Für Rosa begann jetzt ein wunderliches Pflanzenleben. Einem Gedanken zu folgen, sich einer Träumerei hinzugeben, wie sie es sonst wohl liebte, vermochte sie nicht mehr. Sie konnte nur still daliegen und in sich hineinhorchen. In ihrem Kasten hatte sie eine Flasche Rosenessenz entdeckt, die Ambrosius ihr einst verehrt hatte. Er liebte diesen Duft. Alles an ihm, sein Haar, sein Schnurrbart, seine Kleider dufteten nach Rosenessenz. Jetzt, als Rosa die Flasche fand, brachte dieser Duft ihr die alten Erinnerungen mit erschreckender Deutlichkeit wieder. Angewidert von den aufsteigenden Bildern, warf sie die Flasche beiseite und ging in den Garten hinab. Dort lag sie im Sonnenschein auf der Schaukelbank und starrte mit halbgeschlossenen Augen zum Himmel auf. Nach kurzer Zeit jedoch erfasste sie ein quälendes Verlangen nach dem schwülen Duft der Rosenessenz; er war ihr zuwider, und dennoch!… Sie musste wieder zu ihrer Kammer hinaufsteigen, die Türe schließen, als hätte sie etwas Unerlaubtes vor, und sich an dem süßen Duft berauschen, bis der Ekel ihr die Kehle zuschnürte und sie die Flasche übersatt fortwarf.
Dieses rein leibliche Leben, in das Rosa versank, bedrückte sie zuweilen; die Zeit wurde ihr lang. Sie musste beständig auf die Mahlzeiten warten, ins Haus hinüberhorchen, ob Grethe nicht schon mit den Tellern klapperte, musste nach der Uhr sehen, ob es nicht Schlafenszeit sei, und misslang eine Speise, auf die sie sich gefreut hatte, oder störte jemand ihre Bequemlichkeit, dann konnte sie vor Zorn weinen, als sei ihr schweres Unrecht zugefügt worden. Außer ihrem körperlichen Zustande verlor alles für Rosa an Interesse. Die Natur zwang sie, nur ihrer Frauenpflicht zu leben, nur des zukünftigen Kindes wegen da zu sein. In manchen Augenblicken ahnte Rosa das Geheimnis, das einen so großen Wandel über Geist und Körper brachte. Sie staunte darüber, und ihr ward ein wenig bang. Es war zu fremd und unbehaglich, sich selbst nicht mehr ganz anzugehören.
In einer Nacht – Ende Juni – fühlte Rosa heftige Schmerzen und rief nach Hilfe. Frau Böhk ward geholt, und diese sagte munter, als sie Rosa sah: »An die Arbeit – an die Arbeit.«
Viele Stunden hindurch quälte sich Rosa. Bewusstlos vor Schmerz, hatte sie stets das Gefühl, als müsste sie eine schwere Last mit aller Anstrengung weiterschieben; dann plötzlich verließen sie die Kräfte, eine große Ruhe kam über sie, und regungslos lag sie da. Sie hörte, wie man um sie flüsterte, leise ab und zu ging. Wenn sie die schweren Augenlider halb emporhob, sah sie die Dämmerung des Krankenzimmers von grellen Lichtstreifen durchzogen. Im fieberhaften Halbschlummer suchte sie diese Erscheinung zu ergründen, mühte ihren armen, schmerzenden Kopf mit der Frage ab: Wo kommen die Lichtstreifen her? Endlich fand sie die Energie, die Augen vollends aufzuschlagen, Nun erkannte sie, dass das Fenster mit Tüchern verhangen war und das Tageslicht sich zwischen denselben hindurchstahl. Ja – auch die Gegenstände im Zimmer unterschied sie jetzt deutlich. Dort – in der Ecke – saß jemand, eine kleine schwarze Gestalt. Ah, das war die Leb. Sie schlummerte, den Kopf zurückgebogen; ein Sonnenstrahl traf ihre flachen, rotbraunen Haarbänder an den Schläfen und die rotgeränderten, faltigen Augenlider. Ja – das war die Leb, denn Frau Böhk war so beschäftigt, dass sie ihre Kranken oft verlassen musste; dieser Satz klang Rosa noch von der Krebspartie her in den Ohren.
Neben Rosas Bett standen zwei Stühle dicht beieinander; ein Polster lag auf ihnen, Leinzeug und ein dichter weißer Schleier, der etwas bedeckte. Rosa blickte scharf hin. Was war das? Am Ende…! Freilich, irgendwo musste ja doch ein Kind sein, das war klar. Gern hätte sie den Schleier fortgezogen; sie wagte es jedoch nicht. Sie wartete; wird es sich regen?
Sehr still war es im Krankenzimmer, nur Frau Leb stieß zuweilen einen leisen Kehllaut aus.
Den Kopf gehoben, die Augen sehr groß in dem bleichen Gesicht, beobachtete Rosa das weiße Paket nebenan. Jetzt hatte sie einen Ton vernommen. Sie beugte sich vor. Eine zarte Röte überflog ihr Gesicht, und wie erschrocken öffnete sie die Lippen. Da war er wieder, dieser Ton! Ganz fein, ein wenig knarrend; wie der Laut, den manche Puppen von sich geben, wenn man sie drückt. Was sollte Rosa beginnen? Die Leb schlief. Etwas musste aber doch geschehen! Wenn man wimmert, so bedarf man der Hilfe, nicht wahr? Rosa streckte die Hand aus und blickte scheu zur Leb hinüber. Die Hand, während sie den Schleier fasste, zitterte. doch zog sie ihn entschlossen herab.
Auf dem Polster lag ein winziges rotes, faltiges Gesicht, aber unzweifelhaft ein Gesicht: Da war eine Nase, ein Mund, eine Stirn, über die sorgenvolle Furchen hinliefen, Augenlider, so durchsichtig und geädert wie bei jungen Vögeln, die Augenlider zuckten, hoben sich – und ließen zwei blanke, runde Punkte sehen. Der Mund, der wie ein winziges Tröpfchen roter Farbe unter der Nase saß, verzog sich, öffnete sich und stieß wieder den knarrenden Puppenlaut aus. Rosa erschrak: Warum weinte es? Was sollte sie tun? Ach Gott, erwachte doch die Leb! »Frau Leb, Frau Leb!« Vergebens! Rosa sank in ihre Kissen zurück und weinte auch; sie wusste sich nicht anders zu helfen.
Das Wimmern des Kindes musste doch bis zur Frau Leb gedrungen sein, denn diese erwachte plötzlich, eilte zum Kinde, sprach leise mit ihm, rückte es zurecht und gab ihm etwas zu trinken. Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie, dass Rosa wach dalag. Sie lächelte ihr zu: »Guten Tag, Fräulein! Aber Sie weinen ja?«
»Oh, es ist nichts!« erwiderte Rosa befangen, »das – das Kleine weinte, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
»Hat man so etwas gesehen?« lachte die Leb in sich hinein, »über so etwas zu weinen! Lassen Sie das Kind nur schreien, das ist ihm gesund, das ist seine Arbeit. Solch ein Wurm will auch zeigen, dass er lebt. Also – betrachtet haben Sie’s schon? Das ist gut! Ein ganz fehlerloser Bub, nicht? Ein wenig klein und leicht, aber solche kommen oft besser fort als die dicken und schweren, da kann man schon gratulieren. Bei einer ersten Niederkunft geht’s nicht immer so glatt ab. Wollen Sie das Kind nehmen?«
»Nein – ich danke«, versetzte Rosa zögernd, »schlafen möchte ich.«
»Freilich!« meinte die Leb, »ein Kind in die Welt setzen ist keine Kleinigkeit. Wenn die Männer über schwere Arbeit klagen, sag ich immer: Ihr solltet ein Kind zur Welt bringen, da würdet ihr wissen, was Arbeit heißt; das ist schwerer als Holz spalten und pflügen. Nun, schlafen Sie, mein Engelchen!«
Rosa schloss die Augen und sagte leise: »Bitte, Frau Leb, schieben Sie die Stühle näher an mein Bett«, und als die Frau Leb die Stühle mit dem Kinde näher an das Bett gerückt hatte, lächelte Rosa und meinte: »So ist es gut. danke, Frau Leb.«
Die Schwäche in allen Gliedern brachte einen wohligen Frieden über sie und einen süßen, traumlosen Schlummer. Die Leb setzte sich mit ihrem Strickstrumpf an das Fenster, und tiefe Ruhe herrschte wieder im Krankenzimmer.
Im engen Giebelstübchen lagen Rosa und ihr Kind nebeneinander und warteten, dass das mächtige Band, mit dem eins an das andere geknüpft werden sollte, sich fühlbar mache. Rosas Blicke ruhten unausgesetzt auf dem weißen Paket wie auf einem Gegenstande, von dem sie eine große Wirkung auf sich erwartete. Sie ließ zwar die Leb für das Kind sorgen, beobachtete es jedoch eifersüchtig, als sei es ein Geschenk, das ihr noch nicht feierlich übergeben worden war, von dem sie aber wusste, dass es ihr gehören sollte. Erst als Frau Böhk ihr das Kind zum ersten Male an die Brust legte, empfand Rosa voll ihren Besitz. Sie nahm das Kind in ihre Arme, fühlte den Pulsschlag dieses zarten Lebens, fühlte, wie die warmen Lippen sich an ihre Brust festsogen, und ein heißes, tiefinneres Behagen durchwallte sie. Ihre Glieder bebten leicht. Am liebsten hätte sie mit all ihrer Kraft das Kind an sich gedrückt, hätte sie nicht gefürchtet, ihm Schaden zuzufügen. So hielt sie denn ganz still, das sonst so erregte, wechselvolle Mädchengesicht nahm einen Ausdruck milden Ernstes an, der ihm bisher fremd gewesen war. Dieser Augenblick hatte für Rosa soviel Feierliches, dass die Gegenwart der Hebamme sie störte. »Sie sehen, Frau Böhk«, sagte sie errötend, »nun kann ich’s schon. Unten ging die Haustüre, vielleicht hat der Briefträger mir einen Brief gebracht.«
»Gut, ich gehe schon«, sagte Frau Böhk, die doch etwas von dem wahren Sachverhalt zu ahnen schien, »in zehn Minuten bin ich wieder bei Ihnen.«
Nun war Rosa mit ihrem Kinde allein und durfte sich ganz dem Anblick des kleinen, sorgenvollen Gesichtes widmen, konnte ungestört der wonnigen Aufregung Raum geben, die in ihr zitterte. Nicht Gedanken beschäftigten sie, es war ein nie empfundenes Überwallen ihres Gefühles, das sie verklärte. Ihr ganzes Wesen versenkte und verlor sich in das junge Leben an ihrer Brust. Der Bund erwachender Mutterliebe, der dort in dem Tiglauer Giebelstübchen geschlossen ward, bestand in einem plötzlichen und vollständigen Ausliefern des eigenen Daseins an das Kind. Zum ersten Male trat Rosas Seele aus ihrer Einsamkeit heraus, um sich mit einem anderen Wesen eins zu fühlen.
Als Rosa sich ihrer Zusammengehörigkeit mit dem Kinde bewusst ward, begann sie in ruhiger Vertraulichkeit sich mit ihm zu schaffen zu machen, mit ihm leise zu sprechen: »Wie? Du willst nicht mehr trinken? Nein, lass es nur, schlafe, ich halte dich. So, lehn dich an mich. Hier darf niemand dir etwas tun. Niemand darf dich fortnehmen. Hier kannst du ruhig schlafen.«
Das Kind schien sie zu verstehen. Es weinte nicht mehr, sondern lehnte seine weiche Wange an die Brust seiner Mutter, und der kleine Körper zog sich in sich selbst zusammen, wie es Menschen tun, die sich behaglich fühlen. – Von jetzt an trug Rosa ihre Krankheit mit Ungeduld. Sie wäre gern kräftig und Herr ihrer Bewegungen gewesen, um ganz allein ihrem Kinde dienen zu dürfen. Mit misstrauischer Eifersucht betrachtete sie es, wie die Leb und Frau Böhk das Kleine umbetteten und bepflegten. Sie sehnte sich nach der Zeit, da sie allein das Kind würde berühren dürfen. Solche Ungeduld glaubte Rosa nur als ganz kleines Mädchen schon empfunden zu haben. In der Nacht, die dem Christabend folgt, pflegte sie in ihrem Bett zu liegen und vor Ungeduld mit den Füßen zu zappeln, wünschend, die Nacht wäre vorüber, und sie dürfte wieder bei den neuen, blanken Sachen sein.
Dürre, schwüle Julitage waren angebrochen. Den Tag über musste man die Fenster des Giebelstübchens dicht verhängen, um der Sonne und der Hitze zu wehren. Dort saß Rosa an der Wiege ihres Kindes. Sie durfte schon das Bett verlassen, sich regen und frei schaffen. Das Gesicht war noch von überzarter Blässe, zeigte jedoch einen ruhig befriedigten Ausdruck. Rosa fühlte das wohl. Das stete Ringen, das qualvoll verwickelte Grübeln, mit dem sie doch nimmer ins reine kam, waren fort, waren von dem Interesse an den kleinen Vorkommnissen der Kinderstube verdrängt. Die Vorhänge, die das Fenster verhüllten, verhüllten für Rosa auch die ganze übrige Welt. Nur das Giebelstübchen blieb, dessen Mittelpunkt die Wiege bildete.
Lange Stunden einsamen Stillsitzens kamen auch jetzt zuweilen. Das Kleine schlief. Rosa saß ihm zu Häupten und wehrte mit einem Erlenzweig den Fliegen. Aber nie – nie ward sie mehr von dem nagenden Sehnen nach Freuden und Glück, von dem bittern Bedauern der Vergangenheit gequält. Farblos und fern erschien ihr die Zeit, da das Kleine noch nicht war. Natürlich war sie damals unglücklich gewesen; jetzt verstand sie das, denn sie blickte auf jene Zeit mit ruhiger Überlegenheit zurück.
Nach Liebe hatte dieses leidenschaftliche Mädchenherz verlangt. Es war ihm in ihrer Abgeschlossenheit zu eng geworden, es hatte die Liebe beschleunigen, erzwingen, sich zu ihr überreden wollen. Jetzt, da sich die Liebe in ihrer ganzen Wirklichkeit und Reinheit nahte, jetzt gab sich ihr dieses Herz rückhaltlos hin und war tief beruhigt. Dass der Gedanken- und Wirkungskreis sich eng um das kleine nackte Kindeshaupt zusammenzog, übersehbar, verständlich und ganz mit Liebe ausgefüllt, das brachte den Frieden über Rosa.
Allzuviel Zeit zum Nachdenken fand sie ohnehin nicht. Das Kleine war unruhig, weinte viel. Oft musste Rosa es die ganze Nacht über auf ihren Armen wiegen. Dann studierte sie eifrig dieses kleine Wesen, das da schrie und nicht still sein wollte. Wo fehlt es ihm? Was will es? Sie wandte es hin und her – sie fragte, untersuchte es, legte es an die Brust, und half alles nichts, dann weinte Rosa über das unerbittliche kleine Rätsel.
»Wie kann ich dir denn helfen, wenn du mir nicht sagst, wo es dich schmerzt? Ich will ja nicht, dass du leiden sollst. Alles, nur das nicht! Aber, wie kann ich’s ändern? So weine doch nicht, mein Engel, bitte, weine nicht. Sei vernünftig. Zeige mir, was du willst.«
Eines Tages, da Rosa wie gewohnt neben ihrem schlummernden Kinde saß, lächelte dieses im Schlaf. Die schmalen roten Linien der Lippen verzogen sich und zuckten. Rosa beugte sich ganz nahe auf diese Lippen herab. Ja, unzweifelhaft! Das war Ambrosius’ Lächeln, das sanftspöttische Emporziehen des rechten Mundwinkels, das Grübchen in der Wange. »Nun das wieder!« sprach Rosa vor sich hin, wie jemand, dem wieder eine Freude gestört wird. Sie war im Begriff, das Kind zu wecken. So sollte es nicht lächeln. Doch sie besann sich, küsste behutsam die Stirn des Kindes, und ihr Gesicht nahm wieder seinen milden, beruhigten Ausdruck an: Das Kleine sollte fortlächeln. Es gehörte ja ihm auch, und um des Kindes willen wollte sie dieses Lächeln, wollte sie ihn lieben. Gehasst hatte sie Ambrosius nie, dazu war ihre Liebe zu wenig tief und wahr gewesen. Jetzt, an der Wiege ihres Kindes, dachte sie ohne Bitterkeit und Aufregung an Ambrosius. Es galt ihr als ausgemacht, dass sie trotz allem doch zu ihm gehörte. Er war der Vater ihres Kindes.
Dann wieder schnürte eine große Bangigkeit Rosa das Herz zusammen. Ambrosius’ lüstern-süßes Lächeln in diesem Kindergesicht erschien ihr wie eine Gefahr für das Kind. Wurde es dadurch nicht der bösen Welt nähergebracht? Störte es nicht den Kindesfrieden? Großes Mitleid ergriff Rosa, Mitleid für den kleinen Märtyrer, der nicht ahnte, was seiner harrte. Ach Gott, blieb das Kind doch immer so klein, dass sie es vor dem feindlichen Leben schützen könnte. Doch Rosa lächelte über ihre eignen Gedanken. Noch hatte das Kleine viele Jahre in ihren Armen Raum, und niemand durfte es kränken. Es sollte glücklich sein und oft – oft lächeln, wenn es auch Ambrosius’ Lächeln war!
Während der folgenden Nacht musste Rosa das Kind beständig auf ihren Armen wiegen, denn es schrie und jammerte kläglich. Plötzlich wurden die Glieder des Kindes steif, das Gesicht nahm eine blaurote Farbe an, und der Kopf wurde krampfhaft zurückgerissen. Anfangs war Rosa starr vor Schreck, dann rief sie nach Frau Böhk, nach einem warmen Bade. Eine zielbewusste Geschäftigkeit trat an die Stelle des ersten Schreckens und ließ für die Sorge kaum Raum übrig. Erst als das Kind wieder ruhig auf den Knien seiner Mutter schlief, fühlte diese am Beben ihres ganzen Wesens, wie furchtbar es sie erschüttert hatte, ihr Kind leiden zu sehen. Bleich und ernst auf das Kind niedergebeugt, saß sie noch da, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Frau Böhk trat in das Zimmer. »Jetzt scheint es vorüber zu sein. Gott sei Dank«, sagte sie und setzte sich auf einen Stuhl.
»Ja«, erwiderte Rosa, »es schläft ruhig. Wir wollen leise sprechen, damit es nicht erwacht.«
Frau Böhk lachte. »Ach was, das stört so ’n kleinen Kerl nicht. Von der Stimme der Böhk ist noch kein Kind aufgeweckt worden, will ich meinen. Aber«, fügte sie hinzu und rieb sich bedächtig die Schenkel, »ich wollte Sie fragen, liebes Kind, wie wird es mit der Taufe? Morgen ist Sonntag; da haben wir den Pfarrer.«
»Hat denn das Eile?« fragte Rosa erstaunt. »Agnes wollte kommen; und dann…«
»Gut, gut! Ich verstehe schon. Ich meine aber gerade, wir können nicht warten.«
»Wie?«
»Verstehen Sie mich recht, liebes Fräulein.«
Frau Böhk machte ein strenges, höfliches Gesicht. »Das Kind hat in voriger Nacht böse Krämpfe gehabt und ist überhaupt ein verteufelt zartes Würmchen. Jedem Menschen kann etwas zustoßen, wie viel mehr einem so schwachen Kinde. Nicht? – Ich habe nun darauf zu sehen, dass ein Kind getauft ist, wenn etwas passiert. Dafür werde ich verantwortlich gemacht, niemand anderes. Von der Taufe ist auch noch kein Kind gestorben.«
Rosa hatte ernst zugehört, nun schaute sie auf ihr Kind nieder, das ruhig in ihren Armen schlummerte. Sie lächelte. »Nein, Frau Böhk«, sagte sie. »Das wird es nicht tun, das nicht! Sterben kann es nicht.«
Ungeduldig erhob sich Frau Böhk. »Kann – kann! Warum kann es nicht? Wir alle können heute oder morgen sterben. Ich sage nur: Die Verantwortung hab ich zu tragen. An mich muss ich auch denken.«
»Ich habe ja nichts dagegen, dass morgen die Taufe ist«, beschwichtigte Rosa die Hebamme. »Herr Böhk ist vielleicht so gut, der Pate des Kleinen zu sein. Ich sage nur…«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, rief Frau Böhk erleichtert aus. »Der Pfarrer kommt ohnehin nur alle vierzehn Tage vom Schloss zu uns herüber, dem Kinde wird’s auch guttun, ein Christ zu werden. Hernach trinken wir Schokolade. Das muss so sein; das ist selbstverständlich. Ich besorge schon das nötige, später berechnen wir uns. Die Leb hab ich auch eingeladen. – Sie sind ein liebes, vernünftiges Kind.«
Als Frau Böhk fort war, blickte Rosa sinnend ihr Kind an. Die Hebamme hatte sie erschreckt. So etwas war nicht möglich! Dieses arme, zarte Kindchen und eine so grausame, finstere Sache wie der Tod, was konnten die gemein haben? »Nein, das tust du nicht, mein Engel! Das werd ich dir nie erlauben«, flüsterte sie.
Der Sonntagnachmittag war für die Familie Böhk voll großer Geschäftigkeit. Schon das Aufsetzen der Haube mit den gelben Bändern, die Frau Böhk nur an Tauftagen aus dem Kasten nahm, war ein Ereignis. Herr Böhk, als der Welterfahrenste, besorgte das. »Sitz still, Frau Böhk!« befahl er. »Die eine Seite mit der großen Rose muss zurückgeschoben werden, sonst sieht es steif aus. Eine Haube muss ein wenig schief sitzen, nicht gerade wie eine Nachtmütze. Nein, ein wenig, wie soll ich sagen? Ein wenig liederlich muss es aussehen; so – so – ›Komm und küsse mich‹ – verstehst du?«
»Böhk, Böhk!« mahnte die Hebamme. »Dass du mich nicht ganz gottlos herrichtest!«
»Nein, Wilhelmine!« erwiderte Herr Böhk überlegen. »Du kannst ruhig sein. Für die Würde ist gesorgt, aber auch für die Schönheit. So, jetzt siehst du gut aus, blühend – gelb und rot.«
Für sich holte Herr Böhk einen Frack, weiße Handschuhe und einen Zylinder aus dem Kasten. Er war stolz auf diese Sachen. Die Schöße des Frackes vorsichtig in der Hand haltend, ging er mit ausgebogener Taille feierlich im Zimmer auf und ab, gefolgt von seinem Sohn, der über die Kleidung des Vaters spottete. »Wie dumm das ist, so ’n Frack.«
»Dumm?« erwiderte Herr Böhk hochmütig. »Der Frack ist hier nicht der Dumme.«
»Da fehlt ja vorne was!«
»Lieber Hans, dir fehlt etwas.«
Dieses Mal nahm Frau Böhk die Partei ihres Mannes. »Lass ihn, Hans, du verstehst wirklich nichts davon.« Sie hegte selbst große Achtung vor diesem Kleidungsstück.
Endlich war alles bereit, man wollte jedoch noch warten, bis der Gottesdienst ausgeläutet wurde, um das Gedränge zu vermeiden. Rosa hielt das Kind auf dem Schoß. Sie trug heute ihr weißes Musselinkleid und weiße Rosen im Haar. Wer sie dasitzen sah mit dem erregten blassen Gesicht, hätte sie für ein kleines Mädchen gehalten, das man zur Einsegnung führt.
»Also das Kind wird Ernst nach Ihrem Herrn Papa und Arnold nach mir heißen?« fragte Herr Böhk und blieb vor dem Täufling stehen. Rosa nickte. Da beugte er sich auf das Kind herab und sagte gerührt: »Was machst du, kleines Arnoldchen?«
Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, machte sich die Taufgesellschaft auf den Weg. Sie hatte es nicht weit; links hinter dem Böhkschen Hause lag die Kirche auf einer Anhöhe, dicht von alten Ahornbäumen umgeben. Sie war ein achteckiger Pavillon ohne Turm. Das flache Land und die Nähe der See ließen befürchten, ein Turm könnte die Schiffe irreleiten.
Der Gottesdienst war zu Ende. Eine große Menschenmenge bewegte sich die Anhöhe herab.
In der lichtvollen Atmosphäre des Julitages nahmen die sonntäglichen Gestalten, die Bäume, die Kirche mit ihrem spitzen Ziegeldach lustige, schreiende Farben an. Die kleine Schar, von Frau Böhk geführt, ging zuerst in die Sakristei. In dem kleinen Gemach mit den nackten weißen Wänden saß der Pfarrer an einem Tisch: ein dicker alter Herr mit einem sehr weißen, unfreundlichen Gesicht. Er wandte sich hastig nach den Eintretenden um und sagte verstimmt:
»Warum kommen Sie nicht zur rechten Zeit?«
Frau Böhk machte einen Knicks und entschuldigte sich: »Wir warteten, bis der Gottesdienst…«
»Der ist lange schon zu Ende«, unterbrach sie der Pfarrer. »Um fünf Uhr muss ich zum Diner im Schloss sein. Nun also schnell. Wo ist das Kind?«
Er warf einen prüfenden Blick auf Rosa, fasste seinen Talar vorn zusammen und ging voran in die Kirche.
Auf Frau Böhks Anordnung musste Rosa sich in einen Kirchenstuhl setzen, während die anderen mit dem Kinde vor dem Altar standen. Durch die hohen Fenster schien die Sonne voll herein und badete die Holzgalerie des Chors, die vergoldeten Holzblumen des Altarblattes in gelbem Licht.
Auf dem Altar funkelten der Kelch und die Leuchter; überall ein reges Glimmen und Flimmern. In den Kirchenstühlen lagen welkende Jasminstengel und Feldblumen, die Kinder und Mädchen mit hereingenommen und dort vergessen hatten. Eine Schwalbe hatte sich in die Kirche hineinverirrt und zog ihre Kreise oben an der gewölbten Decke, kurze sanfte Rufe ausstoßend.
Herr Böhk ließ sich das Kind auf die Arme legen; Frau Böhk, Grethe, die Leb standen andächtig mit gefalteten Händen neben ihm. Der Pfarrer blätterte in einem Buch und zog das Gesicht in fette Falten, weil die Sonne ihm in die Augen schien. Das Kind wimmerte – ein leiser Ton, wie das Zwitschern der Schwalbe oben an der Wölbung. Hinter sich hörte Rosa vorsichtige Schritte auf den Fliesen. Die Leute kamen von draußen wieder in die Kirche, standen an den Kirchenstühlen und hörten zu. Jetzt war der Pfarrer bereit. Er wischte sich mit zwei Fingern die Mundwinkel und hielt eine kurze Anrede, leise und schnell sprechend, wie jemand, der bald fertig zu sein wünscht. Er machte die Eltern und Taufpaten darauf aufmerksam, dass ein Kind ein teures, ihnen anvertrautes Gut sei, über das sie einst Rechenschaft ablegen müssen. Nicht den Eltern gehöre das Kind, sondern Gott, und Gott wache eifersüchtig über sein Eigentum, wie der Bibelspruch es schon besage: »Bei deinem Namen habe ich dich gerufen, in meine Hände hab ich dich gezeichnet, du bist mein.«
Rosa entsann sich nicht, dass bisher eine kirchliche Handlung auf sie großen Eindruck gemacht hätte. Das Frösteln unter der kühlen Kirchenwölbung war für sie stets der Inbegriff der Andacht gewesen. Heute aber erregte die Stimme des Pfarrers in ihr ernste Rührung. All die frommen Worte wurden ja zu ihrem Kinde gesprochen, hatte auf dieses Bezug. Es freute sie zu hören, dass ein so allmächtiger Beschützer sich ihres Kindes annahm, ihr half, es zu verteidigen. Dafür nahm Rosa sich vor, recht fromm zu sein, alles zu tun, wovon der Pfarrer Raser im Konfirmationsunterricht gesagt hatte, dass Gott es von den Menschen verlange. Wenn Gott nur auf das Kleine recht Obacht geben würde.
Der Pfarrer schwieg. Frau Böhk nestelte dem Kinde das Häubchen auf, und die Taufe begann. Alle sprachen das Credo; der Pfarrer eilte mit seiner routinierten Stimme voraus, Herr Böhk, der Pathos hineinlegen wollte, blieb stets um einen Satz zurück, bis seine Frau ihn mit dem Ellenbogen in die Seite stieß; da schwieg er ärgerlich ganz. Nun war es zu Ende. Der Pfarrer ging ohne Gruß fort, er fürchtete, zu spät zum Diner zu kommen.
»Den Taufschein und das übrige besorge ich morgen«, meinte er.
Die anderen gingen auch heim.
Über die Wiese waren zahlreiche Spaziergänger verteilt, viele bunte Punkte, die sich bewegten und durcheinanderrannten. Tiglau lag ganz im Laub versteckt da, und über alldem webte ein bläulicher Dunst, der zu leben schien, blickte man hinein.
Gemütlich, mit kleinen Schritten, ging die Taufgesellschaft heim. Herr Böhk erzählte seine Erlebnisse: Er hatte gefürchtet, das Kind fallen zu lassen. Der Pfarrer hatte ihm den Frack mit Taufwasser besprengt. Die Leb fand die heilige Handlung sehr erbaulich, was Herr Böhk bestritt.
»Das Glaubensbekenntnis schleuderte er nur so hin.«
Frau Böhk zuckte die Achseln.
»Es war heute gerade so wie immer«, sagte sie.
Für sie, die so viele Taufen mitgemacht hatte, war eine Taufe kein Ereignis mehr.
Zu Hause trank man Schokolade. Frau Böhk und Grethe nestelten sich die engen Feiertagsjacken auf. Herr Böhk steckte sich eine Serviette hinter den Hemdkragen.
»Du solltest den Frack lieber ausziehen«, riet seine Frau.
Er entgegnete jedoch sehr gereizt: »Warum? Lass mich doch.«
Er fand so selten Gelegenheit, den Frack anzulegen; jetzt, da sie sich bot, wollte er sie ausnutzen.
»Sehr gut«, meinte die Leb und nickte ihrer Tasse zu. »Auch der Stollen ist gut. Zuweilen gelingt es dem Bäcker. Der Arme! Weiß Gott, wen er heiraten wird! Denn heiraten muss er – mit so vielen kleinen Kindern.«
Nun sprach man von der Bäckerin. Ein jeder gab zwischen einem Schluck Schokolade und einem Bissen Stollen seine Meinung ab. Durch die geöffneten Fenster sah man auf den stillen Hof und den Garten hinaus, wo Feuerlilien und einige Rosenbüsche regungslos im Abendsonnenschein standen. Von der Wiese tönten Rufe und Stimmen der sonntäglichen Spaziergänger herüber.
Rosa schwieg und ließ sich von einem angenehmen Feiertagsgefühl wiegen. Die helle Welt ringsum beruhigte sie. Hier war es behaglich und sonnig. Die rechte Welt für den kleinen Ernst. Eine lange, lichtvolle Zukunft, verloren in der stillen Ebene, ein ungestörtes Zusammensein mit ihrem Kinde, ein Leben voll warmer Liebe tat sich ihr auf und tröstete sie. Oben bei ihrem Kinde wollte sie diesen Traum weiterträumen.
»Ah, Sie gehen zu unserem jungen Christen?« fragte die Leb gefühlvoll.
»Arnoldchen wird wohl schlafen«, fügte Herr Böhk hinzu.
»Ernst wird er genannt«, verbesserte Grethe.
Herr Böhk aber machte eine wegwerfende Handbewegung. Er wusste wohl, was er tat. Er war der Pate, er nannte das Kind Arnold; die anderen konnten es halten, wie sie wollten, für ihn gab es keinen Ernst.
In ihrer Kammer drückte Rosa das Kind fest an ihre Brust und sprach ihm leise zu:
»Weine nicht. Hörtest du nicht, wie der Herr Pfarrer sagte, dass der liebe Gott mir hilft, dich bewachen! Sei nur ruhig, groß und schön wirst du werden. Du wirst niemanden betrügen. Du wirst zu lieben verstehen – wirst deine alte Mutter sehr – sehr treu lieben, denn sie hat es nötig. Du wirst von allem Garstigen, das sie erlebt hat, nichts wissen, und wenn du bei ihr bist, wird sie alles, was sie getan und ihr andere angetan, vergessen. Nicht wahr?«