin­det …«

»Un­sinn«, un­ter­brach sie Hans, »ich sehe nicht ein, warum du dei­ne Ver­glei­che von dort her­nimmst, von dort spre­chen wir doch nicht.«

»Nein, von dort spre­chen wir nicht«, wie­der­hol­te Dora­li­ce.

Sie ka­men am Strand­wächt­er­häus­chen vor­über. Durch das ge­öff­ne­te Fens­ter scholl eine lau­te Män­ner­stim­me, und ihr ant­wor­te­te eine Frau­en­stim­me lei­den­schaft­lich und schel­tend. Un­ten am Stran­de stand der Ge­heim­rat Knos­pe­li­us, eine klei­ne, wun­der­lich ver­bo­ge­ne Ge­stalt, er stand so nah am Was­ser, dass sein un­förm­li­cher Schat­ten sich in den Wel­len ba­de­te. Als Hans und Dora­li­ce sich nä­her­ten, grüß­te er, zog sei­nen Pa­na­ma sehr tief ab, das graue Haar flat­ter­te im Win­de, er lä­chel­te und das re­gel­mä­ßi­ge, bart­lo­se Ge­sicht sah aus wie ein großes, blei­ches Kna­ben­ge­sicht. »Gu­ten Abend«, sag­te Hans. Der Ge­heim­rat lach­te laut­los in sich hin­ein und zeig­te mit ei­nem merk­wür­dig lan­gen, dün­nen Fin­ger zum Hau­se des Strand­wäch­ters hin­auf. »Die strei­ten wie­der«, be­merk­te Hans.

»Dort ist im­mer re­ger Be­trieb«, er­wi­der­te der Ge­heim­rat ge­heim­nis­voll, »die ar­bei­ten am Le­ben, bis ih­nen die Au­gen zu­fal­len. So was höre ich gern.«

»Ja, hm!« sag­te Hans, »gu­ten Abend«, und sie gin­gen wei­ter.

»Was sag­te er?« frag­te Dora­li­ce ängst­lich. Hans zuck­te die Ach­seln. »Ver­rückt wahr­schein­lich. Sol­che klei­nen Un­ge­tü­me sind ge­wöhn­lich ein we­nig ver­rückt. Kennst du ihn denn?«

Dora­li­ce dach­te nach. »Ge­wiss, ich ken­ne ihn. Ich er­in­ne­re mich, auf ei­ner großen Ge­sell­schaft war es, es war spät, alle wa­ren müde und war­te­ten auf die Wa­gen. Da saß plötz­lich die­ser klei­ne Mann ne­ben mir. Sei­ne Füße reich­ten nicht an den Fuß­bo­den, son­dern hin­gen wie bei Kin­dern frei vom Stuh­le her­un­ter. Er sah mir ganz frech in die Au­gen, wie man das sonst nicht tut, und sag­te: ›Es fällt mir auf, Frau Grä­fin, dass jetzt, wo alle schon schläf­rig sind, Ihre Au­gen noch so wach sind; die war­ten noch.‹ Ich mach­te wohl ein sehr dum­mes Ge­sicht und frag­te: ›Worauf?‹ Da lach­te er ganz so, wie er jetzt eben lach­te, und sag­te: ›Nun dar­auf, dass was ge­schieht, dass was kommt. O, die ge­ben nicht nach, die ste­hen auf ih­rem Pos­ten.‹ – Mir war das un­heim­lich, ich war froh, als in dem Au­gen­blick der Wa­gen ge­mel­det wur­de.«

»Ich weiß nicht, was du noch im­mer an al­len die­sen Erin­ne­run­gen hast, er­quick­lich sind sie nicht«, ver­setz­te Hans ver­stimmt.

»Was kann ich da­für«, ver­tei­dig­te sich Dora­li­ce, »ich habe doch noch kei­ne an­de­ren Erin­ne­run­gen, und dann, sie krie­chen ei­nem doch über­all nach. Da steht der Ge­heim­rat Knos­pe­li­us plötz­lich am Stran­de, drü­ben im Bul­len­krug zieht die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow und die Baro­nin Butt­lär ein, auf Schritt und Tritt das alte Le­ben. Weißt du, was ich möch­te? Dort drü­ben über dem Meer müss­te man eine Hän­ge­mat­te auf­hän­gen kön­nen, ge­ra­de so hoch, dass die Wel­len sie nicht er­rei­chen, aber doch so, dass, wenn ich die Hand her­ab­hän­gen las­se, ich den Wel­len in die wei­ßen Bär­te fas­sen kann, und so, siehst du, könn­ten, glau­be ich, kei­ne Erin­ne­run­gen kom­men und kei­ne Knos­pe­li­us und Pa­li­kows könn­ten ei­nem be­geg­nen.«

 

Hans blieb nach­denk­lich ste­hen: »Du«, sag­te er, »das wol­len wir ma­chen.« Er er­griff Dora­li­ce, leg­te sie auf sei­ne Arme: »Lieg«, rief er, »wie ein Kind auf den Ar­men des Pa­ten wäh­rend der Tau­fe«, und nun be­gann er lang­sam in das Meer hin­ein­zu­ge­hen. Re­gungs­los lag Dora­li­ce da und schau­te hin­auf in den Him­mel, der bleich von Mon­den­schein war. Das We­hen, das vom Mee­re kam, das Rau­schen un­ter ihr, das gol­de­ne Flie­ßen und Flim­mern rings­um­her, all das schi­en sie zu wie­gen und zu schau­keln, und dann war es ihr, als fie­le sie, fie­le sie in einen Ab­grund von Licht, das sie den­noch trug und hielt.

»So, so, wei­ter, wei­ter, jetzt sind wir ganz bei ih­nen, mit­ten un­ter ih­nen, das dum­me Land ist fort.« Dora­li­ce sprach mit ei­ner Stim­me, wie Schla­fen­de es tun, lach­te ein lei­ses, ganz hel­les La­chen wie Kin­der, die auf ei­ner Schau­kel sit­zen. Sie ließ ihre Hand her­ab­hän­gen, griff in den Schaum der Wel­len, schnalz­te mit den Fin­gern, als woll­te sie klei­ne Hun­de sprin­gen las­sen. »Wie sie zu mir her­auf­wol­len«, rief sie, »kommt, kommt, nein, das ist zu hoch.« Hans stand bis über die Knie im Was­ser und lä­chel­te, das Ge­sicht rot vor An­stren­gung. Aber all­mäh­lich wur­de er müde, es war nicht leicht, si­cher im Was­ser zu ste­hen, und lang­sam zog er sich an das Ufer zu­rück. Mit ei­nem be­frie­dig­ten: »So, das war eine Leis­tung«, setz­te er Dora­li­ce auf den Sand zu­rück. Sie schwank­te ein we­nig auf ih­ren Fü­ßen wie be­rauscht, sie leg­te die Hand auf die Au­gen, al­les um sie her schi­en noch sacht zu schwan­ken. Sie muss­te sich an Hans an­leh­nen. »Du siehst«, sag­te sie, »ich ver­tra­ge dies dum­me Land nicht mehr.«

»Das kommt noch«, mein­te er, »das Land wird uns jetzt sehr gut schme­cken. Eine war­me Stu­be und Rot­wein, ich bin nass und mich friert.« – »Ja, ge­hen wir«, sag­te Dora­li­ce klein­laut, »wir ge­hö­ren ja doch nicht zu de­nen dort. Aber wie stark du bist, dass du mich so hal­ten konn­test.«

»Nicht wahr«, er­wi­der­te Hans stolz, »und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich den­ke, das war ei­gent­lich sym­bo­lisch, mit­ten in den Wel­len, und ich hal­te dich.«

Aber Dora­li­ce sag­te müde: »Ach nein, lass es lie­ber nicht sym­bo­lisch sein.«

Hans schau­te sie ver­wun­dert an und mur­mel­te dann ein we­nig emp­find­lich: »Nun dann auch nicht.«

Um den Hof des War­de­in­schen An­we­sens stan­den die nied­ri­gen stroh­ge­deck­ten Häu­ser, der Schup­pen, der Stall, der Spei­cher, in dem jetzt die Fa­mi­lie des Fi­schers wohn­te, und das Wohn­haus, das Hans Grill ge­mie­tet hat­te. Hier schi­en die Hit­ze des Ta­ges noch ein­ge­schlos­sen zu sein, die Luft war schwer von den Gerü­chen des Strohs, der an Schnü­ren trock­nen­den Fi­sche und feuch­ter Net­ze. Man hör­te durch die klei­nen ge­öff­ne­ten Fens­ter den Atem schla­fen­der Men­schen, ir­gend­wo schlug ein Hahn auf sei­ner Stan­ge mit den Flü­geln und im Schup­pen grunz­te ein Schwein im Traum. Und hier fiel von Dora­li­ce der Rausch der Wei­te und des Lich­tes ab, ganz jäh, es schmerz­te fast kör­per­lich, und als sie durch die Tür tra­ten, die so nied­rig war, dass Hans sich tief bücken muss­te, sag­te Dora­li­ce kla­gend: »So schlüp­fen wir denn auch in un­ser Loch.« – »Ja, ja«, mein­te Hans eif­rig, »das wird gut tun.« In dem klei­nen Wohn­zim­mer brann­te eine Pe­tro­le­um­lam­pe auf dem Tisch, und es fiel Dora­li­ce auf, wie häss­lich un­rein die­ses Licht war, mit welch schläf­ri­ger All­täg­lich­keit es den weiß­ge­tünch­ten Raum füll­te. Hans war ganz ge­schäf­tig. »Köst­lich, köst­lich«, sag­te er, »setz’ du dich dort in den Korb­stuhl, ich bin gleich wie­der da.« Er ver­schwand, kam dann in wei­chen Filz­schu­hen zu­rück, ging ab und zu, hol­te Glä­ser, den Rot­wein, schenk­te die Glä­ser voll, setz­te sich end­lich Dora­li­ce ge­gen­über an den Tisch, rieb sich die Hän­de und lach­te über das gan­ze Ge­sicht. Er sah sehr jung aus, das Ge­sicht von der Luft ge­rötet und der Bart und das kurz­ge­lock­te Haar ho­nig­gelb, die brau­nen Au­gen blin­zel­ten blank vor Freund­lich­keit. »Köst­lich«, wie­der­hol­te er, »das nen­ne ich eine Le­bens­la­ge, man sitzt so bei­ein­an­der und die Lam­pe brennt, man hat sei­nen Rot­wein und dazu sein wun­der­schö­nes Weib.«

Dora­li­ce lehn­te sich in ih­ren Korb­stuhl zu­rück und schloss die Au­gen. »Ach«, sag­te sie müde, »nen­ne mich, bit­te, nicht Weib, das klingt so, ich weiß nicht, nach lo­sen blau­en Ja­cken mit wei­ßen Punk­ten und Kar­tof­fel­sup­pe.«

Hans er­rö­te­te: »Nein, nein«, sag­te er, »also nicht Weib. Weib ist ein schö­nes deut­sches Wort, aber wie du willst, bit­te.«

Sie schwie­gen bei­de eine Wei­le. Aus dem Ne­ben­zim­mer hör­te man deut­lich das Schnar­chen der al­ten Ag­nes, ei­ner fer­nen Ver­wand­ten von Hans Grill, die ihm jetzt die Wirt­schaft führ­te. Ag­nes hat­te eine selt­sa­me, kum­mer­vol­le und miss­mu­ti­ge Art des Schnar­chens. Am Tage ver­sah sie still und pünkt­lich ih­ren Dienst, aber das alte Ge­sicht, in dem die Fält­chen wie Sprün­ge in ei­nem gel­ben Lack stan­den, trug stets den Aus­druck ei­ner ge­dul­di­gen, hoch­mü­ti­gen Er­ge­ben­heit. Jetzt schi­en es Dora­li­ce, als käme mit den ver­schla­fe­nen Lau­ten alle Bit­ter­keit her­aus, wel­che die Alte ge­gen sie heg­te. Dora­li­ce press­te die schma­len zu ro­ten Lip­pen fest auf­ein­an­der, und wie sie dalag in dem dun­kelblau­en Klei­de mit dem großen wei­ßen Ma­tro­sen­kra­gen, die Stirn ganz ver­deckt von dem feucht­ge­wor­de­nen blon­den Haar, sah sie aus wie ein klei­nes Mäd­chen, das ge­schol­ten wird. Nein, auf die Dau­er war es un­er­träg­lich, dem Mur­ren dort im Ne­ben­zim­mer zu­zu­hö­ren. Al­les, al­les wur­de trau­rig, wur­de sinn­los, sie wuss­te nicht mehr, warum sie hier saß, warum … Und Hans, sie öff­ne­te die Au­gen und schau­te ihn an. Er hat­te den Kopf auf die Brust sin­ken las­sen, rauch­te aus sei­ner kur­z­en Pfei­fe und trank ab und zu in has­ti­gen klei­nen Zü­gen den Wein.

»Bist du noch böse, weil du nicht Weib sa­gen sollst?« frag­te Dora­li­ce und ver­such­te zu lä­cheln. Hans hob schnell den Kopf, er be­gann zu spre­chen, aber er muss­te ei­ni­ge Male dazu an­set­zen, denn eine Er­re­gung schnür­te ihm die Keh­le zu­sam­men. »Weib oder nicht Weib, das ist doch gleich, der Ton ist es, der Ton. Wenn du den hast, dann bist du mir plötz­lich ganz weit, ganz fremd, der streicht plötz­lich al­les aus, was wir mit­ein­an­der er­lebt ha­ben. Ich freue mich dar­auf, dass es ge­müt­lich sein wird, man wird bei­ein­an­der sit­zen, man wird la­chen, man wird glück­lich sein und dann sagst du et­was und die­ser Ton ist da und es wird so­fort kalt und fremd und pein­lich, als setz­ten wir uns drü­ben im Schloss vor den wei­ßen Ser­vi­et­ten­zelt­chen mit dem al­ten Gra­fen zum Früh­stück nie­der.«

Dora­li­ce hör­te ihm ge­spannt zu, die­se er­reg­te Stim­me, die sich über­stür­zen­den Wor­te er­wärm­ten sie. Er soll­te wei­ter spre­chen. »Wie ist die­ser Ton?« frag­te sie.

»Wie? Wie?« fuhr Hans lei­den­schaft­lich fort. »Wenn dir et­was nicht schmeckt, dann schiebst du den Tel­ler fort und sagst feind­se­lig: ›Das will ich nicht.‹ So, so ist die­ser Ton, als ob du mich und un­se­re gan­ze ge­mein­sa­me Ge­schich­te fort­schiebst. Das kannst du ja auch, es ist ja auch dein Recht, sag es doch.«

Dora­li­ce lä­chel­te jetzt ihr hüb­sches, strah­len­des Lä­cheln. Sie hob die Arme in die Höhe und reck­te sich: »Ach, Hans, das ist ja Un­sinn, ich bin ein­fach müde. Glaubst du, das strengt nicht an, so zwi­schen Him­mel und Meer zu schwe­ben?«

Hans schau­te sie er­staunt an, dann be­gann auch er zu la­chen, sein lau­tes, ein we­nig un­er­zo­ge­nes La­chen. »Also das strengt dich an und ich – glaubst du, es ist leicht, fest im Was­ser zu ste­hen und eine Frau über den Wel­len zu hal­ten, die Hän­ge­mat­te zu spie­len?«

»Du«, mein­te Dora­li­ce, »du bist ja so stark.«

Be­frie­digt lehn­te Hans sich in sei­nen Stuhl zu­rück, goss sich Wein ein, er schüt­tel­te sich vor Ge­müt­lich­keit, als sei eine Ge­fahr glück­lich vor­über­ge­gan­gen.

»Und all das kommt da­her«, er­klär­te Hans und stach do­zie­rend mit sei­ner Pfei­fe in die Luft hin­ein, »uns fehlt eine ge­wis­se Enge, eine Ge­bun­den­heit, Form, Form, Form, das ist es, das macht reiz­bar und un­si­cher. Von Unend­lich­kei­ten kann man nicht le­ben. Im­mer kann der eine nicht ste­hen und den an­de­ren zwi­schen Him­mel und Meer in den Mond­schein hin­ein­hal­ten. Also wir müs­sen un­ser Le­ben ein­tei­len, re­gel­mä­ßi­ge Be­schäf­ti­gung, Haus­halt, eine All­täg­lich­keit müs­sen wir ha­ben, der ewi­ge Fei­er­tag macht uns krank.«

»Du könn­test ja wie­der ma­len«, warf Dora­li­ce hin.

»Das wer­de ich auch«, rief Hans hit­zig, »glaubst du, ich wer­de ru­hig da­sit­zen und von dei­nem Gel­de le­ben?«

»Ach was, das dum­me Geld.«

»Gleich­viel, ich wer­de ar­bei­ten, ich weiß auch, was ich zu ma­len habe, ich stu­die­re mei­ne Mo­del­le, euch bei­de.«

»Uns bei­de?«

»Ja, dich und das Meer. Ihr bei­de müsst zu­sam­men auf ein Bild und eine Syn­the­se von dir und dem Meer, ver­stehst du?«

»Ja so«, be­merk­te Dora­li­ce, »ob du nicht ver­suchst, zu­erst das Meer zu ma­len. Du sag­test doch, dass du mich nicht ma­len kannst.«

Das är­ger­te Hans wie­der. »Ja dort, dort konn­te ich dich al­ler­dings nicht ma­len. Ich war be­rauscht von dir. Man muss doch sei­nem Mo­dell auch ei­ni­ger­ma­ßen ob­jek­tiv ge­gen­über­ste­hen.«

»Stehst du mir jetzt ob­jek­tiv ge­gen­über?« frag­te Dora­li­ce ver­wun­dert.

»Ja«, mein­te Hans, »es kommt we­nigs­tens all­mäh­lich und das ha­ben wir nö­tig, et­was Nüch­tern­heit, so eine selbst­ge­schaf­fe­ne Bür­ger­lich­keit, in die man sich fest ein­schließt. Du sprachst da vor­hin weg­wer­fend von Kar­tof­fel­sup­pe, ich möch­te sa­gen, kein Le­ben, auch das ideals­te, ist mög­lich, in dem es nicht ei­ni­ge Stun­den am Tage nach Kar­tof­fel­sup­pe riecht.« Er lach­te und sah Dora­li­ce tri­um­phie­rend an, stolz auf sei­ne Be­mer­kung.

Dora­li­ce seufz­te: »Uff, wenn man da nur at­men kann, ganz eng, fest ein­ge­sperrt und riecht nach Kar­tof­fel­sup­pe. Eine Welt, als ob Ag­nes sie ge­schaf­fen hät­te.«

»Bit­te«, sag­te Hans emp­find­lich, »wer da nicht at­men kann, darf hin­aus, wir sind freie Men­schen, dass wir uns selbst bin­den, ist un­se­re Frei­heit, aber kei­ner von uns ist ge­bun­den.«

Dora­li­ce zog die Au­gen­brau­en in die Höhe und sag­te ziem­lich schläf­rig: »Ach, las­sen wir doch die alte Frei­heit. Es ist ja ganz hübsch, wenn eine Tür im­mer of­fen steht, aber man braucht doch nicht be­stän­dig drauf hin­zu­wei­sen. Die Frei­heit wird dann fast eben­so lang­wei­lig wie das ›te­nue ma chère3 dort, du weißt.«

Hans schau­te Dora­li­ce be­stürzt an. Er woll­te et­was sa­gen, ver­schluck­te es je­doch. Er er­hob sich und be­gann im Zim­mer auf- und ab­zu­ge­hen, er ging schnell, stapf­te stark mit sei­nen Filz­schu­hen auf den Bo­den. Dora­li­ce folg­te ihm neu­gie­rig mit den Bli­cken. Jetzt war er zor­nig, jetzt wür­de er lei­den­schaft­lich los­bre­chen, sie freu­te sich dar­auf, sie lieb­te es, wenn er die Wor­te so heiß her­vor­spru­del­te und ein Ge­sicht mach­te wie ein zor­ni­ger Kna­be. Das hat­te ihr an ihm ge­fal­len dort in der Welt der be­stän­di­gen Selbst­be­herr­schung. Aber es woll­te nicht kom­men, im­mer noch ging er schnell und schwei­gend in dem en­gen Raum um­her. Plötz­lich blieb er vor Dora­li­ce ste­hen, knie­te nie­der mit bei­den Kni­en hart auf den Bo­den schla­gend und leg­te sei­nen Kopf auf Dora­li­cens Knie und so be­gann er zu spre­chen lei­se und kla­gend: »Wie kannst du das sa­gen, ich … ich … ich wei­se auf die Tür hin. Aber wenn du zu die­ser Tür hin­aus­gingst, dann wäre es aus, dann hät­te nichts mehr einen Sinn, dann hät­te ich kei­nen Sinn, dann hät­te die gan­ze Welt kei­nen Sinn.«

Dora­li­ce strich mit der Hand ihm leicht über das krau­se Haar. »Nein, nein«, sag­te sie und das klang müde und mit­lei­dig zu­gleich, »zu­sam­men, wir blei­ben zu­sam­men, wir bei­de sind ja doch mit­ein­an­der ganz al­lein.«

Hans rich­te­te sich auf, er lach­te wie­der, zu­ver­sicht­lich und tri­um­phie­rend, in­dem er Dora­li­cens Arm fass­te und ihn schüt­tel­te: »Das will ich mei­nen und ich wer­de auch da­für sor­gen, dass nie­mand an dich her­an­kommt.« Dann nahm er ihre klei­ne Ge­stalt auf sei­ne Arme, wie man ein Kind nimmt, und trug sie in das Schlaf­zim­mer hin­über.

 

1 Be­rufs­be­zeich­nung; meist Haus­ge­hil­fin <<<

2 die­ses Kind <<<

3 mei­ne Lie­be <<<