Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Viertes Buch – Das Kind

Erstes Kapitel

Für Rosa be­gann jetzt ein wun­der­li­ches Pflan­zen­le­ben. Ei­nem Ge­dan­ken zu fol­gen, sich ei­ner Träu­me­rei hin­zu­ge­ben, wie sie es sonst wohl lieb­te, ver­moch­te sie nicht mehr. Sie konn­te nur still da­lie­gen und in sich hin­ein­hor­chen. In ih­rem Kas­ten hat­te sie eine Fla­sche Ro­sen­es­senz ent­deckt, die Am­bro­si­us ihr einst ver­ehrt hat­te. Er lieb­te die­sen Duft. Al­les an ihm, sein Haar, sein Schnurr­bart, sei­ne Klei­der duf­te­ten nach Ro­sen­es­senz. Jetzt, als Rosa die Fla­sche fand, brach­te die­ser Duft ihr die al­ten Erin­ne­run­gen mit er­schre­cken­der Deut­lich­keit wie­der. An­ge­wi­dert von den auf­stei­gen­den Bil­dern, warf sie die Fla­sche bei­sei­te und ging in den Gar­ten hin­ab. Dort lag sie im Son­nen­schein auf der Schau­kel­bank und starr­te mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen zum Him­mel auf. Nach kur­z­er Zeit je­doch er­fass­te sie ein quä­len­des Ver­lan­gen nach dem schwü­len Duft der Ro­sen­es­senz; er war ihr zu­wi­der, und den­noch!… Sie muss­te wie­der zu ih­rer Kam­mer hin­auf­stei­gen, die Türe schlie­ßen, als hät­te sie et­was Uner­laub­tes vor, und sich an dem sü­ßen Duft be­rau­schen, bis der Ekel ihr die Keh­le zu­schnür­te und sie die Fla­sche über­satt fort­warf.

Die­ses rein leib­li­che Le­ben, in das Rosa ver­sank, be­drück­te sie zu­wei­len; die Zeit wur­de ihr lang. Sie muss­te be­stän­dig auf die Mahl­zei­ten war­ten, ins Haus hin­über­hor­chen, ob Gre­the nicht schon mit den Tel­lern klap­per­te, muss­te nach der Uhr se­hen, ob es nicht Schla­fens­zeit sei, und miss­lang eine Spei­se, auf die sie sich ge­freut hat­te, oder stör­te je­mand ihre Be­quem­lich­keit, dann konn­te sie vor Zorn wei­nen, als sei ihr schwe­res Un­recht zu­ge­fügt wor­den. Au­ßer ih­rem kör­per­li­chen Zu­stan­de ver­lor al­les für Rosa an In­ter­es­se. Die Na­tur zwang sie, nur ih­rer Frau­en­pflicht zu le­ben, nur des zu­künf­ti­gen Kin­des we­gen da zu sein. In man­chen Au­gen­bli­cken ahn­te Rosa das Ge­heim­nis, das einen so großen Wan­del über Geist und Kör­per brach­te. Sie staun­te dar­über, und ihr ward ein we­nig bang. Es war zu fremd und un­be­hag­lich, sich selbst nicht mehr ganz an­zu­ge­hö­ren.

In ei­ner Nacht – Ende Juni – fühl­te Rosa hef­ti­ge Schmer­zen und rief nach Hil­fe. Frau Böhk ward ge­holt, und die­se sag­te mun­ter, als sie Rosa sah: »An die Ar­beit – an die Ar­beit.«

Vie­le Stun­den hin­durch quäl­te sich Rosa. Be­wusst­los vor Schmerz, hat­te sie stets das Ge­fühl, als müss­te sie eine schwe­re Last mit al­ler An­stren­gung weiter­schie­ben; dann plötz­lich ver­lie­ßen sie die Kräf­te, eine große Ruhe kam über sie, und re­gungs­los lag sie da. Sie hör­te, wie man um sie flüs­ter­te, lei­se ab und zu ging. Wenn sie die schwe­ren Au­gen­li­der halb em­por­hob, sah sie die Däm­me­rung des Kran­ken­zim­mers von grel­len Licht­strei­fen durch­zo­gen. Im fie­ber­haf­ten Halb­schlum­mer such­te sie die­se Er­schei­nung zu er­grün­den, müh­te ih­ren ar­men, schmer­zen­den Kopf mit der Fra­ge ab: Wo kom­men die Licht­strei­fen her? End­lich fand sie die Ener­gie, die Au­gen vollends auf­zu­schla­gen, Nun er­kann­te sie, dass das Fens­ter mit Tü­chern ver­han­gen war und das Ta­ges­licht sich zwi­schen den­sel­ben hin­durch­stahl. Ja – auch die Ge­gen­stän­de im Zim­mer un­ter­schied sie jetzt deut­lich. Dort – in der Ecke – saß je­mand, eine klei­ne schwar­ze Ge­stalt. Ah, das war die Leb. Sie schlum­mer­te, den Kopf zu­rück­ge­bo­gen; ein Son­nen­strahl traf ihre fla­chen, rot­brau­nen Haar­bän­der an den Schlä­fen und die rot­ge­rän­der­ten, fal­ti­gen Au­gen­li­der. Ja – das war die Leb, denn Frau Böhk war so be­schäf­tigt, dass sie ihre Kran­ken oft ver­las­sen muss­te; die­ser Satz klang Rosa noch von der Kreb­spar­tie her in den Ohren.

Ne­ben Ro­sas Bett stan­den zwei Stüh­le dicht bei­ein­an­der; ein Pols­ter lag auf ih­nen, Lein­zeug und ein dich­ter wei­ßer Schlei­er, der et­was be­deck­te. Rosa blick­te scharf hin. Was war das? Am En­de…! Frei­lich, ir­gend­wo muss­te ja doch ein Kind sein, das war klar. Gern hät­te sie den Schlei­er fort­ge­zo­gen; sie wag­te es je­doch nicht. Sie war­te­te; wird es sich re­gen?

Sehr still war es im Kran­ken­zim­mer, nur Frau Leb stieß zu­wei­len einen lei­sen Kehl­laut aus.

Den Kopf ge­ho­ben, die Au­gen sehr groß in dem blei­chen Ge­sicht, be­ob­ach­te­te Rosa das wei­ße Pa­ket ne­ben­an. Jetzt hat­te sie einen Ton ver­nom­men. Sie beug­te sich vor. Eine zar­te Röte über­flog ihr Ge­sicht, und wie er­schro­cken öff­ne­te sie die Lip­pen. Da war er wie­der, die­ser Ton! Ganz fein, ein we­nig knar­rend; wie der Laut, den man­che Pup­pen von sich ge­ben, wenn man sie drückt. Was soll­te Rosa be­gin­nen? Die Leb schlief. Et­was muss­te aber doch ge­sche­hen! Wenn man wim­mert, so be­darf man der Hil­fe, nicht wahr? Rosa streck­te die Hand aus und blick­te scheu zur Leb hin­über. Die Hand, wäh­rend sie den Schlei­er fass­te, zit­ter­te. doch zog sie ihn ent­schlos­sen her­ab.

Auf dem Pols­ter lag ein win­zi­ges ro­tes, fal­ti­ges Ge­sicht, aber un­zwei­fel­haft ein Ge­sicht: Da war eine Nase, ein Mund, eine Stirn, über die sor­gen­vol­le Fur­chen hin­lie­fen, Au­gen­li­der, so durch­sich­tig und ge­ädert wie bei jun­gen Vö­geln, die Au­gen­li­der zuck­ten, ho­ben sich – und lie­ßen zwei blan­ke, run­de Punk­te se­hen. Der Mund, der wie ein win­zi­ges Tröpf­chen ro­ter Far­be un­ter der Nase saß, ver­zog sich, öff­ne­te sich und stieß wie­der den knar­ren­den Pup­pen­laut aus. Rosa er­schrak: Wa­rum wein­te es? Was soll­te sie tun? Ach Gott, er­wach­te doch die Leb! »Frau Leb, Frau Leb!« Ver­ge­bens! Rosa sank in ihre Kis­sen zu­rück und wein­te auch; sie wuss­te sich nicht an­ders zu hel­fen.

Das Wim­mern des Kin­des muss­te doch bis zur Frau Leb ge­drun­gen sein, denn die­se er­wach­te plötz­lich, eil­te zum Kin­de, sprach lei­se mit ihm, rück­te es zu­recht und gab ihm et­was zu trin­ken. Als sie sich auf­rich­te­te, be­merk­te sie, dass Rosa wach dalag. Sie lä­chel­te ihr zu: »Gu­ten Tag, Fräu­lein! Aber Sie wei­nen ja?«

»Oh, es ist nichts!« er­wi­der­te Rosa be­fan­gen, »das – das Klei­ne wein­te, und ich wuss­te nicht, was ich tun soll­te.«

»Hat man so et­was ge­se­hen?« lach­te die Leb in sich hin­ein, »über so et­was zu wei­nen! Las­sen Sie das Kind nur schrei­en, das ist ihm ge­sund, das ist sei­ne Ar­beit. Solch ein Wurm will auch zei­gen, dass er lebt. Also – be­trach­tet ha­ben Sie’s schon? Das ist gut! Ein ganz feh­ler­lo­ser Bub, nicht? Ein we­nig klein und leicht, aber sol­che kom­men oft bes­ser fort als die di­cken und schwe­ren, da kann man schon gra­tu­lie­ren. Bei ei­ner ers­ten Nie­der­kunft geht’s nicht im­mer so glatt ab. Wol­len Sie das Kind neh­men?«

»Nein – ich dan­ke«, ver­setz­te Rosa zö­gernd, »schla­fen möch­te ich.«

»Frei­lich!« mein­te die Leb, »ein Kind in die Welt set­zen ist kei­ne Klei­nig­keit. Wenn die Män­ner über schwe­re Ar­beit kla­gen, sag ich im­mer: Ihr soll­tet ein Kind zur Welt brin­gen, da wür­det ihr wis­sen, was Ar­beit heißt; das ist schwe­rer als Holz spal­ten und pflü­gen. Nun, schla­fen Sie, mein En­gel­chen!«

Rosa schloss die Au­gen und sag­te lei­se: »Bit­te, Frau Leb, schie­ben Sie die Stüh­le nä­her an mein Bett«, und als die Frau Leb die Stüh­le mit dem Kin­de nä­her an das Bett ge­rückt hat­te, lä­chel­te Rosa und mein­te: »So ist es gut. dan­ke, Frau Leb.«

Die Schwä­che in al­len Glie­dern brach­te einen woh­li­gen Frie­den über sie und einen sü­ßen, traum­lo­sen Schlum­mer. Die Leb setz­te sich mit ih­rem Strick­strumpf an das Fens­ter, und tie­fe Ruhe herrsch­te wie­der im Kran­ken­zim­mer.

Zweites Kapitel

Im en­gen Gie­bel­stüb­chen la­gen Rosa und ihr Kind ne­ben­ein­an­der und war­te­ten, dass das mäch­ti­ge Band, mit dem eins an das an­de­re ge­knüpft wer­den soll­te, sich fühl­bar ma­che. Ro­sas Bli­cke ruh­ten un­aus­ge­setzt auf dem wei­ßen Pa­ket wie auf ei­nem Ge­gen­stan­de, von dem sie eine große Wir­kung auf sich er­war­te­te. Sie ließ zwar die Leb für das Kind sor­gen, be­ob­ach­te­te es je­doch ei­fer­süch­tig, als sei es ein Ge­schenk, das ihr noch nicht fei­er­lich über­ge­ben wor­den war, von dem sie aber wuss­te, dass es ihr ge­hö­ren soll­te. Erst als Frau Böhk ihr das Kind zum ers­ten Male an die Brust leg­te, emp­fand Rosa voll ih­ren Be­sitz. Sie nahm das Kind in ihre Arme, fühl­te den Puls­schlag die­ses zar­ten Le­bens, fühl­te, wie die war­men Lip­pen sich an ihre Brust fest­so­gen, und ein hei­ßes, tie­fin­ne­res Be­ha­gen durch­wall­te sie. Ihre Glie­der beb­ten leicht. Am liebs­ten hät­te sie mit all ih­rer Kraft das Kind an sich ge­drückt, hät­te sie nicht ge­fürch­tet, ihm Scha­den zu­zu­fü­gen. So hielt sie denn ganz still, das sonst so er­reg­te, wech­sel­vol­le Mäd­chen­ge­sicht nahm einen Aus­druck mil­den Erns­tes an, der ihm bis­her fremd ge­we­sen war. Die­ser Au­gen­blick hat­te für Rosa so­viel Fei­er­li­ches, dass die Ge­gen­wart der Heb­am­me sie stör­te. »Sie se­hen, Frau Böhk«, sag­te sie er­rö­tend, »nun kann ich’s schon. Un­ten ging die Hau­stü­re, viel­leicht hat der Brief­trä­ger mir einen Brief ge­bracht.«

»Gut, ich gehe schon«, sag­te Frau Böhk, die doch et­was von dem wah­ren Sach­ver­halt zu ah­nen schi­en, »in zehn Mi­nu­ten bin ich wie­der bei Ih­nen.«

Nun war Rosa mit ih­rem Kin­de al­lein und durf­te sich ganz dem An­blick des klei­nen, sor­gen­vol­len Ge­sich­tes wid­men, konn­te un­ge­stört der won­ni­gen Auf­re­gung Raum ge­ben, die in ihr zit­ter­te. Nicht Ge­dan­ken be­schäf­tig­ten sie, es war ein nie emp­fun­de­nes Über­wal­len ih­res Ge­füh­les, das sie ver­klär­te. Ihr gan­zes We­sen ver­senk­te und ver­lor sich in das jun­ge Le­ben an ih­rer Brust. Der Bund er­wa­chen­der Mut­ter­lie­be, der dort in dem Ti­glau­er Gie­bel­stüb­chen ge­schlos­sen ward, be­stand in ei­nem plötz­li­chen und voll­stän­di­gen Aus­lie­fern des ei­ge­nen Da­seins an das Kind. Zum ers­ten Male trat Ro­sas See­le aus ih­rer Ein­sam­keit her­aus, um sich mit ei­nem an­de­ren We­sen eins zu füh­len.

 

Als Rosa sich ih­rer Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit mit dem Kin­de be­wusst ward, be­gann sie in ru­hi­ger Ver­trau­lich­keit sich mit ihm zu schaf­fen zu ma­chen, mit ihm lei­se zu spre­chen: »Wie? Du willst nicht mehr trin­ken? Nein, lass es nur, schla­fe, ich hal­te dich. So, lehn dich an mich. Hier darf nie­mand dir et­was tun. Nie­mand darf dich fort­neh­men. Hier kannst du ru­hig schla­fen.«

Das Kind schi­en sie zu ver­ste­hen. Es wein­te nicht mehr, son­dern lehn­te sei­ne wei­che Wan­ge an die Brust sei­ner Mut­ter, und der klei­ne Kör­per zog sich in sich selbst zu­sam­men, wie es Men­schen tun, die sich be­hag­lich füh­len. – Von jetzt an trug Rosa ihre Krank­heit mit Un­ge­duld. Sie wäre gern kräf­tig und Herr ih­rer Be­we­gun­gen ge­we­sen, um ganz al­lein ih­rem Kin­de die­nen zu dür­fen. Mit miss­traui­scher Ei­fer­sucht be­trach­te­te sie es, wie die Leb und Frau Böhk das Klei­ne um­bet­te­ten und be­pfleg­ten. Sie sehn­te sich nach der Zeit, da sie al­lein das Kind wür­de be­rüh­ren dür­fen. Sol­che Un­ge­duld glaub­te Rosa nur als ganz klei­nes Mäd­chen schon emp­fun­den zu ha­ben. In der Nacht, die dem Chri­sta­bend folgt, pfleg­te sie in ih­rem Bett zu lie­gen und vor Un­ge­duld mit den Fü­ßen zu zap­peln, wün­schend, die Nacht wäre vor­über, und sie dürf­te wie­der bei den neu­en, blan­ken Sa­chen sein.

Drittes Kapitel

Dür­re, schwü­le Ju­li­ta­ge wa­ren an­ge­bro­chen. Den Tag über muss­te man die Fens­ter des Gie­bel­stüb­chens dicht ver­hän­gen, um der Son­ne und der Hit­ze zu weh­ren. Dort saß Rosa an der Wie­ge ih­res Kin­des. Sie durf­te schon das Bett ver­las­sen, sich re­gen und frei schaf­fen. Das Ge­sicht war noch von überz­ar­ter Bläs­se, zeig­te je­doch einen ru­hig be­frie­dig­ten Aus­druck. Rosa fühl­te das wohl. Das ste­te Rin­gen, das qual­voll ver­wi­ckel­te Grü­beln, mit dem sie doch nim­mer ins rei­ne kam, wa­ren fort, wa­ren von dem In­ter­es­se an den klei­nen Vor­komm­nis­sen der Kin­der­stu­be ver­drängt. Die Vor­hän­ge, die das Fens­ter ver­hüll­ten, ver­hüll­ten für Rosa auch die gan­ze üb­ri­ge Welt. Nur das Gie­bel­stüb­chen blieb, des­sen Mit­tel­punkt die Wie­ge bil­de­te.

Lan­ge Stun­den ein­sa­men Still­sit­zens ka­men auch jetzt zu­wei­len. Das Klei­ne schlief. Rosa saß ihm zu Häup­ten und wehr­te mit ei­nem Er­len­zweig den Flie­gen. Aber nie – nie ward sie mehr von dem na­gen­den Seh­nen nach Freu­den und Glück, von dem bit­tern Be­dau­ern der Ver­gan­gen­heit ge­quält. Farb­los und fern er­schi­en ihr die Zeit, da das Klei­ne noch nicht war. Na­tür­lich war sie da­mals un­glück­lich ge­we­sen; jetzt ver­stand sie das, denn sie blick­te auf jene Zeit mit ru­hi­ger Über­le­gen­heit zu­rück.

Nach Lie­be hat­te die­ses lei­den­schaft­li­che Mäd­chen­herz ver­langt. Es war ihm in ih­rer Ab­ge­schlos­sen­heit zu eng ge­wor­den, es hat­te die Lie­be be­schleu­ni­gen, er­zwin­gen, sich zu ihr über­re­den wol­len. Jetzt, da sich die Lie­be in ih­rer gan­zen Wirk­lich­keit und Rein­heit nah­te, jetzt gab sich ihr die­ses Herz rück­halt­los hin und war tief be­ru­higt. Dass der Ge­dan­ken- und Wir­kungs­kreis sich eng um das klei­ne nack­te Kin­des­haupt zu­sam­men­zog, über­seh­bar, ver­ständ­lich und ganz mit Lie­be aus­ge­füllt, das brach­te den Frie­den über Rosa.

All­zu­viel Zeit zum Nach­den­ken fand sie oh­ne­hin nicht. Das Klei­ne war un­ru­hig, wein­te viel. Oft muss­te Rosa es die gan­ze Nacht über auf ih­ren Ar­men wie­gen. Dann stu­dier­te sie eif­rig die­ses klei­ne We­sen, das da schrie und nicht still sein woll­te. Wo fehlt es ihm? Was will es? Sie wand­te es hin und her – sie frag­te, un­ter­such­te es, leg­te es an die Brust, und half al­les nichts, dann wein­te Rosa über das un­er­bitt­li­che klei­ne Rät­sel.

»Wie kann ich dir denn hel­fen, wenn du mir nicht sagst, wo es dich schmerzt? Ich will ja nicht, dass du lei­den sollst. Al­les, nur das nicht! Aber, wie kann ich’s än­dern? So wei­ne doch nicht, mein En­gel, bit­te, wei­ne nicht. Sei ver­nünf­tig. Zei­ge mir, was du willst.«

Ei­nes Ta­ges, da Rosa wie ge­wohnt ne­ben ih­rem schlum­mern­den Kin­de saß, lä­chel­te die­ses im Schlaf. Die schma­len ro­ten Li­ni­en der Lip­pen ver­zo­gen sich und zuck­ten. Rosa beug­te sich ganz nahe auf die­se Lip­pen her­ab. Ja, un­zwei­fel­haft! Das war Am­bro­si­us’ Lä­cheln, das sanftspöt­ti­sche Em­por­zie­hen des rech­ten Mund­win­kels, das Grüb­chen in der Wan­ge. »Nun das wie­der!« sprach Rosa vor sich hin, wie je­mand, dem wie­der eine Freu­de ge­stört wird. Sie war im Be­griff, das Kind zu we­cken. So soll­te es nicht lä­cheln. Doch sie be­sann sich, küss­te be­hut­sam die Stirn des Kin­des, und ihr Ge­sicht nahm wie­der sei­nen mil­den, be­ru­hig­ten Aus­druck an: Das Klei­ne soll­te fort­lä­cheln. Es ge­hör­te ja ihm auch, und um des Kin­des wil­len woll­te sie die­ses Lä­cheln, woll­te sie ihn lie­ben. Ge­hasst hat­te sie Am­bro­si­us nie, dazu war ihre Lie­be zu we­nig tief und wahr ge­we­sen. Jetzt, an der Wie­ge ih­res Kin­des, dach­te sie ohne Bit­ter­keit und Auf­re­gung an Am­bro­si­us. Es galt ihr als aus­ge­macht, dass sie trotz al­lem doch zu ihm ge­hör­te. Er war der Va­ter ih­res Kin­des.

Dann wie­der schnür­te eine große Ban­gig­keit Rosa das Herz zu­sam­men. Am­bro­si­us’ lüs­tern-sü­ßes Lä­cheln in die­sem Kin­der­ge­sicht er­schi­en ihr wie eine Ge­fahr für das Kind. Wur­de es da­durch nicht der bö­sen Welt nä­her­ge­bracht? Stör­te es nicht den Kin­des­frie­den? Gro­ßes Mit­leid er­griff Rosa, Mit­leid für den klei­nen Mär­ty­rer, der nicht ahn­te, was sei­ner harr­te. Ach Gott, blieb das Kind doch im­mer so klein, dass sie es vor dem feind­li­chen Le­ben schüt­zen könn­te. Doch Rosa lä­chel­te über ihre eig­nen Ge­dan­ken. Noch hat­te das Klei­ne vie­le Jah­re in ih­ren Ar­men Raum, und nie­mand durf­te es krän­ken. Es soll­te glück­lich sein und oft – oft lä­cheln, wenn es auch Am­bro­si­us’ Lä­cheln war!

Wäh­rend der fol­gen­den Nacht muss­te Rosa das Kind be­stän­dig auf ih­ren Ar­men wie­gen, denn es schrie und jam­mer­te kläg­lich. Plötz­lich wur­den die Glie­der des Kin­des steif, das Ge­sicht nahm eine blau­ro­te Far­be an, und der Kopf wur­de krampf­haft zu­rück­ge­ris­sen. An­fangs war Rosa starr vor Schreck, dann rief sie nach Frau Böhk, nach ei­nem war­men Bade. Eine ziel­be­wuss­te Ge­schäf­tig­keit trat an die Stel­le des ers­ten Schre­ckens und ließ für die Sor­ge kaum Raum üb­rig. Erst als das Kind wie­der ru­hig auf den Kni­en sei­ner Mut­ter schlief, fühl­te die­se am Be­ben ih­res gan­zen We­sens, wie furcht­bar es sie er­schüt­tert hat­te, ihr Kind lei­den zu se­hen. Bleich und ernst auf das Kind nie­der­ge­beugt, saß sie noch da, als die Son­ne schon hoch am Him­mel stand. Frau Böhk trat in das Zim­mer. »Jetzt scheint es vor­über zu sein. Gott sei Dank«, sag­te sie und setz­te sich auf einen Stuhl.

»Ja«, er­wi­der­te Rosa, »es schläft ru­hig. Wir wol­len lei­se spre­chen, da­mit es nicht er­wacht.«

Frau Böhk lach­te. »Ach was, das stört so ’n klei­nen Kerl nicht. Von der Stim­me der Böhk ist noch kein Kind auf­ge­weckt wor­den, will ich mei­nen. Aber«, füg­te sie hin­zu und rieb sich be­däch­tig die Schen­kel, »ich woll­te Sie fra­gen, lie­bes Kind, wie wird es mit der Tau­fe? Mor­gen ist Sonn­tag; da ha­ben wir den Pfar­rer.«

»Hat denn das Eile?« frag­te Rosa er­staunt. »Ag­nes woll­te kom­men; und dann…«

»Gut, gut! Ich ver­ste­he schon. Ich mei­ne aber ge­ra­de, wir kön­nen nicht war­ten.«

»Wie?«

»Ver­ste­hen Sie mich recht, lie­bes Fräu­lein.«

Frau Böhk mach­te ein stren­ges, höf­li­ches Ge­sicht. »Das Kind hat in vo­ri­ger Nacht böse Krämp­fe ge­habt und ist über­haupt ein ver­teu­felt zar­tes Würm­chen. Je­dem Men­schen kann et­was zu­sto­ßen, wie viel mehr ei­nem so schwa­chen Kin­de. Nicht? – Ich habe nun dar­auf zu se­hen, dass ein Kind ge­tauft ist, wenn et­was pas­siert. Da­für wer­de ich ver­ant­wort­lich ge­macht, nie­mand an­de­res. Von der Tau­fe ist auch noch kein Kind ge­stor­ben.«

Rosa hat­te ernst zu­ge­hört, nun schau­te sie auf ihr Kind nie­der, das ru­hig in ih­ren Ar­men schlum­mer­te. Sie lä­chel­te. »Nein, Frau Böhk«, sag­te sie. »Das wird es nicht tun, das nicht! Ster­ben kann es nicht.«

Un­ge­dul­dig er­hob sich Frau Böhk. »Kann – kann! Wa­rum kann es nicht? Wir alle kön­nen heu­te oder mor­gen ster­ben. Ich sage nur: Die Verant­wor­tung hab ich zu tra­gen. An mich muss ich auch den­ken.«

»Ich habe ja nichts da­ge­gen, dass mor­gen die Tau­fe ist«, be­schwich­tig­te Rosa die Heb­am­me. »Herr Böhk ist viel­leicht so gut, der Pate des Klei­nen zu sein. Ich sage nur…«

»Dann ist ja al­les in Ord­nung«, rief Frau Böhk er­leich­tert aus. »Der Pfar­rer kommt oh­ne­hin nur alle vier­zehn Tage vom Schloss zu uns her­über, dem Kin­de wird’s auch gut­tun, ein Christ zu wer­den. Her­nach trin­ken wir Scho­ko­la­de. Das muss so sein; das ist selbst­ver­ständ­lich. Ich be­sor­ge schon das nö­ti­ge, spä­ter be­rech­nen wir uns. Die Leb hab ich auch ein­ge­la­den. – Sie sind ein lie­bes, ver­nünf­ti­ges Kind.«

Als Frau Böhk fort war, blick­te Rosa sin­nend ihr Kind an. Die Heb­am­me hat­te sie er­schreckt. So et­was war nicht mög­lich! Die­ses arme, zar­te Kind­chen und eine so grau­sa­me, fins­te­re Sa­che wie der Tod, was konn­ten die ge­mein ha­ben? »Nein, das tust du nicht, mein En­gel! Das werd ich dir nie er­lau­ben«, flüs­ter­te sie.

Der Sonn­tagnach­mit­tag war für die Fa­mi­lie Böhk voll großer Ge­schäf­tig­keit. Schon das Auf­set­zen der Hau­be mit den gel­ben Bän­dern, die Frau Böhk nur an Tauf­ta­gen aus dem Kas­ten nahm, war ein Er­eig­nis. Herr Böhk, als der Wel­ter­fah­rens­te, be­sorg­te das. »Sitz still, Frau Böhk!« be­fahl er. »Die eine Sei­te mit der großen Rose muss zu­rück­ge­scho­ben wer­den, sonst sieht es steif aus. Eine Hau­be muss ein we­nig schief sit­zen, nicht ge­ra­de wie eine Nacht­müt­ze. Nein, ein we­nig, wie soll ich sa­gen? Ein we­nig lie­der­lich muss es aus­se­hen; so – so – ›Komm und küs­se mich‹ – ver­stehst du?«

»Böhk, Böhk!« mahn­te die Heb­am­me. »Dass du mich nicht ganz gott­los her­rich­test!«

»Nein, Wil­hel­mi­ne!« er­wi­der­te Herr Böhk über­le­gen. »Du kannst ru­hig sein. Für die Wür­de ist ge­sorgt, aber auch für die Schön­heit. So, jetzt siehst du gut aus, blü­hend – gelb und rot.«

Für sich hol­te Herr Böhk einen Frack, wei­ße Hand­schu­he und einen Zy­lin­der aus dem Kas­ten. Er war stolz auf die­se Sa­chen. Die Schö­ße des Frackes vor­sich­tig in der Hand hal­tend, ging er mit aus­ge­bo­ge­ner Tail­le fei­er­lich im Zim­mer auf und ab, ge­folgt von sei­nem Sohn, der über die Klei­dung des Va­ters spot­te­te. »Wie dumm das ist, so ’n Frack.«

»Dumm?« er­wi­der­te Herr Böhk hoch­mü­tig. »Der Frack ist hier nicht der Dum­me.«

»Da fehlt ja vor­ne was!«

»Lie­ber Hans, dir fehlt et­was.«

Die­ses Mal nahm Frau Böhk die Par­tei ih­res Man­nes. »Lass ihn, Hans, du ver­stehst wirk­lich nichts da­von.« Sie heg­te selbst große Ach­tung vor die­sem Klei­dungs­stück.

End­lich war al­les be­reit, man woll­te je­doch noch war­ten, bis der Got­tes­dienst aus­ge­läu­tet wur­de, um das Ge­drän­ge zu ver­mei­den. Rosa hielt das Kind auf dem Schoß. Sie trug heu­te ihr wei­ßes Mus­se­lin­kleid und wei­ße Ro­sen im Haar. Wer sie da­sit­zen sah mit dem er­reg­ten blas­sen Ge­sicht, hät­te sie für ein klei­nes Mäd­chen ge­hal­ten, das man zur Ein­seg­nung führt.

»Also das Kind wird Ernst nach Ihrem Herrn Papa und Ar­nold nach mir hei­ßen?« frag­te Herr Böhk und blieb vor dem Täuf­ling ste­hen. Rosa nick­te. Da beug­te er sich auf das Kind her­ab und sag­te ge­rührt: »Was machst du, klei­nes Ar­nold­chen?«

Als die Kir­chen­glo­cken zu läu­ten be­gan­nen, mach­te sich die Tauf­ge­sell­schaft auf den Weg. Sie hat­te es nicht weit; links hin­ter dem Böhkschen Hau­se lag die Kir­che auf ei­ner An­hö­he, dicht von al­ten Ahorn­bäu­men um­ge­ben. Sie war ein acht­e­cki­ger Pa­vil­lon ohne Turm. Das fla­che Land und die Nähe der See lie­ßen be­fürch­ten, ein Turm könn­te die Schif­fe ir­re­lei­ten.

Der Got­tes­dienst war zu Ende. Eine große Men­schen­men­ge be­weg­te sich die An­hö­he her­ab.

In der licht­vol­len At­mo­sphä­re des Ju­li­ta­ges nah­men die sonn­täg­li­chen Ge­stal­ten, die Bäu­me, die Kir­che mit ih­rem spit­zen Zie­gel­dach lus­ti­ge, schrei­en­de Far­ben an. Die klei­ne Schar, von Frau Böhk ge­führt, ging zu­erst in die Sa­kris­tei. In dem klei­nen Ge­mach mit den nack­ten wei­ßen Wän­den saß der Pfar­rer an ei­nem Tisch: ein di­cker al­ter Herr mit ei­nem sehr wei­ßen, un­freund­li­chen Ge­sicht. Er wand­te sich has­tig nach den Ein­tre­ten­den um und sag­te ver­stimmt:

 

»Wa­rum kom­men Sie nicht zur rech­ten Zeit?«

Frau Böhk mach­te einen Knicks und ent­schul­dig­te sich: »Wir war­te­ten, bis der Got­tes­dienst…«

»Der ist lan­ge schon zu Ende«, un­ter­brach sie der Pfar­rer. »Um fünf Uhr muss ich zum Di­ner im Schloss sein. Nun also schnell. Wo ist das Kind?«

Er warf einen prü­fen­den Blick auf Rosa, fass­te sei­nen Talar vorn zu­sam­men und ging vor­an in die Kir­che.

Auf Frau Böhks An­ord­nung muss­te Rosa sich in einen Kir­chen­stuhl set­zen, wäh­rend die an­de­ren mit dem Kin­de vor dem Al­tar stan­den. Durch die ho­hen Fens­ter schi­en die Son­ne voll her­ein und ba­de­te die Holz­ga­le­rie des Chors, die ver­gol­de­ten Holz­blu­men des Al­tar­blat­tes in gel­bem Licht.

Auf dem Al­tar fun­kel­ten der Kelch und die Leuch­ter; über­all ein re­ges Glim­men und Flim­mern. In den Kir­chen­stüh­len la­gen wel­ken­de Jas­mins­ten­gel und Feld­blu­men, die Kin­der und Mäd­chen mit her­ein­ge­nom­men und dort ver­ges­sen hat­ten. Eine Schwal­be hat­te sich in die Kir­che hin­ein­ver­irrt und zog ihre Krei­se oben an der ge­wölb­ten De­cke, kur­ze sanf­te Rufe aus­sto­ßend.

Herr Böhk ließ sich das Kind auf die Arme le­gen; Frau Böhk, Gre­the, die Leb stan­den an­däch­tig mit ge­fal­te­ten Hän­den ne­ben ihm. Der Pfar­rer blät­ter­te in ei­nem Buch und zog das Ge­sicht in fet­te Fal­ten, weil die Son­ne ihm in die Au­gen schi­en. Das Kind wim­mer­te – ein lei­ser Ton, wie das Zwit­schern der Schwal­be oben an der Wöl­bung. Hin­ter sich hör­te Rosa vor­sich­ti­ge Schrit­te auf den Flie­sen. Die Leu­te ka­men von drau­ßen wie­der in die Kir­che, stan­den an den Kir­chen­stüh­len und hör­ten zu. Jetzt war der Pfar­rer be­reit. Er wisch­te sich mit zwei Fin­gern die Mund­win­kel und hielt eine kur­ze An­re­de, lei­se und schnell spre­chend, wie je­mand, der bald fer­tig zu sein wünscht. Er mach­te die El­tern und Tauf­pa­ten dar­auf auf­merk­sam, dass ein Kind ein teu­res, ih­nen an­ver­trau­tes Gut sei, über das sie einst Re­chen­schaft ab­le­gen müs­sen. Nicht den El­tern ge­hö­re das Kind, son­dern Gott, und Gott wa­che ei­fer­süch­tig über sein Ei­gen­tum, wie der Bi­bel­spruch es schon be­sa­ge: »Bei dei­nem Na­men habe ich dich ge­ru­fen, in mei­ne Hän­de hab ich dich ge­zeich­net, du bist mein.«

Rosa ent­sann sich nicht, dass bis­her eine kirch­li­che Hand­lung auf sie großen Ein­druck ge­macht hät­te. Das Frös­teln un­ter der küh­len Kir­chen­wöl­bung war für sie stets der In­be­griff der An­dacht ge­we­sen. Heu­te aber er­reg­te die Stim­me des Pfar­rers in ihr erns­te Rüh­rung. All die from­men Wor­te wur­den ja zu ih­rem Kin­de ge­spro­chen, hat­te auf die­ses Be­zug. Es freu­te sie zu hö­ren, dass ein so all­mäch­ti­ger Be­schüt­zer sich ih­res Kin­des an­nahm, ihr half, es zu ver­tei­di­gen. Da­für nahm Rosa sich vor, recht fromm zu sein, al­les zu tun, wo­von der Pfar­rer Ra­ser im Kon­fir­ma­ti­ons­un­ter­richt ge­sagt hat­te, dass Gott es von den Men­schen ver­lan­ge. Wenn Gott nur auf das Klei­ne recht Obacht ge­ben wür­de.

Der Pfar­rer schwieg. Frau Böhk nes­tel­te dem Kin­de das Häub­chen auf, und die Tau­fe be­gann. Alle spra­chen das Cre­do; der Pfar­rer eil­te mit sei­ner rou­ti­nier­ten Stim­me vor­aus, Herr Böhk, der Pa­thos hin­ein­le­gen woll­te, blieb stets um einen Satz zu­rück, bis sei­ne Frau ihn mit dem El­len­bo­gen in die Sei­te stieß; da schwieg er är­ger­lich ganz. Nun war es zu Ende. Der Pfar­rer ging ohne Gruß fort, er fürch­te­te, zu spät zum Di­ner zu kom­men.

»Den Tauf­schein und das üb­ri­ge be­sor­ge ich mor­gen«, mein­te er.

Die an­de­ren gin­gen auch heim.

Über die Wie­se wa­ren zahl­rei­che Spa­zier­gän­ger ver­teilt, vie­le bun­te Punk­te, die sich be­weg­ten und durch­ein­an­der­rann­ten. Ti­glau lag ganz im Laub ver­steckt da, und über all­dem web­te ein bläu­li­cher Dunst, der zu le­ben schi­en, blick­te man hin­ein.

Ge­müt­lich, mit klei­nen Schrit­ten, ging die Tauf­ge­sell­schaft heim. Herr Böhk er­zähl­te sei­ne Er­leb­nis­se: Er hat­te ge­fürch­tet, das Kind fal­len zu las­sen. Der Pfar­rer hat­te ihm den Frack mit Tauf­was­ser be­sprengt. Die Leb fand die hei­li­ge Hand­lung sehr er­bau­lich, was Herr Böhk be­stritt.

»Das Glau­bens­be­kennt­nis schleu­der­te er nur so hin.«

Frau Böhk zuck­te die Ach­seln.

»Es war heu­te ge­ra­de so wie im­mer«, sag­te sie.

Für sie, die so vie­le Tau­fen mit­ge­macht hat­te, war eine Tau­fe kein Er­eig­nis mehr.

Zu Hau­se trank man Scho­ko­la­de. Frau Böhk und Gre­the nes­tel­ten sich die en­gen Fei­er­tags­ja­cken auf. Herr Böhk steck­te sich eine Ser­vi­et­te hin­ter den Hemd­kra­gen.

»Du soll­test den Frack lie­ber aus­zie­hen«, riet sei­ne Frau.

Er ent­geg­ne­te je­doch sehr ge­reizt: »Wa­rum? Lass mich doch.«

Er fand so sel­ten Ge­le­gen­heit, den Frack an­zu­le­gen; jetzt, da sie sich bot, woll­te er sie aus­nut­zen.

»Sehr gut«, mein­te die Leb und nick­te ih­rer Tas­se zu. »Auch der Stol­len ist gut. Zu­wei­len ge­lingt es dem Bä­cker. Der Arme! Weiß Gott, wen er hei­ra­ten wird! Denn hei­ra­ten muss er – mit so vie­len klei­nen Kin­dern.«

Nun sprach man von der Bäcke­rin. Ein je­der gab zwi­schen ei­nem Schluck Scho­ko­la­de und ei­nem Bis­sen Stol­len sei­ne Mei­nung ab. Durch die ge­öff­ne­ten Fens­ter sah man auf den stil­len Hof und den Gar­ten hin­aus, wo Feu­er­li­li­en und ei­ni­ge Ro­sen­bü­sche re­gungs­los im Abend­son­nen­schein stan­den. Von der Wie­se tön­ten Rufe und Stim­men der sonn­täg­li­chen Spa­zier­gän­ger her­über.

Rosa schwieg und ließ sich von ei­nem an­ge­neh­men Fei­er­tags­ge­fühl wie­gen. Die hel­le Welt rings­um be­ru­hig­te sie. Hier war es be­hag­lich und son­nig. Die rech­te Welt für den klei­nen Ernst. Eine lan­ge, licht­vol­le Zu­kunft, ver­lo­ren in der stil­len Ebe­ne, ein un­ge­stör­tes Zu­sam­men­sein mit ih­rem Kin­de, ein Le­ben voll war­mer Lie­be tat sich ihr auf und trös­te­te sie. Oben bei ih­rem Kin­de woll­te sie die­sen Traum wei­ter­träu­men.

»Ah, Sie ge­hen zu un­se­rem jun­gen Chris­ten?« frag­te die Leb ge­fühl­voll.

»Ar­nold­chen wird wohl schla­fen«, füg­te Herr Böhk hin­zu.

»Ernst wird er ge­nannt«, ver­bes­ser­te Gre­the.

Herr Böhk aber mach­te eine weg­wer­fen­de Hand­be­we­gung. Er wuss­te wohl, was er tat. Er war der Pate, er nann­te das Kind Ar­nold; die an­de­ren konn­ten es hal­ten, wie sie woll­ten, für ihn gab es kei­nen Ernst.

In ih­rer Kam­mer drück­te Rosa das Kind fest an ihre Brust und sprach ihm lei­se zu:

»Wei­ne nicht. Hör­test du nicht, wie der Herr Pfar­rer sag­te, dass der lie­be Gott mir hilft, dich be­wa­chen! Sei nur ru­hig, groß und schön wirst du wer­den. Du wirst nie­man­den be­trü­gen. Du wirst zu lie­ben ver­ste­hen – wirst dei­ne alte Mut­ter sehr – sehr treu lie­ben, denn sie hat es nö­tig. Du wirst von al­lem Gars­ti­gen, das sie er­lebt hat, nichts wis­sen, und wenn du bei ihr bist, wird sie al­les, was sie ge­tan und ihr an­de­re an­ge­tan, ver­ges­sen. Nicht wahr?«