Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Wil­hel­mi­ne«, ver­setz­te Herr Böhk und steck­te ein sehr stol­zes, hoch­mü­ti­ges Ge­sicht in das Ofen­loch. Frau Böhk är­ger­te das. »Ach was, Wil­hel­mi­ne! Wenn du nur tun wür­dest, was man von dir will. Ich sage ja nicht mehr, du sollst or­dent­lich ar­bei­ten; aber ein­hei­zen wirst du doch noch kön­nen; das ist doch nicht so schwer wie eine Uhr ma­chen?«

»Wenn du nur die Uhr ge­se­hen hät­test, die ich ge­macht habe!« Herr Böhk war nun auch be­lei­digt; vor dem Ofen kni­end, stemm­te er die Arme in die Sei­te und schob die Un­ter­lip­pe vor; sei­ne Frau aber lach­te: »Ja – ja, wenn ich die ge­se­hen hät­te, wür­de ich viel­leicht an sie glau­ben. Ach, geh mir mit dei­ner ewi­gen Uhr! Das wird auch so eine ge­we­sen sein, die von zwölf bis Mit­tag geht. Gott, was die­ser Mann mich mit sei­ner Uhr quält!« re­de­te Frau Böhk die Zim­mer­de­cke an. »Seit wir ver­hei­ra­tet sind, spricht er von die­ser Uhr. Wer hat sie ge­sehn? Wo ist sie? Wie ein Ge­s­penst ist die­ses Ding. Woll­te ich von ei­nem Kin­de spre­chen, das kei­ner ge­sehn hat, von dem nichts im Kir­chen­buch steht, da wür­den die Leu­te mich ku­ri­os an­se­hen. Der aber im­mer mit sei­ner Uhr!«

»Wil­hel­mi­ne!« sag­te Herr Böhk sanft, »das Fräu­lein wünsch­te Mu­sik.«

»Was der nur im­mer mit sei­ner Wil­hel­mi­ne hat!«

»Du heißt ja doch so.«

»Ja, ich hei­ße so; ich sage auch nichts. Du tä­test bes­ser, nach­zu­se­hen, ob die Mäd­chen die Kuh be­schickt ha­ben, statt uns dei­ne Fa­xen vorzu­ma­chen.«

»Wil­hel­mi­ne«, ent­geg­ne­te Herr Böhk, »du bist heu­te gif­tig, Wil­hel­mi­ne. Du hast un­recht, so zu sein, Wil­hel­mi­ne.«

»Lass mich mit dei­ner Wil­hel­mi­ne zu­frie­den!« schrie die Heb­am­me und wand­te sich ab; sie moch­te das La­chen, das sie über­mann­te, nicht zei­gen; ihr Mann be­merk­te es je­doch, blin­zel­te ver­schmitzt mit den Au­gen und ent­fern­te sich, in­dem er tri­um­phie­rend die Ab­sät­ze an­ein­an­der­schlug.

»Gott, was ich mit dem Jun­gen für ein Kreuz habe!« rief Frau Böhk mit zu­cken­den Mund­win­keln.

»Mit sei­nem Spiel hat er mir wirk­lich Freu­de ge­macht«, ent­schul­dig­te Rosa.

»Ja – ja, so un­nüt­zes Zeug ver­steht er«, mein­te die Heb­am­me mit der ver­halt­nen Zufrie­den­heit ei­ner Mut­ter, die ih­ren un­ge­zo­ge­nen Bu­ben nicht of­fen lo­ben mag und sich den­noch der Aner­ken­nung freut, die ihm an­de­re zol­len, »das Spie­len hat er her­aus; das ist auch das ein­zi­ge.« Der Zorn hat­te sich ge­legt, sie lach­te wie­der ihr fet­tes, herz­li­ches La­chen: »Was der tol­le Jun­ge nur heu­te mit der Wil­hel­mi­ne hat­te? Er glaubt, das är­gert mich.«

»Hei­ßen Sie nicht so, Frau Böhk?« frag­te Rosa.

»Doch! Ich bin auf den Na­men Wil­hel­mi­ne ge­tauft. Gleich­viel! Sonst sagt er: Frau Böhk, oder, wenn er un­ge­zo­gen ist: Alte. Die Wil­hel­mi­ne war nur, um vor Ih­nen Staat zu ma­chen und mich zu är­gern. So ein un­nüt­zer Sch­lin­gel! Ha­ben Sie aber mei­nen Hans ge­se­hen? – Nein? – Dacht ich mir’s doch! Der Va­ter ist zu frech; und der Sohn, wenn er weiß, dass ein Frem­der im Hau­se ist, so sitzt er in sei­ner Kam­mer und ist nicht her­aus­zu­brin­gen. Beim Mit­ta­ges­sen wer­den Sie ihn se­hen. Ein hüb­sches, gu­tes Kind; nur sein Kopf ist et­was schwach.«

Zum Mit­tag­mahl muss­te Hans von Mar­tha und Gre­the ge­walt­sam in das Zim­mer ge­sto­ßen wer­den. Dort blieb er un­ge­schickt ste­hen und schiel­te angst­voll zu Rosa hin­über. Er hat­te die schmäch­ti­ge, bieg­sa­me Ge­stalt sei­nes Va­ters, das glatt an den Kopf ge­kämm­te Haar, aber die ro­si­ge Ge­sichts­far­be und die grau­en Au­gen stamm­ten aus der Fa­mi­lie der Mut­ter, nur dass Hans’ Züge nichts von dem tat­kräf­ti­gen Le­bens­mut der Frau Böhk zeig­ten.

Die Heb­am­me lach­te ge­rührt über ih­ren lin­ki­schen Sohn: »Bist du dumm! Setz dich; das Fräu­lein wird auch ohne dein Kom­pli­ment aus­kom­men.«

Gre­the trug die Sup­pe auf, und Frau Böhk schöpf­te vor. »Ah, Zwie­bel­sup­pe!« mein­te Herr Böhk; »das habe ich schon heu­te mor­gen ge­wusst. Ich hab’s ge­ro­chen.«

»Frei­lich!« er­klär­te Mar­tha, »der On­kel hat den gan­zen Mor­gen über die Nase über den Sup­pentopf ge­hal­ten.«

»Mar­tha«, er­mahn­te Herr Böhk sanft, »das ist nicht wahr. Du soll­test über dei­nen Pfle­ge­va­ter nicht sol­che Lü­gen ver­brei­ten.«

Als ein je­der sei­ne Sup­pe hat­te, ward es still. Nur ein woh­li­ges Schlür­fen und das Auf­klap­pen der Löf­fel wa­ren ver­nehm­bar. Eine be­geis­ter­te Eß­lust be­seel­te die Tisch­ge­nos­sen. Die Mäd­chen, wenn sie den vol­len Löf­fel ho­ben, öff­ne­ten die brei­ten ro­ten Lip­pen ganz weit und zuck­ten mit den Wim­pern. Hans stütz­te sein Kinn auf den Tel­ler­rand und warf die Sup­pe mit dem Löf­fel schnell und gie­rig in den Mund. – Nun wa­ren die Tel­ler leer – so leer, dass kein Tröpf­chen zu­rück­ge­blie­ben war. Mar­tha hol­te die Fleisch­spei­se: ge­räu­cher­tes Schaff­leisch mit wei­ßen Boh­nen – und sie lä­chel­te fei­er­lich, als sie die Schüs­sel voll dun­kel­ro­ter Fleisch­stücke ins Zim­mer trug und mit bei­den Ar­men em­por­hob.

»Für das Fräu­lein muss ge­bra­te­nes Rind­fleisch da sein«, ver­kün­de­te Frau Böhk. »Rauch­fleisch ist nichts für uns«, füg­te sie sanft hin­zu und strich Rosa mit der Hand über das Haar. »Wir müs­sen ver­nünf­tig sein.« Gre­the blick­te er­schro­cken und mit­lei­dig auf Rosa, als fürch­te­te sie, Rosa wür­de wei­nen.

Eben­so an­däch­tig wie die Sup­pe ward auch das Fleisch ver­zehrt. Frau Böhk und die Mäd­chen zer­teil­ten mit lieb­ko­sen­der Lang­sam­keit das Fleisch und scho­ben es vor­sich­tig in den Mund. Un­ter den Her­ren je­doch ent­stand Lärm. »Mut­ter! Er nimmt mein Stück; ich hat­te es mir aus­ge­sucht!« klag­te Hans.

»Was heißt aus­ge­sucht«, pro­tes­tier­te Herr Böhk ernst­lich böse; »was ei­ner hat, das hat er.«

»Nein! Gera­de die­ses Stück woll­te ich ha­ben. Mut­ter, sag ihm, dass er’s mir gibt.«

Herr Böhk lach­te ver­le­gen. Er fürch­te­te, vor Rosa lä­cher­lich zu er­schei­nen, und woll­te doch sein Stück nicht fah­ren­las­sen: »Nein, mein Sohn!« mein­te er, »jetzt ge­ra­de nicht. Der Er­zie­hung we­gen – weißt du. Es ist ja un­mo­ra­lisch.«

»Und nur weil ich es woll­te, nimmt er’s!« wie­der­hol­te Hans. Är­ger­lich blick­te Frau Böhk von ih­rem Tel­ler auf: »Könnt ihr Jun­gen denn nicht Ruhe hal­ten? Böhk, du bist der äl­te­re, gib doch nach.«

»Der äl­te­re! Na­tür­lich bin ich der äl­te­re!« Herr Böhk war tief ver­letzt: »Ich möch­te wis­sen, wo der da wär, wenn ich nicht der äl­te­re wäre! Sonst muss der Sohn den Va­ter eh­ren, aber hier – nein – da muss der Va­ter dem Sohn ge­hor­chen. Bit­te, lie­ber Hans, nimm das Stück; sei so gut und sage mir, bit­te, ob du spä­ter noch eins neh­men wirst, da­mit ich dir nicht dein Stück fort­neh­me. Oder soll ich viel­leicht gar nicht es­sen und war­ten, bis du fer­tig bist? Sag mir das, mein sü­ßer Hans.«

»Gib mir das Stück.«

»Nimm es! Es ist ein Skan­dal.«

Frau Böhk hat­te sich längst wie­der ih­rer Por­ti­on zu­ge­wandt, sie woll­te sich von die­sen dum­men Ge­schich­ten nicht stö­ren las­sen.

Die Mahl­zeit war end­lich be­en­det. Er­hitzt lehn­ten sich die Tisch­ge­nos­sen in ih­ren Stüh­len zu­rück. Die Mäd­chen zö­ger­ten noch mit dem Abräu­men und blie­ben sit­zen, die Arme auf den Tisch ge­stützt. Frau Böhk trank Bier und sprach da­bei zwi­schen je­dem Zuge aus dem Gla­se einen kur­z­en Satz: Ag­nes war alt ge­wor­den – nicht wahr? Sie – Frau Böhk – muss­te sich doch ge­wiss mehr pla­gen, aber sie war kräf­ti­ger. Im­mer auf dem Pos­ten sein, wie ein Sol­dat, das er­hält. Herr Böhk kne­te­te En­ten aus Brot, und Hans schau­te ihm ge­spannt zu. Eine be­hag­li­che Mat­tig­keit be­schwer­te sie alle, wie sie da sa­ßen un­ter den Spei­se­res­ten und Gerä­ten – im gel­ben Licht der Mit­tags­son­ne.

»Nun, Mäd­chen, wer­det ihr nicht ans Abräu­men ge­hen?« mahn­te Frau Böhk. »Man wird wohl müs­sen«, er­wi­der­te Gre­the, streck­te ihre bei­den Arme em­por und reck­te sich.

Rosa war die ers­te, die den Tisch ver­ließ. »Ja, ja«, sag­te die Heb­am­me. »Ge­hen Sie nur, schla­fen Sie ein we­nig, lie­bes Kind.«

In ih­rem Zim­mer eil­te Rosa zu dem klei­nen Spie­gel, der über dem Wasch­tisch an der Wand hing. Sie ver­stand es selbst nicht, welch selt­sa­me Neu­gier­de sie an­trieb, an­hal­tend und auf­merk­sam ihr ei­ge­nes Ge­sicht zu be­trach­ten. Die­ses Ge­sicht mit den über­großen blau­en Au­gen er­schi­en ihr heu­te so ver­gäng­lich und über­fei­nert. Ja! Das war es, wo­nach sie sich sehn­te, et­was, bei dem sie sich von dem der­ben Le­bens­mut dort un­ten er­ho­len konn­te, der sie plötz­lich mit ei­nem Ge­fühl der Über­sät­ti­gung und des Wi­der­wil­lens be­drückt hat­te. Das schma­le, vor­neh­me Ge­sicht­chen aber, das ihr aus dem Spie­gel me­lan­cho­lisch und ge­heim­nis­voll ent­ge­gen­lä­chel­te, gab ihr wie­der ihre Mäd­chen­träu­me zu­rück, und als sie sich auf ihr Bett leg­te, ward sie von schö­nen, un­kla­ren Ge­dan­ken in Schlaf ge­wiegt.

Der Abend war schon her­ein­ge­bro­chen, als Rosa er­wach­te. Mond­schein lag auf dem Fuß­bo­den. Der Ro­sen­stock auf dem Fens­ter­brett warf einen großen ge­zack­ten Schat­ten über den Vor­hang.

Aus ei­nem tie­fen, traum­lo­sen Schlum­mer er­wa­chend, zö­ger­te Rosa noch, wie­der an das Le­ben an­zu­knüp­fen, und gab sich ganz dem sü­ßen Ge­fühl kör­per­li­cher Ruhe hin. Lang­sam nur kehr­te ihr das Be­wusst­sein ih­rer Lage zu­rück: Dort un­ten lag Ti­glau; die­ses war das klei­ne Ge­mach bei Böhks, ganz recht! Die Böhks hat­te sie im Wohn­zim­mer um den Mit­tags­tisch ver­sam­melt zu­rück­ge­las­sen. Bei all­dem war nichts Trau­ri­ges. Die gute Böhk, die hüb­schen Mäd­chen, Herr Böhk mit sei­ner Vio­li­ne. Und den­noch! Et­was Be­trü­ben­des muss­te es doch ge­ben, sie war ja doch un­glück­lich. Oh, da war es! Jetzt wuss­te sie es! Eine in­ne­re Un­ru­he trieb Rosa auf­zu­sprin­gen. Sie ging ans Fens­ter und schob die Vor­hän­ge zu­rück. Un­ten lag Ti­glau, hell be­schie­nen, und über die Dä­cher hin schau­te Rosa auf das Land hin­aus, das sich dort – ganz weit – in ein blei­ches, sanf­tes Flim­mern ver­lor. »Das ist schön«, sag­te sich Rosa. Sie fühl­te wohl die Frie­den­s­poe­sie die­ses stil­len Lan­des und woll­te sie ge­nie­ßen. Trotz Kum­mer und Harm war die schö­ne, ru­he­vol­le Welt doch da. Rosa stütz­te den Arm auf das Fens­ter­brett und schau­te hin­ab.

 

Oft schon hat­te sie es ver­sucht, in ge­sam­mel­tem An­schau­en die Welt zu ge­nie­ßen. Da­heim, wenn der Mond­schein auf dem Dach des Pfarr­hau­ses lag und die Kas­ta­ni­en­wip­fel vol­ler Ster­ne hin­gen, hat­te sie einen Stuhl an das Fens­ter ge­rückt und sich zum Be­trach­ten nie­der­ge­setzt. Aber, weiß es Gott, lan­ge hat­te sie es nie aus­ge­hal­ten. Die Mond­nacht flö­ßte ihr Un­ru­he ein, Lust mit­zu­tun. Sie muss­te hin­aus, muss­te mit Sal­ly und Ma­ri­an­ne durch die Stra­ßen schrei­ten, an die Fens­ter­schei­ben des Fräu­lein Kat­ter po­chen, in den Häu­ser­ni­schen ki­chern.

Rosa woll­te es kaum glau­ben, aber so war es auch heu­te, sie ver­moch­te nicht ru­hig da­zu­sit­zen, es trieb sie wie­der mit­zu­tun. »Hin­ab­ge­hen kann ich we­nigs­tens«, sag­te sie sich.

In dem en­gen Mau­er­raum, der die Wen­del­trep­pe ent­hielt, be­fand sich ein run­des Fens­ter, durch das der Mond her­ein­schi­en. Auf den schma­len Trep­pen­stu­fen la­gen gel­be Licht­fle­cken, vom Schat­ten des gro­ben Maß­wer­kes mit schwar­zen Stri­chen ver­ziert. Rosa blieb ste­hen. Hier war es hübsch, und gern hät­te sie hier et­was er­lebt. Kind­heits­er­in­ne­run­gen stie­gen in ihr auf. Zu Hau­se hat­te die große Stie­ge im Mond­licht stets ein ver­än­der­tes We­sen, ein aben­teu­er­li­ches Aus­se­hen an­ge­nom­men, so dass es den Kin­dern in den Ecken voll blei­chen Lich­tes bang und süß ums Herz ge­wor­den war, als steck­ten sie mit­ten in ei­nem Mär­chen. Rosa ent­sann sich des­sen wohl.

Un­ten im Flur muss­te die Au­ßen­tü­re of­fen­ge­blie­ben sein, denn ein kal­ter Luft­zug strich bis zu Rosa hin­auf; auch Flüs­tern und lei­ses La­chen klan­gen her­über. »Das sind die Mäd­chen und ihre Liebs­ten«, sag­te sich Rosa und lehn­te sich an die Trep­pen­ram­pe. Für sie war das vor­über. Die­ser Ge­dan­ke schmerz­te so, dass sie hät­te wei­nen mö­gen. Sie woll­te ins Wohn­zim­mer hin­ab­ge­hen; wenn sie die Mäd­chen da­durch stör­te, um so schlim­mer für jene! Fest auf­tre­tend stieg sie die Trep­pe hin­ab.

An der Hoftü­re lehn­te Mar­tha. Vor ihr stand ein Bur­sche und hielt ihre Hän­de. Als Rosa an ih­nen vor­über­ging, sag­te Mar­tha ru­hig: »Es ist nur der Pe­ter, Fräu­lein, drü­ben von der Schmie­de.« Pe­ter ließ Mar­thas Hän­de los und zog die Müt­ze ab. »Gu­ten Abend«, sag­te Rosa, blieb ste­hen und sah das Lie­bes­paar mit kla­ren, er­reg­ten Au­gen an.

Wie sorg­los die da Hand in Hand auf der hell­be­schie­ne­nen Schwel­le stan­den und ihre Lie­bes­stun­de be­gin­gen, wie et­was, das ih­nen zu­kam!

»Sie wer­den Licht brau­chen, Fräu­lein«, mein­te Mar­tha. »Die Tan­te ist fort­ge­gan­gen.«

»Nein, ich dan­ke.«

Rosa ging wei­ter. Durch die Kü­chen­tü­re sah sie Gre­the im Fens­ter lie­gen. Zwei große Hän­de wur­den von au­ßen ins Zim­mer ge­steckt und fass­ten den run­den, brau­nen Kopf des Mäd­chens.

Im Wohn­zim­mer stütz­te Rosa die Stirn an die Fens­ter­schei­ben und war tief be­küm­mert. Sie be­griff es wohl, ihre Lie­bes­stun­den wa­ren vor­über, wa­ren alle aus­ge­ge­ben.

Ach, jetzt woll­te es ihr fast schei­nen, sie habe sie nie ge­habt. Ne­ben den fried­lich lä­cheln­den Lie­bes­leu­ten dort im Flur nahm sich ihre eig­ne Lie­bes­ge­schich­te wie ein wir­rer, al­ber­ner Fie­ber­traum aus. Sie hät­te es gern an­ders ge­macht!

Drittes Kapitel

Im Böhkschen Haus­halt ging ein je­der sei­nen eig­nen Weg, das sah Rosa schon am ers­ten Tage. Frau Böhk war we­nig zu Hau­se. Sie war sehr be­schäf­tigt. Bei Tag und bei Nacht ver­lang­ten die Leu­te nach ihr, und an der Hau­stü­re hing eine Schie­fer­ta­fel, auf wel­che Frau Böhk, wenn sie das Haus ver­ließ, schrieb, wo­hin sie ging, da­mit ein je­der, der sie such­te, sie fin­den konn­te. Aber rie­fen sie auch nicht ge­ra­de Amts­ge­schäf­te, es litt sie doch nicht lang zwi­schen ih­ren vier Wän­den. Sie lieb­te es, mit Be­kann­ten an den Stra­ßen­e­cken zu plau­dern, sich durch die Kü­chen­fens­ter einen Trop­fen Kirsch­geist, einen Löf­fel ein­ge­mach­ten Sta­chel­bee­ren her­aus­rei­chen zu las­sen und da­für ihre ver­nünf­ti­gen Grund­sät­ze, ihre al­lein­se­lig­ma­chen­den Leh­ren aus­zu­streu­en. Wenn man ei­ner gan­zen Ge­ne­ra­ti­on dazu ver­hol­fen hat, das Licht der Welt zu er­bli­cken, dann hat man auch ein Recht zu er­fah­ren, wie die­se Ge­ne­ra­ti­on lebt. Mein Gott, was es heut­zu­ta­ge für un­ver­stän­di­ge Müt­ter gibt. Wenn Frau Böhk mit ih­ren Ratschlä­gen nicht da wäre!

Beim Schrei­ner er­kun­dig­te sie sich nach dem klei­nen skro­fu­lö­sen Mar­tin. Das arme Kind! Eine so schö­ne leich­te Ge­burt, und solch ein Würm­chen! Beim Ge­würz­krä­mer riet Frau Böhk, dem Fried­rich, dem un­ge­zo­ge­nen Ben­gel, tüch­ti­ge Schlä­ge zu ge­ben, wenn er die Nacht über schrie. Die Apo­the­kers­frau war zwar eine ein­ge­bil­de­te Gans, die vor­nehm tat, aber zu­wei­len sprach die Heb­am­me auch dort vor, ließ sich ein Glas Soda mit Him­bee­ren rei­chen und er­teil­te Leh­ren, denn des Apo­the­kers Eli­se war im ge­fähr­li­chen Al­ter, und da muss man… Gott, was wäre aus der ar­men Eli­se ge­wor­den, wenn Frau Böhk nicht hin­ter dem gelb­po­lier­ten La­den­tisch der Apo­the­ke­rin Ver­hal­tens­maß­re­geln ge­ge­ben hät­te!

Au­ßer den Mahl­zei­ten konn­te sich Frau Böhk so­mit den Ih­ri­gen nur auf Au­gen­bli­cke zei­gen.

Die Mäd­chen trie­ben un­ter­des­sen da­heim ihr We­sen. Zu­wei­len kam ein Ar­beits­fie­ber über sie, wenn die Tan­te zu­fäl­lig einen Blick in die Kü­che und die Stäl­le ge­wor­fen hat­te. Ein Sturm von Un­zu­frie­den­heit pfleg­te dann los­zu­bre­chen: »Wie in ei­nem Schwei­ne­stall le­ben wir hier! Hab ich euch dazu ins Haus ge­nom­men, da­mit ihr die Hän­de in den Schoß legt oder da­mit ihr euch mit Schmie­de­ge­sel­len her­um­treibt?« So ging es fort, bis Frau Böhk wie­der auf der Stra­ße war. Nach solch ei­nem Wet­ter streng­ten sich die Mäd­chen an. In al­len Win­keln des Hau­ses klatsch­ten nas­se Tü­cher; im Hof wur­den Pols­ter und Bet­ten ge­stäubt. Die­se Auf­re­gung dau­er­te je­doch nicht lan­ge. Bald kam wie­der tiefer Frie­de über das Haus. Mar­tha und Gre­the sa­ßen auf den Fens­ter­bän­ken um­her, san­gen vor sich hin, schau­ten hin­aus, stie­ßen sich, lach­ten – wenn sie nicht ge­ra­de et­was an ih­ren Klei­dern aus­zu­bes­sern hat­ten oder Wä­sche bü­geln muss­ten. Mar­tha hat­te oft drü­ben beim Schmied et­was zu tun. Stun­den­lang konn­te man sie vor der Werk­statt ste­hen se­hen – an den ru­ßi­gen Tür­pfos­ten ge­lehnt. Bis zum Schrei­ner, wo Greth­chens Liebs­ter Ge­sell war, war es zwar wei­ter, da­für er­schi­en er pünkt­lich un­ter dem Kü­chen­fens­ter.

Wie Herr Böhk sei­nen Tag ver­brach­te, konn­te nie­mand ge­nau an­ge­ben. Er ging – er kam – die Hän­de in den Ho­sen­ta­schen, eine sanf­te Me­lo­die pfei­fend. Er war im­mer hei­ter, hat­te im­mer Zeit, half den Mäd­chen ihre Hüte be­ste­cken – ver­schwand dann auf vie­le Stun­den, saß plötz­lich wie­der im Wohn­zim­mer und bau­te an ei­ner Maus mit ei­nem Uhr­werk, war­te­te auf das Mit­ta­ges­sen, auf das Abendes­sen, guck­te in den Koch­topf, ging wie­der fort und kam oft sehr spät nach Hau­se. »Wo­hin gehst du?« frag­te Hans sei­nen Va­ter.

»Was küm­mert das dich, mein Jun­ge?« er­wi­der­te Herr Böhk hei­ter.

»Ich will mit.«

»Das geht nicht, mein ein­zi­ges Kind.«

»Ja!«

»Nein!«

»Die Mut­ter er­laubt es nicht, dass du fort­gehst.«

»Des­halb fra­ge ich sie auch nicht.«

»Ich will aber mit.«

»Un­mög­lich! Ich neh­me dich aber nicht mit, mein sü­ßer Hans.«

Die ge­heim­nis­vol­len Gän­ge sei­nes Va­ters wa­ren das ein­zi­ge, nach dem Hans sich mit ei­ni­ger Lei­den­schaft sehn­te. Sein Kopf war »zu schwach«, dar­um brauch­te er nicht die Schu­le zu be­su­chen, so hat­te er denn nichts auf der gan­zen Welt zu tun, ging von ei­nem Zim­mer in das an­de­re, neck­te den Hahn im Hof, schlief in al­len Ecken ein, hing sich an die Rö­cke der Mäd­chen; nur wenn der Va­ter ei­lig und schmun­zelnd zur Tür hin­aus­schlüpf­te, ward Hans un­ru­hig und woll­te mit. Stun­den­lang be­wach­te er den Hut sei­nes Va­ters, so dass die­ser ge­zwun­gen war, sich einen zwei­ten Hut an­zu­schaf­fen, um der Auf­sicht sei­nes Soh­nes zu ent­ge­hen, und als Hans end­lich die­ses Ma­nö­ver be­griff, wein­te er und trat den zu­rück­ge­blie­be­nen Hut mit Fü­ßen. Täg­lich klam­mer­te sich die­ses enge Ge­hirn an die Hoff­nung, hin­ter des Va­ters Sch­li­che zu kom­men.

Nun – und Rosa ging auch ih­ren ei­ge­nen Weg; aber sie fühl­te es wohl, ihr Weg war der we­nigst hei­te­re. In ih­rer Kam­mer saß sie am Fens­ter, näh­te Kin­der­hemd­chen und schau­te auf die Stra­ße hin­ab. Sie in­ter­es­sier­te sich für die Vor­gän­ge in der Schmie­de, für das re­gel­mä­ßi­ge Auf­fla­ckern des Schmied­feu­ers, für das hel­le Ping­ping des Ham­mers, und wenn Mar­tha in die Türe der Werk­statt trat, leg­te Rosa ihre Ar­beit bei­sei­te und drück­te die Stirn an die Fens­ter­schei­ben. Mar­thas Ge­lieb­ter sah zwar ein we­nig selt­sam aus mit sei­nem über­großen Kopf voll strup­pi­ger brau­ner Haa­re, mit dem be­ruß­ten Ge­sicht und den kur­z­en, ein we­nig krum­men Bei­nen; aber – im­mer­hin!… Auf der son­ni­gen Stra­ße, an den schwar­zen Tür­pfos­ten stan­den die Lie­bes­leu­te bei­ein­an­der, stie­ßen sich mit ih­ren kräf­ti­gen Fäus­ten und lach­ten so laut, dass Rosa es oben hö­ren konn­te… War Mar­tha fort, war die Stra­ße leer – dann beug­te sich Rosa seuf­zend auf ihr Kin­der­hemd nie­der. Un­ten im Wohn­zim­mer sang Gre­the mit hal­ber Stim­me eine Me­lo­die in ihre Ar­beit hin­ein, ein schläf­rig-trä­ges Ge­träl­ler. Vor dem Fens­ter zirp­ten auf­ge­bla­se­ne Spat­zen.

In der Ein­sam­keit die­ser Stun­den muss­te Rosa nach­den­ken, und wenn man so grü­belt und grü­belt, wer­den die Ge­dan­ken wun­der­lich far­ben­voll; sie neh­men die Kör­per­lich­keit von Träu­men, von Vi­sio­nen an, dass man sich fast vor ih­nen fürch­ten muss und mit ei­nem Schau­er über den gan­zen Kör­per zur Wirk­lich­keit er­wacht. Dazu kam noch eine große Er­nüch­te­rung in Ro­sas An­schau­un­gen. Sie ver­stand es jetzt, dass im bun­ten Durchein­an­der mensch­li­cher Schick­sa­le für sie nur ein klei­ner Win­kel re­ser­viert war. Ihr Win­kel lag sehr ab­seits und war, fürch­te­te sie, nicht all­zu hell. »Ich hab’s eben ver­dor­ben«, sag­te sie sich und strich mit dem Na­gel ih­res Dau­mens über den Saum, an dem sie näh­te. Ein frie­de­vol­les Ver­zich­ten kam über sie. Mit ih­rem Kin­de woll­te sie hier, in ei­nem ab­ge­le­ge­nen Häu­schen, woh­nen, hier­bei konn­te ihre Phan­ta­sie wie­der ver­wei­len; ein klei­nes Haus mit ei­nem Vor­gar­ten, hel­le Zim­mer – je­den Mor­gen ging Rosa auf den Markt, Ein­käu­fe zu ma­chen – und dann das Kin­d…

Frau Böhk hat­te Rosa Be­we­gung in frei­er Luft ver­ord­net. »Kraft kann man sich nur drau­ßen ho­len«, mein­te sie, »und vor al­lem ha­ben wir Kraft nö­tig.« So wan­der­ten Mar­tha und Rosa je­den Nach­mit­tag um die Stun­de, da die Son­ne röt­lich auf den Schnee schi­en und die Schul­kin­der auf der Gas­se lärm­ten, hin­aus ins Freie. Wenn Rosa aus ih­rer stil­len Kam­mer trat, wun­der­te sie sich über den fröh­li­chen Tu­mult drau­ßen, über die vie­len Men­schen, die vor den Tü­ren stan­den und plau­der­ten. Alle nick­ten ihr und Mar­tha zu, rie­fen ein lau­tes »Gu­ten Abend« her­über. Es war die Fei­er­stun­de von ganz Ti­glau, das sich auf der einen lan­gen Gas­se des letz­ten Son­nen­strahls freu­te, um sich mit der Dun­kel­heit wie­der in die en­gen Häu­ser ein­zu­schlie­ßen.

Mar­tha, ohne Hut, ein ro­tes Tuch über die Brust ge­bun­den, ging sit­tig ne­ben Rosa ein­her und ver­such­te es, klei­ne Schrit­te zu ma­chen; wenn aber ein ge­ra­de un­be­nütz­ter Schnee­ball vor ih­ren Fü­ßen lag, hob sie ihn auf und warf ihn ei­nem der Bu­ben an den Kopf. Dort, hin­ter der schwar­zen, zer­fal­le­nen Hüt­te der Frau Leb, der Kräuter­frau, hör­te Ti­glau auf, und wenn die Mäd­chen durch den Lärm der en­gen Gas­se hin­durch­ge­gan­gen wa­ren, er­schi­en ih­nen das of­fe­ne Land er­schüt­ternd weit und schweig­sam. Der Wind zaus­te an ih­ren Klei­dern, und die Son­ne blitz­te so hell auf der Schnee­de­cke, dass es den Au­gen weht­at. Arm in Arm gin­gen die Mäd­chen mit fes­ten, ei­li­gen Schrit­ten vor­wärts. »So ist’s lus­tig, nicht, Fräu­lein?« sag­te Mar­tha und schüt­tel­te die Schul­tern. Ja, Rosa fand es auch lus­tig. »Es ist, als ob man schwimmt«, mein­te sie. »Wie?« frag­te Mar­tha, doch dann nick­te sie: »Ja – so kühl.« Es war nicht ganz das, was Rosa mein­te. Das Sprü­hen und Ren­nen der ro­ten und wei­ßen Lich­ter auf der Flä­che, der zit­tern­de Glanz al­ler­or­ten, den man nur mit zu­cken­den Wim­pern an­schau­en konn­te, ga­ben Rosa die Emp­fin­dung, als woge und flie­ße al­les um sie her. Ein mun­te­res Ju­gend­ge­fühl be­seel­te sie wie­der. Sie drück­te ihre Schul­ter fes­ter an Mar­thas Arm und sag­te: »Wie war doch das Lied, das Sie ges­tern san­gen, von dem Lieb­chen, von dem man nichts hat?«

 

»Ah das!« Und Mar­tha be­gann zu sin­gen, schrie die Töne so laut sie konn­te in die Wei­te hin­aus. Rosa sang mit, und bei­de ho­ben die Köp­fe, blin­zel­ten lä­chelnd in das letz­te Auf­fla­ckern des Ta­ges hin­ein.

Plötz­lich war die Son­ne fort. Ei­nen Au­gen­blick stand das Bir­ken­wäld­chen in Flam­men, und der Ho­ri­zont strahl­te wie dun­kel­ro­tes Glas; dann fing das Er­lö­schen an. Das Gold der lang­ge­zo­ge­nen Wol­ken wur­de blei­cher, durch­sich­ti­ger und setz­te einen grau­en Rand an, wie von sei­ner Asche.

Be­dau­ernd schau­ten die Mäd­chen auf die­ses Er­lö­schen.

»Wir müs­sen heim«, sag­te Mar­tha end­lich.

»Kön­nen wir nicht noch bis an die Bir­ken ge­hen?« bat Rosa.

Aber Mar­tha schüt­tel­te ver­le­gen mit dem Kopf.

»Die Tan­te wird böse sein, wenn wir lan­ge fort­blei­ben.«

So kehr­ten sie denn um. Die Lich­ter auf dem Schnee wa­ren fort, matt­graue Schat­ten kro­chen über die Flä­che hin.

»Aber wis­sen Sie, Fräu­lein«, sag­te Mar­tha be­schwich­ti­gend, als rede sie ei­nem Kin­de zu. »Wenn es Früh­ling ist, dann ge­hen wir ins Bir­ken­wäld­chen.«

»Ja, dort muss es schön sein.«

»Frei­lich! Ein Bach geht an den Bir­ken vor­über, dort fan­gen wir Kreb­se, un­ter den Bir­ken ist das Moos so dicht, dass man auf den Baum­wur­zeln wie auf Kis­sen sitzt. Oh, es ist schön dort! Da­bei duf­ten die Bir­ken so stark, dass man da­von wie be­trun­ken wird. Ge­wiss! Wenn wir bei Nacht dort sa­ßen, be­ka­men wir Kopf­weh da­von.«

»Wer?«

»Ich und der Pe­ter«, ant­wor­te­te Mar­tha ru­hig.

Es dun­kel­te im­mer mehr. Durch die Luft flo­gen win­zi­ge har­te Schnee­flo­cken, die wie Na­deln sta­chen. Die Mäd­chen muss­ten die Köp­fe nie­der­beu­gen, um sich zu schüt­zen.

Mar­tha hat­te einen Au­gen­blick ge­schwie­gen, nun nahm sie das Ge­spräch mit ge­dämpf­ter Stim­me wie­der auf: »Ja, wis­sen Sie, Fräu­lein, ich durf­te den Pe­ter zu Hau­se nicht mehr se­hen, die Tan­te hat­te es ver­bo­ten, drum gin­gen wir ins Wäld­chen hin­ab. Ach, die Tan­te war dem Pe­ter so böse – so böse.«

»Wa­rum denn?«

Mar­tha lach­te: »Der Pe­ter ist auch zu­wei­len ein zu dum­mer Jun­ge! Er woll­te mich er­schre­cken. Sie wis­sen doch? Vom Spei­cher­dach kann man in un­se­re Fens­ter hin­ein­lan­gen. Nun, in ei­ner Nacht stieg der Pe­ter da hin­auf, um an un­ser Fens­ter zu klop­fen. Ei­nen Spaß woll­te er ma­chen. Wir ha­ben ge­lacht und dann ein we­nig ge­plau­dert, er stand auf dem Spei­cher­dach, ich im Zim­mer. Wie er da wie­der her­un­ter will, kommt die Tan­te ge­ra­de von der Krä­me­rin zu­rück, die da­mals in den Wo­chen lag. Es war hel­ler Mon­des­schein, so er­kann­te die Tan­te den Pe­ter. Du lie­be Zeit, das gab einen Lärm! So er­bost hat­te ich die Tan­te noch nie ge­se­hen. Der Pe­ter durf­te sich bei uns nicht mehr zei­gen; in die Schmie­de hin­über­zu­ge­hen trau­te ich mir auch nicht. Was soll­ten wir da tun? Sehn muss­te ich den Pe­ter, dach­te ich. Ich geh doch mit ihm. Und ist er zu mir her­auf über das Dach ge­kom­men, so kann ich auch über das Dach zu ihm hin­ab­kom­men. So bin ich denn bei Nacht hin­ab­ge­stie­gen, und wir tra­fen uns bei den Bir­ken. Was soll­ten wir an­de­res tun, nicht wahr?«

»Ja«, sag­te Rosa lei­se. Es war ihr selbst wun­der­lich, wie ver­nünf­tig und na­tür­lich sie al­les fand, und über das blei­che, däm­me­ri­ge Schnee­feld kam es wie der wei­che Hauch der Früh­lings­näch­te, der be­rau­schen­de Bir­ken­düf­te mit­bringt. »Und jetzt?« frag­te sie, um Mar­tha zum Wei­ter­er­zäh­len zu ver­an­las­sen. »Jetzt«, sag­te Mar­tha, »sind die­se al­ten Ge­schich­ten ver­ges­sen. Die Tan­te kann den Pe­ter zwar im­mer noch nicht lei­den, aber – mein Gott!« Sie be­en­de­te den Satz mit ei­nem Zu­cken ih­rer brei­ten Schul­tern, als fühl­te sie sich wohl im­stan­de, mit ei­nem Stoß die­ser Schul­tern al­les bei­sei­te­zu­schie­ben, was sich zwi­schen sie und den Pe­ter stel­len woll­te.

»Sie lie­ben den Pe­ter sehr?« forsch­te Rosa wei­ter.

»Ach Gott! Fräu­lein! Wie kann ich sa­gen, dass ich den Pe­ter lie­be! Und doch, es wird wohl so et­was sein. Na­tür­lich ha­ben wir uns gern. Wir ge­hen schon drei Jah­re mit­ein­an­der; da ge­wöhnt sich eins ans an­de­re. Die Tan­te sagt wohl, der Pe­ter ist arm; das ist aber nicht wahr. Der Mut­ter­bru­der des Pe­ter ist nach Ame­ri­ka ge­gan­gen. Dort soll man reich wer­den kön­nen, und wenn die­ser Mut­ter­bru­der nicht hei­ra­tet oder kei­ne Kin­der hat, dann erbt Pe­ter al­les. Ja – und dann, ich hab nun ein­mal den Pe­ter ge­nom­men, da muss ich zu ihm hal­ten. Ich kann nicht, wie des Krä­mers Min­na, je­des Jahr einen an­de­ren Ge­lieb­ten neh­men. Das wäre der Tan­te auch nicht recht. Es ist ja auch kein an­de­rer da.«

Sie schlu­gen einen kür­ze­ren Weg nach Hau­se ein. Die Stra­ße ver­mei­dend, gin­gen sie an der Rück­sei­te der Häu­ser einen en­gen Pfad ent­lang. Kü­chen­ge­rü­che und eine war­me, dump­fe Luft weh­ten hier. Hie und da flat­ter­te das un­si­che­re Licht ei­nes Herd­feu­ers oder der Glas­ku­gel ei­nes Schus­ters über den fins­tern Weg.

»So! Jetzt sind wir da­heim«, sag­te Mar­tha, als sie im Flur des Böhkschen Hau­ses stan­den. Rosa stieg die Trep­pe zu ih­rem Zim­mer hin­an, sie ward aber zu­rück­ge­hal­ten. Mar­tha hat­te Ro­sas Hand er­grif­fen und ihre Lip­pen fest dar­auf­ge­drückt. »Mit Ih­nen, Fräu­lein, plau­der­t’s sich so gut«, mein­te sie. An der Hoftü­re aber lehn­te schon Pe­ters brei­te Ge­stalt; er streck­te die Arme aus und griff nach den küh­len, von Schnee­flo­cken feuch­ten Wan­gen sei­nes Mäd­chens.

Wäh­rend Rosa die Trep­pe hin­an­stieg, fühl­te sie sich an­ge­nehm er­regt. Die Schön­heit der abend­li­chen Welt, al­les, was sie ge­hört und ge­se­hen, end­lich Mar­thas war­me Zärt­lich­keit lie­ßen Ro­sas ge­reiz­tes, ge­quäl­tes Herz schnel­ler po­chen. Oben je­doch, in der schweig­sa­men Dun­kel­heit ih­rer Kam­mer, kam der Rück­schlag. Ein pein­vol­les Ver­lan­gen nach Lust und Glück schrie in Rosa auf. Sie woll­te auch über die mond­be­glänz­ten Dä­cher in grü­ne Bir­ken­wäld­chen ei­len, um dort einen Ge­lieb­ten zu fin­den, der sie warm – warm in die Arme schloss – – das Blut koch­te in ihr, gab ihr schwü­le, wid­ri­ge Ge­dan­ken, die wie Fie­ber in ihr brann­ten und ihr Fleisch be­ben lie­ßen.

Als Rosa zum Nacht­mahl hin­ab­ging, war sie so bleich, dass alle sie ver­wun­dert an­schau­ten; nur Frau Böhk klopf­te sie auf die Schul­ter und mein­te: »Das sind die Kinds­mu­cken; das ken­nen wir.«