Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Viertes Kapitel

Auf die Tau­fe folg­ten böse Tage für Ernst und sei­ne Mut­ter. Die Krämp­fe wie­der­hol­ten sich. Das Kind ma­ger­te ab und be­fand sich in ei­nem be­sorg­li­chen Zu­stand der Schwä­che. Der Arzt vom Schloss ward her­bei­ge­ru­fen, denn in Ti­glau selbst wohn­te kei­ner.

»Wäre das Schloss nicht«, mein­te Frau Böhk, »wir Ti­glau­er könn­ten alle ster­ben und noch dazu ohne Got­tes­wort be­gra­ben wer­den, denn einen eig­nen Pfar­rer und Arzt ha­ben wir nicht.«

Dok­tor Bar­tau­er war ein jun­ger Mann mit kohl­schwar­zen krau­sen Haa­ren, ei­nem spit­zen schwar­zen Schnurr­bart, ro­ten Wan­gen und Au­gen wie brau­ner Samt; da­bei trug er sich nach der neues­ten Mode, und sei­ne Fin­ger sta­ken voll gol­de­ner Rin­ge. Mit Frau Böhk stand er auf Neck­fuß und nann­te sie »Ma­dam­chen«, Rosa be­han­del­te er mit süß­li­cher Höf­lich­keit: »Für einen so jun­gen Or­ga­nis­mus ist die Zu­mu­tung sol­cher Krämp­fe ein we­nig zu stark«, sag­te er, nach­dem er das Kind un­ter­sucht hat­te und, sich an­mu­tig an der Rück­leh­ne ei­nes Stuh­les hin- und her­wie­gend, Rosa das Re­sul­tat die­ser Un­ter­su­chung mit­teil­te. »O ja, viel zu stark«, wie­der­hol­te Rosa und hef­te­te ihre ge­spannt fle­hen­den Bli­cke auf den Arzt. »Ich mei­ne«, fuhr Dr. Bar­tau­er fort und lä­chel­te, wo­bei die Spit­zen sei­nes Schnurr­bar­tes zit­ter­ten: »Ich mei­ne, sol­che Krämp­fe müs­sen einen so jun­gen Or­ga­nis­mus not­wen­di­ger­wei­se arg mit­neh­men, da­her die Schwä­cheer­schei­nun­gen. Vor al­lem müss­ten die Krämp­fe be­sei­tigt wer­den. Ich habe da ei­ni­ges ver­ord­net…«

»Dann wer­den die Krämp­fe nicht mehr wie­der­kom­men?« frag­te Rosa und at­me­te tief auf.

Der Dok­tor lä­chel­te wie­der und zog sei­ne Man­schet­te un­ter dem Rock­är­mel her­vor. »Ja – das zu wis­sen«, ver­setz­te er und such­te einen Au­gen­blick nach ei­ner pas­sen­den An­re­de, dann sag­te er ent­schlos­sen: »Lie­be Dame! Das zu wis­sen, lie­be Dame, ver­mö­gen wir Ärz­te nicht; das geht über un­se­re Kunst. Wenn die Na­tur nicht will, dann sind wir ohn­mäch­tig. Üb­ri­gens schaue ich mor­gen nach. Sie selbst soll­ten sich auch scho­nen. Ich emp­feh­le mich bes­tens.« Er ver­beug­te sich und ging.

Mut­los fiel Rosa auf einen Stuhl nie­der. »Wenn die Na­tur nicht will! Wie soll ich es denn wis­sen, ob die Na­tur will? Was hilft mir die Na­tur? Er ist ja der Arzt, er muss es doch wis­sen, der dum­me, dum­me Mensch!« Sie hat­te Trä­nen in den Au­gen und mach­te ein sehr zor­ni­ges Ge­sicht. Zum Kla­gen je­doch war kei­ne Zeit; das Kind wein­te, sie muss­te zu ihm.

Rosa ließ die große Sor­ge gar nicht auf­kom­men, son­dern diente nur un­abläs­sig ih­rem Kin­de, mach­te sich stets et­was zu schaf­fen, floh je­den lee­ren Au­gen­blick. Wenn die Heb­am­me sie ein­mal über­re­de­te, sich Ruhe zu gön­nen, dann brach eine un­nenn­ba­re Furcht, ein tie­fes Mit­leid über sie her­ein, und Mit­leid, mit großer Lie­be ver­eint, ist das herz­bre­chend pein­volls­te Ge­fühl. Rosa sah wie­der den ge­quäl­ten Kör­per des Kin­des, das arme ent­stell­te Ge­sicht vor sich und fuhr be­bend auf. Kaum ver­moch­te sie sich in der Däm­me­rung der Som­mer­nacht zu­recht­zu­fin­den; dort glomm das blei­che Fünk­chen der Nacht­lam­pe, dort stand die Wie­ge, dort hör­te man des Kin­des lei­sen, schnel­len Atem, und die schwe­re Trau­rig­keit, die Ro­sas fie­ber­haf­ten Schlum­mer be­drückt hat­te, hing auch über dem Ge­mach und war Wirk­lich­keit. – Rosa muss­te sich wie­der mit ih­ren Be­schäf­ti­gun­gen be­täu­ben. Nur nicht stil­le­hal­ten, den­noch – zu­wei­len ver­sag­te ihr Kör­per ihr den Dienst. Sie wun­der­te sich über ihre Hän­de, die so zit­ter­ten, dass sie nichts zu hal­ten ver­moch­ten, über ihre Bei­ne, die nicht ste­hen woll­ten. Sie hät­te die­se un­ge­hor­sa­men Glie­der schla­gen mö­gen. –

»Heu­te scheint es bes­ser zu ge­hen«, sag­te die Heb­am­me ei­nes Abends. »Heu­te mor­gen wa­ren die Krämp­fe zwar hef­tig, jetzt aber schläft das Kind ja ganz ru­hig. Ich geh zu Bett. Tun Sie das auch. Soll­te et­was pas­sie­ren, so ru­fen Sie; Gre­the schläft ne­ben­an.«

Das Kind war rot im Ge­sicht, fühl­te sich heiß an, schi­en aber fest zu schla­fen, die Wan­ge in das Kis­sen ge­drückt, die win­zi­gen Hän­de ge­ballt und in das Bet­tuch ge­wi­ckelt.

Gut! Rosa be­schloss, sich auf ihr Bett zu le­gen, ohne zu schla­fen. Ehe sie sich je­doch des­sen ver­sah, ent­schwand ihr das Be­wusst­sein, und sie ver­fiel in einen öden Schlum­mer, aus dem sie be­täubt und ge­bro­chen auf­fuhr, als hät­te sie eine schlech­te Tat be­gan­gen.

Es moch­te ein Uhr mor­gens sein. Durch die Fens­ter­schei­ben sa­hen das küh­le Blau des nächt­li­chen Him­mels und ei­ni­ge blas­ser wer­den­de Ster­ne her­ein, am Wie­sen­ran­de däm­mer­te es weiß. Still und schwül war es im Ge­mach, die Nacht­lam­pe warf einen en­gen, trüb­gel­ben Licht­kreis um sich her­um.

Rosa, die El­len­bo­gen in die Kis­sen ge­stützt, saß auf. Es frös­tel­te sie, und schwe­re Mü­dig­keit lähm­te ihr die Glie­der. Sie dach­te nach; es war ihr, als hät­te ihr et­was Bö­ses ge­träumt, des­sen sie sich nicht mehr ent­sin­nen konn­te.

Plötz­lich drang ein lei­ser Ton zu ihr; ein Schlu­cken; es klang, als gös­se man Was­ser aus ei­ner Fla­sche mit zu en­gem Hals in ein Glas. Da war es wie­der! Von der Wie­ge kam der Ton. Has­tig sprang Rosa auf. Das Kind lag re­gungs­los da und hielt die Au­gen of­fen, so weit of­fen, wie Rosa es bei ihm bis­her nie ge­se­hen hat­te. – »Mein Gott!« stöhn­te Rosa. Sie ging zur Türe, rief nach Frau Böhk, nahm dann das Kind auf ihre Knie, als sie es an­fass­te, wand es sich je­doch hin und her. Die ro­ten Pup­pen­händ­chen fuh­ren hilf­los em­por, und in der klei­nen Brust koch­te es. Mit den Fü­ßen stemm­te sich das Kind ge­gen Ro­sas Arm, und der gan­ze Kör­per ar­bei­te­te, als woll­te er sich auf­rich­ten. Rosa beug­te sich tief auf ihr Kind nie­der und sah es an. Vor die­ser stum­men Qual wur­de sie mut­los und ge­dan­ken­los. Alle Ener­gie ih­rer Lie­be ver­ließ sie. Sie war­te­te. Von ir­gend­wo­her muss­te doch Hil­fe kom­men! »Gott, es stirbt ja!« sag­te je­mand ne­ben ihr. Sie schlug die Au­gen auf, de­ren Blau ganz dun­kel vor Ent­rüs­tung und Er­re­gung wur­de. Frau Böhk und Gre­the stan­den in der Türe: »Wer sagt es Ih­nen, dass es stirbt?« frag­te Rosa mit zit­tern­der tiefer Stim­me. »Das wird es nicht!« Wie um ihr Kind zu schüt­zen, beug­te sie sich wie­der auf das­sel­be nie­der und be­deck­te es mit ih­ren blon­den Haa­ren. »Nein! Nie­mand soll sa­gen, dass es stirbt!«

Frau Böhk zuck­te ver­le­gen die Ach­seln: »Ein Bad könn­te man ver­su­chen«, mein­te sie, »ob­gleich wohl kaum noch zu hel­fen sein wird.« Als sie aber das Kind neh­men woll­te, keuch­te die­ses und zuck­te zu­sam­men, als fürch­te es sich. »Las­sen Sie es nur!« rief Rosa hef­tig und ließ den Vor­hang ih­rer Haa­re dich­ter auf das Kind nie­der­fal­len. »Sie glau­ben ja, dass es stirbt. Ge­hen Sie, ich will es al­lein pfle­gen.« Frau Böhk wich zu­rück und blieb mit Gre­the stumm auf der Tür­schwel­le ste­hen. Rosa ach­te­te nicht dar­auf, ganz hin­ge­nom­men von dem ver­zwei­fel­ten Kampf, den der hilflo­se Kin­der­kör­per auf ih­ren Kni­en kämpf­te.

Die Hän­de des Kin­des be­weg­ten sich un­si­cher und matt, als woll­ten sie et­was fort­schie­ben, ab­weh­ren. An den Mund­win­keln war wei­ßer Schaum, und die Au­gen fleh­ten angst­voll zu Rosa em­por. Was konn­te sie tun? Das war die ent­setz­li­che Pein, die ihr das Herz ab­drück­te, dass sie ohn­mäch­tig vor der bit­tern Not ih­res Kin­des stand. Das arme klei­ne We­sen, das noch kei­nen Schmerz kann­te, wur­de ganz al­lein ei­nem dun­keln, grau­sa­men Et­was ge­gen­über­ge­stellt, mit ihm zu rin­gen. Das Klei­ne, das sich vor sei­nen ei­ge­nen Hän­den fürch­te­te, soll­te ein­sam den dun­kels­ten, un­heim­lichs­ten Weg ge­hen, und sei­ne Mut­ter muss­te mü­ßig zu­se­hen, muss­te es dem Tode über­las­sen. Dazu misch­te sich in das über­mäch­ti­ge Er­bar­men der mensch­li­che egois­ti­sche Ab­scheu vor dem Tode. Rosa hat­te es nie ge­se­hen, wie ein Mensch stirbt, und jetzt mach­te sich eine schmerz­li­che Neu­gier gel­tend. Rosa ver­folg­te ge­nau jede Be­we­gung des Kin­des, als lese sie in den krampf­haft zu­cken­den Zü­gen et­was von dem Ge­heim­nis des To­des, das sie mit schau­dern­dem Er­stau­nen er­füll­te.

Sehr stil­le war es im Zim­mer ge­wor­den; nur ein ganz lei­ses Geräusch war hör­bar, wie das Pras­seln ei­ner Nacht­lam­pe, die ver­lö­schen will. Das war das Rö­cheln des Kin­des. End­lich ver­stumm­te auch die­ses. Das Kind be­weg­te sei­nen Kopf hin und her, wie tau­melnd, zuck­te mit den Hän­den, streck­te sich und lag be­we­gungs­los da.

Frau Böhk wink­te Gre­the mit den Wim­pern zu, und bei­de ent­fern­ten sich auf den Fuß­spit­zen. Rosa blick­te un­ver­wandt den Kör­per an, der jetzt steif in ih­ren Ar­men lag. Was sich eben voll­zo­gen hat­te, dach­te sie nicht klar; nur die eine Emp­fin­dung war in ihr wach: »Das Kind ist nicht mehr da, es ist fort – ist ir­gend­wo ver­las­sen und al­lein im Fins­tern, und ich kann nicht zu ihm.« Die Span­nung ih­res Geis­tes ließ nach, ihre Glie­der wur­den lose und weich. Es war ihr, als sän­ke sie un­auf­halt­sam in einen Ab­grund nie­der; sie durf­te nicht nach­ge­ben – sie ver­ließ et­was – sie gab et­was auf; und doch – wie konn­te sie wi­der­ste­hen? Es tat ihr wohl. Im­mer tiefer – fin­st­rer – stil­ler. Ihr to­tes Kind in den Ar­men hal­tend, den Kopf an die Wand ge­lehnt, ver­sank Rosa in einen ohn­mäch­ti­gen Schlum­mer.

Fünftes Kapitel

Frau Böhk be­ab­sich­tig­te im Wohn­zim­mer einen klei­nen Ka­ta­falk auf­zu­schla­gen, die Lei­che des Kin­des auf dem­sel­ben in Blu­men zu bet­ten und mit vier Ker­zen zu be­leuch­ten. Herr Böhk hat­te für die Ker­zen hüb­sche Rin­ge aus Sil­ber­pa­pier ver­fer­tigt. »So kön­nen wir dort sit­zen; für das lie­be Klei­ne be­ten. Die Leb wird auch kom­men. Die Nacht vor dem Lei­chen­be­gäng­nis wa­chen wir na­tür­lich. Grog wer­de ich schon be­sor­gen; das ge­hört sich. Spä­ter be­rech­nen wir uns, dass ich nicht zu Scha­den kom­men wer­de, das weiß ich.«

 

Auf die­se Vor­schlä­ge ant­wor­te­te Rosa in ih­rer mü­den, ab­we­sen­den Wei­se, die sie seit dem Tode ih­res Soh­nes an­ge­nom­men hat­te: »Ich dan­ke Ih­nen, Frau Böhk, Sie sind sehr freund­lich. Das Kind aber dür­fen Sie aus mei­nem Zim­mer nicht fort­neh­men.«

»Wa­rum denn nicht?« sag­te die Heb­am­me ein­dring­lich, »hier un­ten wird sich al­les viel bes­ser ma­chen. Die Blu­men, das schwarz aus­ge­schla­ge­ne Gerüst, die Ker­zen. Den­ken Sie sich nur, wie hübsch das sein wird!«

»Ja, sehr hübsch! Aber aus mei­nem Zim­mer dür­fen Sie das Kind nicht fort­neh­men.«

Was war ge­gen sol­chen Ei­gen­sinn zu tun? Frau Böhk woll­te es ver­su­chen, auch oben al­les so an­stän­dig wie mög­lich her­zu­rich­ten, ob­gleich mit der en­gen Kam­mer kein großer Staat zu ma­chen war. Die Wie­ge wur­de mit schwar­zem Tuch be­han­gen, mit Blu­men be­steckt; die Ker­zen mit ih­ren Rin­gen aus Sil­ber­pa­pier stan­den ne­ben­an auf der Kom­mo­de. Was zu ma­chen war, ge­sch­ah; den­noch sah es nicht be­son­ders aus.

Am Abend ver­sam­mel­ten sich die Haus­ge­nos­sen um die Kin­des­lei­che. Stumm, mit ge­fal­te­ten Hän­den, sa­ßen sie auf ih­ren Stüh­len und nick­ten mit den Köp­fen. Die Leb neig­te sich an Frau Böhks Ohr her­an und flüs­ter­te: »Wie ein En­gel sieht es aus. Ganz un­ver­än­dert.« Rosa barg ihr Ge­sicht in ihr Ta­schen­tuch und wein­te. Wenn sie zu­wei­len auf­blick­te, be­ka­men die Flam­men der Ker­zen krau­se Strah­len, und die An­we­sen­den neig­ten die Köp­fe auf die Sei­te und schau­ten Rosa mit­lei­dig an, als er­war­te­ten sie et­was von ihr. Frau Böhk und die Leb wisch­ten sich dann die Au­gen, Herr Böhk war un­ru­hig, flüs­ter­te mit den Frau­en, ging knar­rend ab und zu; end­lich lehn­te er sich ge­gen die Wand, steck­te die rech­te Hand in den Aus­schnitt sei­ner Wes­te und stimm­te einen Cho­ral an. Alle san­gen mit, den Mund weit öff­nend, die Hän­de im Schoß ge­fal­tet; dar­auf las Herr Böhk ein Ge­bet vor. Rosa merk­te nicht auf die Wor­te, nur der ge­tra­ge­ne, be­trüb­te Ton­fall be­ein­druck­te sie, sie schau­te auf und in­ter­es­sier­te sich da­für, was die an­de­ren ta­ten: jetzt be­te­ten sie, ein je­der still für sich; die Leb schiel­te da­bei be­stän­dig zu Rosa her­über; jetzt flüs­ter­ten sie mit­ein­an­der: »Kom­men Sie, et­was zu neh­men«, sag­te Frau Böhk zur Leb. Die­se nick­te und deu­te­te auf Rosa. »Lie­bes Kind«, wand­te sich die Heb­am­me an Rosa, »kom­men Sie, trin­ken Sie et­was für die Herz­stär­kung.«

»Nein, ich dan­ke«, hör­te Rosa ihre ei­ge­ne Stim­me tief und kla­gend er­wi­dern, »ich will es nicht al­lein las­sen.« Die Leb blin­zel­te mit den Wim­pern und leg­te den Zei­ge­fin­ger auf die Stirn. Dann gin­gen sie alle ins Wohn­zim­mer hin­ab, um Grog zu trin­ken, in der Türe dräng­ten sie sich, als hät­ten sie Eile hin­aus­zu­kom­men.

Rosa blieb al­lein. Das Ge­sicht in die Hän­de ge­stützt, saß sie ru­hig da. Sie sehn­te sich nach ei­nem stür­mi­schen Schmer­zens­aus­bruch; sie hät­te wei­nen und schluch­zen mö­gen; die furcht­ba­re Öde in Kopf und Herz war un­er­träg­lich. Ein Nach­las­sen des Schmer­zes er­schi­en ihr wie ein Un­recht, und doch, was war der Schmerz? Woll­te sie sich sei­ner be­wusst wer­den, so zer­fiel er in klein­li­che, ferna­b­lie­gen­de Ge­dan­ken, über de­nen trost­lo­se Weh­mut hing. In ih­rem Jam­mer ward Rosa un­abläs­sig von der Un­zu­läng­lich­keit die­ses Jam­mers ge­quält.

An das Kind – nur an das Kind woll­te sie den­ken. Das lie­be klei­ne We­sen! Wie sor­gen­voll es die Stir­ne kraus zog, wenn sie es an die Brust leg­te! Wie eng und warm es sich an­schmieg­te und da­bei be­stän­dig die win­zi­gen Fuß­spit­zen be­weg­te. Ja – ihr ge­hör­te es, ihr ganz al­lein. Sie woll­te es so er­zie­hen, dass sie es nie zu stra­fen brauch­te. Es wäre ihr un­er­träg­lich, wenn Ernst je ein ähn­li­ches Ge­fühl ge­gen sie he­gen könn­te, wie sie es ge­gen Fräu­lein Schank, Ag­nes, so­gar ge­gen ih­ren Va­ter ge­hegt hat­te, wenn die­se sie ta­del­ten. Sie wür­de mit ih­rem Soh­ne dort un­ten an der Wie­se in dem wei­ßen Häu­schen le­ben, mun­ter und ka­me­rad­schaft­lich wie Freun­din­nen, die die Fe­ri­en mit­ein­an­der ver­brin­gen. Nie durf­te Ernst sich vor ihr fürch­ten, nie er­schro­cken zu an­de­ren Kin­dern sa­gen: »Sie kommt«, oder gar: »Die Alte kommt!« Nie! Rosa hob den Kopf auf und blick­te ent­setzt auf die schwar­ze Wie­ge. Sie fand sich in die frem­de fei­er­li­che Ge­gen­wart nicht mehr hin­ein, und noch heiß von müt­ter­li­chen Lie­bes­ge­dan­ken, wur­de sie wie­der in das wir­re, grau­sa­me Ban­gen zu­rück­ge­wor­fen. Das Kind war ja nicht mehr, war ir­gend­wo an ei­nem un­be­kann­ten, un­er­reich­ba­ren Orte – ganz al­lein. Bleich bis in die Lip­pen, zwi­schen den Au­gen­brau­en eine auf­rech­te Fal­te, er­hob sich Rosa und trat an die Wie­ge her­an. Von Ro­sen und Jas­min be­deckt, lag die klei­ne Lei­che da, nur das Ge­sicht war zu se­hen, ein run­des, wachs­gel­bes Ge­sicht­chen – der Mund eine fei­ne bläu­li­che Li­nie, die Nase dünn wie Pa­pier, über den Au­gen­li­dern bläu­li­che Schat­ten. Den­noch lag in die­sen nur an­ge­deu­te­ten Zü­gen eine frem­de Herb­heit. Auf der einen Wan­ge be­merk­te Rosa einen dunklen Fleck. Sie fuhr zu­rück, von Grau­en und Ab­scheu über­wäl­tigt, und ver­zog ihr Ge­sicht, als woll­te sie wei­nen.

Sie blick­te zur Türe hin­über. Soll­te sie fort­ge­hen? Es war ja doch ihr Kind, sie durf­te sich nicht fürch­ten. »Ich will es küs­sen«, sprach sie laut vor sich und beug­te sich auf die Lei­che her­ab. Die wel­ken­den Ro­sen- und Jas­min­blü­ten at­me­ten einen star­ken sü­ßen Duft aus, und – dann noch – – – Nein! Die­ses star­re, gel­be Ge­sicht­chen mit sei­nen dunklen Fle­cken auf der Wan­ge er­füll­te Rosa mit un­säg­li­chem Grau­en. »Ich will es aber küs­sen!« wie­der­hol­te sie und fass­te krampf­haft mit zit­tern­den Hän­den den Rand der Wie­ge. »Ach du mein ar­mer, ar­mer En­gel! Ich lie­be dich doch. Vor dir soll­te ich mich fürch­ten? Glau­be das nicht! Wenn du auch tot bist, ich wer­de nie auf­hö­ren, dich zu lie­ben!« Und sie drück­te ihre Lip­pen fest auf die kal­te Stirn des Kin­des, dann aber ent­fern­te sie sich mit be­ben­den Kni­en. Sie öff­ne­te das Fens­ter, der Duft der Blu­men, die Schwü­le des Ge­ma­ches er­stick­ten sie. Das Fens­ter­kreuz mit bei­den Ar­men um­schlin­gend, beug­te sie sich hin­aus.

Die Ju­li­nacht war schwarz und still, zu­wei­len nur reg­te sich ein sanf­tes Rau­schen, das an große, küh­le Fer­nen voll feuch­ten Duf­tes ge­mahn­te. Die­se ver­hüll­te Welt er­schi­en Rosa un­end­lich weit, hier konn­te sie sich hin­ein­ver­lie­ren und ver­ste­cken. Auf das Zim­mer und sei­ne Pein blick­te sie nicht mehr zu­rück. Sie ließ sich vom Win­de die Stir­ne küh­len, die Nacht tat ihr wohl mit ih­rer Uner­gründ­lich­keit, durch die es wie ein Hauch – wie eine Stim­me irr­te, die ein­tö­nig und kla­gend »weit – weit« vor sich hin­zu­sin­gen schi­en.

Un­ten im Wohn­zim­mer wur­de es auch still. Gre­the stieg die Trep­pe her­auf, schau­te durch das Schlüs­sel­loch zu Rosa her­ein und be­gab sich in ihre Kam­mer. Sie an­de­ren schlie­fen wohl auch schon, der Grog moch­te für die gan­ze Nacht nicht aus­ge­reicht ha­ben.

Der Mor­gen däm­mer­te. Im Zwie­lich­te stan­den Bäu­me und Häu­ser in nüch­ter­ner Farb­lo­sig­keit da. Der Him­mel wur­de weiß, ei­ni­ge Wol­ken färb­ten sich rot; in den Bir­ken­wip­feln, an den Dach­firs­ten sprüh­ten röt­li­che Lich­ter auf – end­lich kam die Son­ne. Blen­den­des Licht er­goß sich über die Ebe­ne, al­lent­hal­ben ent­brann­te ein rück­sichts­lo­ses Leuch­ten, die Wie­se voll blü­hen­der Grä­ser nahm einen rot­brau­nen Me­tall­glanz an, und die Wölk­chen, wel­che die Nacht über in fes­ten Bal­len am Him­mel ge­han­gen hat­ten, wur­den zer­ris­sen und als wei­ße Flo­cken über das Blau ge­streut.

Mit hei­ßen, ver­wein­ten Au­gen blick­te Rosa in den Tag hin­aus, das aus­ge­las­se­ne, le­bens­fro­he Auss­trö­men von Hel­lig­keit tat ihr weh. Sie hät­te ge­wünscht, al­les wäre dun­kel und schwei­gend ge­blie­ben. Sie war zu Ende, und drau­ßen fing al­les wie­der von neu­em an. Den­noch blieb sie am Fens­ter ste­hen, feind­se­lig zu­schau­end, wie sich die an­de­ren zum neu­en Tage an­schick­ten.

Aus dem Gra­se stie­gen Ler­chen auf. An den Häu­se­r­e­cken bau­ten Schwal­ben. Eine Her­de zog die Stra­ße ent­lang, der Hirt folg­te ihr, ver­schla­fen den Hut über die Stirn zie­hend. Ge­gen­über, in der Schmie­de, öff­ne­te die blei­che Schmieds­frau Fens­ter und Türe und be­gann ihre Schwel­le zu keh­ren. Der Post­bo­te ging vor­über, auf das Land hin­aus; die schwar­ze Le­der­ta­sche bau­mel­te über sei­nem Bau­che hin und her; er gähn­te; den Mund weit dem Son­nen­schei­ne öff­nend, blieb er vor der Schmied­frau ste­hen und sprach mit ihr.

Ein Bur­sche kam auf das Böhksche Haus zu. War das nicht Gre­thes Ge­org? Recht ro­sig, die Müt­ze auf ei­nem Ohr, pfiff er laut vor sich hin und trug et­was un­ter dem Arm. Jetzt schell­te er an der Hau­stü­re, ihm ward ge­öff­net, im Flur wur­den Stim­men laut, man stieg die Trep­pe hin­an, öff­ne­te Ro­sas Tür. »Leg es dort­hin, Ge­org«, er­klang Frau Böhks Stim­me. »Lie­bes Kind, Sie hät­ten bes­ser ge­tan, ein we­nig zu schla­fen. Der Schrei­ner hat den Sarg ge­schickt; recht hübsch blau an­ge­stri­chen. Se­hen Sie doch!«

Auf ei­nem Stuhl ne­ben der Wie­ge stand der Sarg, klein und bunt wie ein Spiel­zeug. »Jetzt müs­sen Sie mit hin­un­ter­ge­hen, et­was es­sen«, fuhr die Heb­am­me fort. »Hier oben be­sorgt die Leb al­les. Um neun Uhr müs­sen wir auf dem Fried­hof sein, sonst geht uns der Pfar­rer durch. Er kommt oh­ne­hin nur im Vor­über­fah­ren zu uns.« Rosa ließ sich fort­füh­ren. Die qual­voll durch­wach­te Nacht raub­te ihr jede Wil­lens­kraft. Was nun um sie her vor­ging, drang nur als Bild zu ihr, das kei­ne un­mit­tel­ba­re Be­zie­hung auf sie zu ha­ben schi­en.

Im Hau­se war al­les vol­ler Ge­schäf­tig­keit. Heu­te zum ers­ten Mal fiel es Rosa auf, dass bei Böhks be­stän­di­ger Lärm herrsch­te und dass die Leu­te ganz ohne er­sicht­li­chen Zweck durch die Zim­mer schos­sen. Plötz­lich hieß es, es sei die höchs­te Zeit; man muss­te zum Fried­hof ei­len. »Kom­men Sie«, sag­te Frau Böhk und nahm Ro­sas Arm so fest un­ter den ih­ren, als fürch­te sie, Rosa kön­ne ihr ent­lau­fen. Vor der Haus­tür muss­ten sie auf die Leb und Herrn Böhk war­ten, die noch oben be­schäf­tigt wa­ren. End­lich stieg Herr Böhk die Trep­pe her­ab, un­ter dem Arm trug er den Sarg. Die Leb folg­te ihm, be­la­den mit Blu­men. Rosa wur­de un­ru­hig: »Oh, bit­te, ge­ben Sie es mir. Hal­ten Sie es nicht so«, fleh­te sie. Frau Böhk drück­te Ro­sas Arm fes­ter an sich und dräng­te zum Ge­hen.

Der Zug setz­te sich in Be­we­gung. Voran ging Herr Böhk mit dem Sar­ge, ne­ben ihm die Leb. Auf ih­ren Ar­men türm­ten sich Ro­sen- und Jas­min­krän­ze bis an ihr spit­zes Kinn auf. Ih­nen folg­ten Rosa und Frau Böhk; als letz­te ging Gre­the. Hans war da­heim ge­blie­ben, denn er fürch­te­te sich vor dem Sar­ge. Die Hit­ze war drückend in der en­gen, men­schen­lee­ren Gas­se, hie und da blick­te eine Magd, die den Haus­flur kehr­te, auf, wenn der Zug an ihr vor­über­ging, stütz­te das Kinn auf den Be­senstiel und mach­te große Au­gen. Auf dem Wege, der an der Wie­se ent­lang­führ­te, konn­te man frei­er auf­at­men. Zwi­schen den blü­hen­den Hal­men lärm­ten die Feld­gril­len; der We­ge­rich und die Dis­tel­stau­den am We­gran­de wa­ren weiß vom Staub, und fern am Ho­ri­zont stieg es wie vio­let­ter Rauch auf. Das Hinan­klim­men des Kir­chen­ber­ges war sau­er ge­nug. Frau Böhk stöhn­te; die Leb muss­te ih­rem Nach­barn beim Tra­gen des Sar­ges hel­fen. Nun – und als man oben an­lang­te, war die Eile un­nütz ge­we­sen, denn der Pfar­rer war noch nicht da. »Das ist groß­ar­tig!« zürn­te die Heb­am­me. Der Sarg ward ne­ben das of­fe­ne Grab auf den Bo­den ge­stellt. Nicht weit da­von lag der To­ten­grä­ber un­ter ei­nem Ahorn­baum und schlief. Die Leb stieg auf einen Grab­stein, reck­te den Hals und späh­te auf die Land­stra­ße hin­ab.

»Man muss eben war­ten, da hilft nichts«, be­merk­te Herr Böhk phi­lo­so­phisch.

Das är­ger­te aber sei­ne Frau. »Na­tür­lich muss man war­ten«, brumm­te sie. »Ich mei­ne nur, wenn man von an­de­ren Pünkt­lich­keit er­war­tet, soll­te man selbst auch pünkt­lich sein.«

Rosa saß auf ei­nem Stein ne­ben dem Sar­ge ih­res Kin­des. Die­ses arme blaue Käst­chen soll­te nicht so al­lein ne­ben dem of­fe­nen Gra­be ste­hen; sie blieb bei ihm. Am liebs­ten hät­te sie es auf ihre Knie ge­nom­men und ihre Wan­ge dar­auf ge­stützt; da­ge­gen hät­te aber Frau Böhk viel­leicht et­was ein­ge­wen­det. So leg­te denn Rosa nur ihre Hand sanft auf den Sarg­de­ckel.

 

Hier, im Schat­ten der al­ten Bäu­me, war es kühl und woh­lig, wie in der Kam­mer, wenn Rosa ne­ben ih­rem Kin­de saß und mit dem Er­len­zweig ihm die Flie­gen ab­wehr­te. Ein lau­er Wind strich zu­wei­len vor­über, ließ die Ro­sen auf den Grä­bern ni­cken und streu­te die Frucht­kap­seln der Bäu­me über den Kies. Frau Böhk hat­te sich ins Gras ge­setzt; sehr rot im Ge­sicht, schalt sie Gre­the, dass sie mit­ge­kom­men sei, statt zu Hau­se fürs Mit­tag­mahl zu sor­gen. Herr Böhk lehn­te an ei­nem Baum­stamm, fä­chel­te sich mit sei­nem Hut Küh­lung zu und schiel­te zu Rosa hin­über. Er fand sie heu­te hübsch mit ih­ren fremd­ar­tig blan­ken Au­gen und über­leg­te bei sich, ob er die letz­ten Tage nicht dazu be­nüt­zen soll­te, dem Fräu­lein recht herz­haft die Cour zu schnei­den. »Jetzt ist er da!« rief die Leb. Ein Wa­gen hielt am Fried­hof­git­ter, dann ka­men zwei Män­ner ei­lig den Weg her­auf. Der Pfar­rer in sei­nem be­staub­ten Talar trock­ne­te sich mit dem Ta­schen­tuch den Schweiß von der blan­ken Glat­ze; der Küs­ter trug ihm ein Buch nach. Rosa blieb, in Ge­dan­ken ver­sun­ken, auf ih­rem Stein sit­zen, bis Frau Böhk sich zu ihr ge­sell­te und wie­der fest ih­ren Arm fass­te.

Alle um­stan­den die Gruft. Ein Son­nen­strahl fiel hin­ein, und Rosa konn­te den röt­li­chen Bo­den des Gra­bes se­hen. Zu­erst sprach der Pfar­rer mit sei­ner lei­sen, fet­ten Stim­me, dann ward ge­sun­gen; plötz­lich schwieg al­les. Frau Böhk zwang Rosa, sich um­zu­wen­den. Rosa wi­der­streb­te, da sie je­doch nichts aus­rich­te­te, wein­te sie. Hin­ter ihr wur­de et­was halb­laut ge­spro­chen, wur­de et­was ge­ho­ben und ge­scho­ben – jetzt sprach der Pfar­rer wie­der. Rosa schau­te auf das Grab und sah in der Tie­fe, dort, wo der Son­nen­strahl den Licht­fleck auf den Grund des Gra­bes warf, eine Ecke des blau­en Sar­ges und ei­ni­ge wei­ße Nar­zis­sen.

Nach­dem ein je­der der An­we­sen­den Erde mit der Hand in die Gruft ge­wor­fen hat­te, be­gann der To­ten­grä­ber mit ei­nem Spa­ten das Grab zu­zu­schüt­ten. Rosa hör­te die Erd­schol­len auf den Sarg fal­len, und ein schmerz­haf­ter Zorn schnür­te ihr die Brust zu­sam­men. Gott, die­se grau­sa­men Men­schen! Wie hart und roh sie mit dem ar­men Kin­de ver­fuh­ren! Wie gleich­gül­tig sie al­lem zu­sa­hen! Wenn es auch tot war, so blieb es doch ihr Kind, ge­hör­te ihr. Wie durf­ten sie da­mit ver­fah­ren, als sei es eine Sa­che, die sie nichts an­ging? Aber sie ver­moch­te es nicht zu än­dern, alle wa­ren ge­gen sie. Sie konn­te nur wei­nen. Der Pfar­rer rich­te­te ei­ni­ge Wor­te an Frau Böhk, und die­se er­wi­der­te mun­ter: »Ja, sehr schwül. Heu­te gibt es noch ein Ge­wit­ter.«

»Höchst wün­schens­wert«, mein­te der Pfar­rer.

Man ging heim. Rosa ließ sich von der Heb­am­me füh­ren, die ihr Trost zu­sprach. »Gott sei Dank, das Schwers­te ist vor­über! Ich weiß auch, wie’s tut, wenn man eins, das man liebt, in die Erde legt. Aber, ist’s mal vor­über, nach­her kommt man drü­ber hin­aus. So ’n klei­nes Kind ver­schmerzt man leich­ter. Wie­viel hat man’s denn ge­kannt?« Und als Rosa sich nicht be­ru­hi­gen woll­te, mein­te Frau Böhk seuf­zend: »Ja, ja! Bit­ter ist es im­mer­hin, sein ei­gen Fleisch und Blut un­ter der Erde zu wis­sen!« Die­se Wor­te ga­ben Rosa einen kal­ten Schau­er. Un­ter der Erde? Ganz al­lein? Das war ent­setz­lich.

Zu Hau­se saß Rosa auf dem Sofa im Wohn­zim­mer, sah zu, wie Hans im Hof den großen Hahn neck­te, und hör­te zu, wie die Leb und Herr Böhk mit­ein­an­der strit­ten. Herr Böhk be­haup­te­te, der Pfar­rer sei ein hoch­nä­si­ger Heuch­ler. Die Leb wi­der­sprach dem, sie zog die Mund­win­kel her­ab und sag­te spitz: »Um den Herrn Pfar­rer zu wür­di­gen, muss man Re­li­gi­on ha­ben, und die hat lei­der nicht je­der.«

Das Mit­tags­mahl war heu­te reich­lich und fei­er­lich, die Un­ter­hal­tung dreh­te sich da­bei nur um Lei­chen­be­gäng­nis­se, und da­von ver­stand die Leb sehr viel. Rosa moch­te we­der es­sen noch spre­chen. Sie lehn­te den Kopf an die Wand und schloss die Au­gen. Wäh­rend sie so ver­harr­te, sah sie be­stän­dig die Ecke des blau­en Sar­ges un­ten im Gra­be, die wei­ßen Nar­zis­sen und den Son­nen­strahl, der dar­über hin­spiel­te, vor sich, und die­ses Bild er­reg­te in ihr das Ge­fühl tiefs­ter Ein­sam­keit. Sie be­gann sich um ihr Kind zu sor­gen wie um ein le­ben­des. Ver­ge­bens rief sie sich zur Ge­gen­wart zu­rück, sag­te sich: »Das Klei­ne ist tot. Die To­ten lie­gen alle un­ter der Erde – sind alle al­lein«; die Sor­ge ver­ließ sie doch nicht.

Das Mahl war be­en­det. Gre­the räum­te den Tisch ab; die üb­ri­gen gin­gen in den Gar­ten hin­aus. »Las­sen wir sie al­lein; viel­leicht schläft sie«, flüs­ter­te Frau Böhk.

Es war schon Abend, als Rosa er­schro­cken vom Sofa auf­fuhr. Das Zim­mer war fins­ter. Ne­ben­an in der Kü­che wur­de ge­spro­chen, aber noch ein an­de­res un­un­ter­bro­che­nes Tö­nen er­füll­te die Luft. Rosa rieb sich die Au­gen. Es war ihr, als hät­te sie et­was ver­säumt, sie dach­te nach. Ein Blitz er­hell­te das Ge­mach, der Don­ner krach­te, dass die Fens­ter­schei­ben klirr­ten, und große Trop­fen pras­sel­ten nie­der. Rosa sprang auf. »Mein ar­mer En­gel«, sprach sie vor sich hin. Sie muss­te zu ihm, es war stär­ker als sie. »Ein­mal will ich es noch bei mir ha­ben. Wer wird es wis­sen?« Sie schlich in ihre Kam­mer hin­auf, leg­te ih­ren Man­tel an und ver­barg ein Tuch und eine De­cke un­ter dem­sel­ben. Es war kein Un­recht, was sie vor­hat­te, aber die Böhk durf­te es nicht wis­sen. Als sie die Trep­pe hin­ab­stieg, stand die Heb­am­me im Flur und schi­en sie er­war­tet zu ha­ben. Sie mach­te ein erns­tes, stren­ges Ge­sicht und frag­te: »Wo­hin, lie­bes Fräu­lein?«

»Ich woll­te hin­aus­ge­hen«, er­wi­der­te Rosa schüch­tern.

»Blei­ben Sie lie­ber bei uns«, sag­te Frau Böhk, fass­te wie­der mit ih­ren ei­ser­nen Fin­gern Ro­sas Hand und führ­te sie in das Wohn­zim­mer. Dort nahm sie ihr Hut, Man­tel und die De­cke ab, ohne ein Wort zu spre­chen, als ver­stün­de sich al­les das von selbst. Die an­de­ren ka­men auch her­ein, um­stan­den Rosa und schau­ten sie ver­le­gen und er­staunt an, bis Frau Böhk drein­fuhr: »Was steht ihr? Nehmt et­was vor!«

Sie durch­schau­ten sie alle, das fühl­te Rosa wohl. Frau Böhk muss­te es ih­nen ge­sagt ha­ben. Wie konn­te die­se es aber wis­sen? Und was hat­te Rosa denn tun wol­len? Sie schau­er­te in sich zu­sam­men, sie fürch­te­te sich vor sich selbst.

»Ge­hen Sie zu Bett, lie­bes Kind«, riet Frau Böhk freund­lich, »Sie schla­fen heu­te bei Gre­the, das wird Ih­nen lie­ber sein.«

»Ja. – Gute Nacht, Frau Böhk.«

Als Rosa die Tür hin­ter sich schloss, hör­te sie noch, wie Frau Böhk zu der Leb sag­te: »Ich sah’s ja kom­men.« –