Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Drittes Kapitel

Der ers­te Tag war leid­lich über­wun­den durch ste­ti­ges Flie­hen vor kla­rem An­schau­en der Sach­la­ge, durch me­cha­ni­sches Wei­ter­le­ben, ohne das Be­wusst­sein aus sei­ner Be­täu­bung er­wa­chen zu las­sen. Merk­wür­dig aber war es, wie Rosa die­sen Zu­stand auch für die fol­gen­den Tage fest­zu­hal­ten ver­stand, wie sie ihre Sor­gen, das Sich-Auf­leh­nen ge­gen al­les Fins­te­re und Grau­sa­me, das ihr Le­ben zer­stör­te, zur Ruhe wies – und bei­sei­te­schob mit dem mut­lo­sen Satz: »Es ist eben al­les aus.«

Sie be­harr­te in ih­rer nacht­wand­le­ri­schen Gleich­gül­tig­keit und ließ ihre Ge­dan­ken weit ab­ge­le­ge­ne Wege ge­hen. Oft durch­leb­te sie wie­der im Geist, mit rei­ner Freu­de, ihre Ver­gan­gen­heit; die Zei­ten, da sie ein Schul­mäd­chen war und eine Rol­le un­ter ih­ren Ge­nos­sin­nen spiel­te. Nur zu­wei­len ward sie von der Erin­ne­rung der jüngs­ten Er­eig­nis­se hin­ter­rücks an­ge­fal­len wie von ei­nem wie­der­er­wach­ten ste­chen­den Schmerz, und die­se Erin­ne­rung mach­te das arme Mäd­chen bleich bis in die Lip­pen. »Nein – nein«, sag­te Rosa dann halb­laut vor sich hin, als woll­te sie die­se Bil­der von sich ab­schüt­teln.

Das Le­ben in der Herz­schen Woh­nung nahm wie­der sei­nen ge­wohn­ten Gang. Herr Herz gab am Vor­mit­tage Turn­un­ter­richt; die Mahl­zei­ten wur­den wie­der im Spei­se­zim­mer ein­ge­nom­men, und am Abend ver­sam­mel­te sich die Fa­mi­lie um den run­den Tisch im Wohn­zim­mer. In den Klub ging Herr Herz nicht mehr, und sei­ne Woh­nung war wie eine Fes­tung ge­gen die Au­ßen­welt ab­ge­schlos­sen, nicht ein­mal Nach­rich­ten dran­gen von au­ßen hin­ein, denn Herr Herz sprach nicht mehr von La­nin und Klappe­kahl. Er­zähl­te er nicht sei­ne al­ten Thea­ter­ge­schich­ten, so schwieg er. Rosa schwieg be­stän­dig. Nur in Ag­nes hat­te sich eine un­ge­wöhn­li­che Ge­sprä­chig­keit ent­wi­ckelt; ihre fes­te, be­ru­hi­gen­de Stim­me war die meist­ge­hör­te in den jetzt so stil­len Räu­men.

Wäh­rend der gleich­mä­ßig ver­rin­nen­den Tage kam end­lich doch ein Wan­del über das lei­den­de Mäd­chen. Statt der wei­ta­blie­gen­den, ne­bel­haf­ten Träu­me be­gann Rosa sich mit dem Zer­le­gen der für sie so ver­häng­nis­vol­len Er­eig­nis­se zu be­schäf­ti­gen; die­se Ge­dan­ken lie­ßen sich eben nicht mehr ab­wei­sen. Das stil­le, blei­che Kind fing nun un­abläs­sig mit sich selbst zu rä­so­nie­ren und zu rech­ten an. Rosa hielt im Geis­te große Re­den, ver­tei­dig­te sich, als säße sie auf der An­kla­ge­bank; war denn die­se Un­zu­frie­den­heit mit ih­rem Los nicht be­rech­tigt ge­we­sen? Der Durst nach Freu­den hat­te sie kopf­los ins Un­glück ge­trie­ben. War sie schuld dar­an, dass al­les so gars­tig und schimpf­lich ge­en­det hat­te? Ein je­des Mäd­chen hät­te ge­han­delt wie sie; ja, auch Sal­ly und Er­nes­ti­ne, wä­ren sie nicht häss­lich und schiel­ten. O die, die hat­ten es leicht, kei­ner ver­lieb­te sich in sie! Und Rosa er­ging sich in ei­nem bit­ter­bö­sen An­griff auf die­se bei­den Da­men. Im­mer neue Grün­de stell­ten sich ein, die be­wie­sen, dass Fräu­lein La­nin und Klappe­kahl arme, ver­ächt­li­che We­sen sei­en, die nie eine Lei­den­schaft er­regt oder emp­fun­den hat­ten. Gut! Rosa woll­te Bon­ne wer­den, sie war be­reit, al­les Schwe­re auf sich zu neh­men, sie er­war­te­te nichts mehr von ih­rem Le­ben, aber ge­gen ein so arm­se­li­ges Ding wie Sal­lys Exis­tenz hät­te sie es doch nicht ver­tauscht. Der Ent­schluss, fort­zu­ge­hen, be­ru­hig­te Rosa, es brauch­te ja nicht gleich zu sein, aber sie wuss­te, wor­an sie sich hal­ten konn­te. Nur über ei­nes ge­lang­te sie nicht zur Klar­heit: Sehn­te sie sich nach Am­bro­si­us – glaub­te sie noch an ihn – lieb­te sie ihn noch? Sie wuss­te es nicht. Die­se ver­wirr­te, ein­ge­schüch­ter­te Mäd­chen­see­le wag­te sich an das Ge­heim­nis ih­rer Lie­be nicht her­an. Der Ge­dan­ke an Am­bro­si­us brach­te ihr eine be­en­gen­de Schwü­le – sie ver­mied ihn, er schmerz­te zu sehr.

Bei all­dem war ihr das stil­le Le­ben lieb ge­wor­den. Da die gan­ze Welt ihr feind­lich ge­sinnt war, tat ihr die si­che­re Ruhe der en­gen Zim­mer wohl, in de­nen sie nur den zwei alt­be­kann­ten Ge­sich­tern be­geg­ne­te, wo sie nie ein ver­let­zen­des Wort hör­te, wo treue Lie­be über je­den ih­rer Schrit­te wach­te. Von der in­ne­ren Ar­beit, vom geis­ti­gen Rin­gen er­mü­det, schlief Rosa jetzt auch die Näch­te bes­ser und er­hol­te sich. Ihr Ge­sicht, im­mer noch sehr weiß, ver­lor sei­nen schlaf­fen Aus­druck, die Au­gen den Fie­ber­glanz.

»Es geht bes­ser«, sag­te Herr Herz zu Ag­nes. Die­se nick­te; sie hat­te es nicht an­ders er­war­tet. »Solch ein jun­ges Ding muss sich wie­der auf­rich­ten.«

Ei­nes Mor­gens stand Rosa be­son­ders gut­ge­launt auf. Sie hat­te die Nacht über tief und fest ge­schla­fen und von Am­bro­si­us ge­träumt, aber einen je­ner sel­te­nen Träu­me, die uns einen Men­schen ohne Ver­zer­rung, in ein­fa­cher, le­bens­vol­ler Wahr­heit vor die Sin­ne stel­len. Am­bro­si­us hat­te dort in der Kü­che ge­ses­sen – mit sei­nem fri­schen, lä­cheln­den Ge­sicht, sei­nen schö­nen Klei­dern. – Er lehn­te sich nach­läs­sig in den Stuhl zu­rück – die Hän­de auf den Kni­en – und schau­te Rosa mit sei­nen hel­len, kla­ren Au­gen an. »Wann fah­ren Sie?« frag­te Ag­nes, wor­auf Am­bro­si­us ant­wor­te­te: »Um vier Uhr – den­ke ich.«

Da er­wach­te Rosa, das Herz noch ganz warm von der Stel­le fri­schen, hof­fen­den Le­bens, die je­nes Traum­wort auf­ge­regt. Das lang­sa­me Sich-Zu­rück­tas­ten aus dem schö­nen Traum in die har­te Wirk­lich­keit war zwar bit­ter, den­noch ließ die Traum­wir­kung nicht ganz nach. Es reg­te sich in Rosa wie­der die Hoff­nung, als müss­te heu­te et­was Er­wünsch­tes ge­sche­hen.

Als sie in das Wohn­zim­mer trat, fand sie es ver­än­dert. Des Pfar­rers Kas­ta­ni­en­baum, der das Ge­mach mit sei­nen Blät­ter­schat­ten zu er­fül­len und das Licht zu mil­dern pfleg­te, hat­te über Nacht all sein Laub ver­lo­ren. Der kla­re Son­nen­schein drang un­be­hin­dert in das Zim­mer und ließ es grö­ßer, lee­rer er­schei­nen. Rosa blieb auf der Schwel­le ste­hen und kniff die Au­gen zu­sam­men; sie war auf die­se Hel­lig­keit nicht vor­be­rei­tet; doch sie ge­fiel ihr; sie paß­te zu Ro­sas Stim­mung, die nach Ver­än­de­rung, nach ei­nem Er­eig­nis ver­lang­te. Der her­be Glanz der Ok­t­ober­son­ne, der hart­blaue Him­mel zwi­schen den nack­ten Baum­zwei­gen – sie hat­ten et­was Mun­te­res, Un­ter­neh­mungs­lus­ti­ges, Rei­se­fer­ti­ges an sich. – Rosa ging an das Fens­ter, stieß es auf und beug­te sich hin­aus. Ein kal­ter Wind fuhr ihr ent­ge­gen und der der­be Ge­ruch der wel­ken Blät­ter. Auch die Stra­ße sah ver­än­dert aus, der Nacht­frost hat­te ihr ein be­son­ders sau­be­res Aus­se­hen ver­lie­hen, und in der durch­sich­ti­gen Luft nah­men die al­ten Bäu­me eine stei­fe Fei­er­lich­keit an, als wä­ren sie für einen Fest­tag ge­putzt und stramm auf­ge­stellt wor­den.

Jetzt klap­per­te es auf den Stei­nen. Ida Wulf kam die Stra­ße her­ab. – Un­ter Ro­sas Fens­ter blieb sie ste­hen, blick­te hin­auf und lach­te, ihre wei­ßen Zäh­ne zei­gend. »Gu­ten Mor­gen, Fräu­lein Rosa.«

»Gu­ten Mor­gen, Ida.«

»Sind Sie krank ge­we­sen, Fräu­lein Rosa?«

»Ja.«

»Sind Sie wie­der ge­sund?«

»Ja.«

»Wer­den Sie wie­der spa­zie­ren­ge­hen?«

»Ja. Wa­rum nicht.«

Rosa er­rö­te­te bei die­ser Ant­wort.

»So.«

Ida klopf­te mit der Fuß­spit­ze auf die Stei­ne, zog ihr Ge­sicht kraus und schau­te die Stra­ße hin­ab.

»Wie geht es dir, Ida?« frag­te Rosa hin­un­ter.

»Gut«, mein­te Ida und zuck­te die Ach­seln; dann sag­te sie lei­ser: »Dass Fräu­lein Sal­ly hei­ra­ten will – wis­sen Sie?«

»Nein. Wen denn?«

»Den Herrn Tod­dels – von Pal­tow, wis­sen Sie?«

»Den!«

Rosa lä­chel­te.

»La­chen Sie nicht, Fräu­lein Rosa; es ist wahr«, be­teu­er­te Ida. »Sie sind schon ges­tern Arm in Arm spa­zie­ren­ge­gan­gen.«

Als Rosa schwieg, füg­te Ida mit ver­stän­di­gem Kopf­ni­cken hin­zu: »Wa­rum auch nicht? Recht hat sie.«

»Ge­wiss!« er­wi­der­te Rosa has­tig.

»Und von dem jun­gen Herrn ha­ben Sie kei­nen Brief?« frag­te Ida plötz­lich.

»Nein. Weißt du et­was?«

»Ich weiß gar nichts«, ant­wor­te­te Ida, sich zum Wei­ter­ge­hen an­schi­ckend, »ich glaub­te nur, er hat Ih­nen einen Brief ge­schrie­ben. Gu­ten Mor­gen, Fräu­lein Rosa. Der Pe­ter hat mich zum Brücken­krug hin­ab­be­stellt.«

»Wozu denn?«

Ida zuck­te die Ach­sel. »Wie­der sei­ne Dumm­heit«, da­mit ging sie – klapp, klapp – wei­ter, den dür­ren Kör­per nach­läs­sig hin und her wer­fend.

Mit ge­röte­ten Wan­gen und auf­ge­regt glän­zen­den Au­gen blieb Rosa im Fens­ter lie­gen. Plötz­lich trat ihr frü­he­res Le­ben wie­der an sie her­an, als wäre es nie ge­stört wor­den. Sal­ly und Tod­dels, Ida und Pe­ter, die am Brücken­kopf noch im­mer ihr ver­steck­tes We­sen trie­ben, end­lich Am­bro­si­us. Es war ihr, als müss­te er jetzt dort un­ten vor­über­schlen­dern. Ge­wiss. Ida hat­te recht, er konn­te ihr schrei­ben, nichts wäre na­tür­li­cher. Sie be­griff nicht, wie sie hat­te al­les auf­ge­ben kön­nen. Sie hol­te wie­der ihre Lie­be zu Am­bro­si­us her­vor. Kam es nicht täg­lich vor, dass ein jun­ger Mensch ei­nem Mäd­chen treu blieb und es ge­gen den Wil­len der El­tern hei­ra­te­te? Kaum be­gann die See­le des Mäd­chens zu ge­ne­sen, als sich auch die frü­he­ren Mäd­chen­träu­me wie­der ein­stell­ten, die vor dem wah­ren Schmerz zer­sto­ben wa­ren.

Von jetzt ab er­war­te­te Rosa Am­bro­si­us’ Brief, er­war­te­te ihn mit je­nem un­ver­dros­se­nen, nie ras­ten­den Ei­fer, der das Ohr für den ge­rings­ten Laut schärft. Dazu ge­sell­te sich noch der gan­ze wun­der­li­che Aber­glau­be der Hoff­nung. Um die Zeit, da der Brief­trä­ger die Brie­fe aus­zu­tra­gen pfleg­te, stand Rosa am Fens­ter auf der Lau­er und ver­such­te aus al­ler­hand mys­ti­schen Zei­chen zu ent­neh­men, ob sich der er­sehn­te Brief in der schwar­zen Ta­sche be­fand oder nicht. »Geht der Brief­trä­ger«, sag­te sie sich, »auf die an­de­re Sei­te der Stra­ße hin­über oder – muss er an je­ner Türe zwei­mal schel­len, dann ist der Brief da.« Zu­wei­len ging der Brief­trä­ger auf die an­de­re Sei­te der Stra­ße hin­über oder schell­te zwei­mal an der be­tref­fen­den Türe, aber der Brief kam doch nicht.

 

Die­se neue Be­schäf­ti­gung mach­te Rosa un­ru­hig, und am Nach­mit­tage, als die Däm­me­rung ihr be­hag­li­ches Licht über die Stra­ßen brei­te­te, wäh­rend ein glanz­lo­ser wei­ßer Mond am Him­mel hing – da hielt sie es nicht län­ger im Zim­mer aus. Sie leg­te ih­ren ver­tra­ge­nen Win­ter­man­tel an, drück­te sich den rup­pi­gen Filz­hut tief in die Stirn und ging hin­aus.

Es tat wohl, wie­der in frei­er Luft auf der Stra­ße zu ste­hen, den Wind sich in die Haa­re fah­ren zu las­sen und mit den Ab­sät­zen auf die Stei­ne zu trom­meln. Rosa emp­fand wie­der et­was von der un­ge­bun­de­nen Aus­ge­las­sen­heit, die sonst in sol­chen Däm­mer­stun­den die Schank­schen Schü­le­rin­nen zu je­dem dum­men Streich auf­ge­legt ge­macht hat­te. Mit klei­nen Schrit­ten ging sie die Stra­ße hin­ab – sie woll­te zum Fluss hin­un­ter­ge­hen; spä­ter, wenn es fins­ter ge­wor­den war, hat­te sie einen Gang durch die Stadt vor; bei Lan­ins – Klappe­kahls – an der Schu­le – beim Tröd­ler vor­über, al­les woll­te sie heu­te wie­der­se­hen.

Am Ende der Stra­ße stan­den der Se­kre­tär Fei­er­gro­schen und der Apo­the­ker im eif­ri­gen Ge­spräch bei­ein­an­der. Klappe­kahl er­zähl­te et­was, sein Ge­sicht dem Se­kre­tär fast in den Sam­met­kra­gen des Über­rockes ste­ckend; der schö­ne Se­kre­tär, nach­läs­sig an einen La­ter­nen­pfahl ge­lehnt, hör­te zu und sand­te nur ab und zu ein Wört­chen un­ter dem gol­de­nen Bart her­vor.

»Eine wi­der­wär­ti­ge Af­fä­re!« mein­te Klappe­kahl. »Ich brau­che mich ei­gent­lich nicht hin­ein­zu­mi­schen. Was geht mich die gan­ze Ge­schich­te an? Was?« Und er stemm­te sei­nen Mit­tel­fin­ger ge­gen die Brust und blick­te den Se­kre­tär scharf an. Die­ser je­doch zuck­te nur die Ach­seln und schlug mit dem Spa­zier­stock auf das Pflas­ter. »Na­tür­lich«, fuhr der Apo­the­ker fort, als hät­te er die ge­wünsch­te Ant­wort er­hal­ten. »Das sage ich eben, mich geht die gan­ze Ge­schich­te nicht – so viel – an. – – Aber, aber! – Ich muss mich da hin­ein­mi­schen. Ver­ste­hen Sie? Ich muss!« Er hielt inne, um die­ses »muss« Herrn von Fei­er­gro­schen mit al­len fünf Fin­gern vor die Nase zu hal­ten. »Ers­tens – um Lan­ins wil­len, zwei­tens ken­ne ich den Kom­mer­zi­en­rat Tel­le­r­at, und er er­sucht mich um die­sen Dienst. End­lich tue ich’s für den al­ten Herz. Es wird ihm lieb sein, wenn ich die Af­fä­re lei­te. Ich muss also – nichts zu ma­chen.« Da­bei schlug er kräf­tig auf sei­ne Pa­le­tot­ta­schen.

»Ja – o ja!« ver­setz­te der Se­kre­tär lang­sam, nahm sei­nen Spa­zier­stock un­ter den Arm, um bei­de Hän­de frei zu ha­ben, und zupf­te vor­sich­tig die Spit­zen sei­nes Ba­cken­bar­tes. »Das fin­de ich ganz na­tür­lich. Nur sehe ich nicht ein, warum Sie es ihr – per­sön­lich sa­gen wol­len. Sie könn­ten es kom­mo­der durch den Al­ten ma­chen.« Er lach­te, weil er sich freu­te, die­sen na­he­lie­gen­den Aus­weg ge­fun­den zu ha­ben. Klappe­kahl aber schüt­tel­te den Kopf.

»Da sa­gen Sie mir nichts neu­es! Ich habe auch dar­an ge­dacht, es durch den Al­ten zu ma­chen – ich bin je­doch da­von zu­rück­ge­kom­men«, schloss er fei­er­lich und be­trach­te­te sei­ne Hand­flä­che.

»So? – hm – warum denn?« mur­mel­te Fei­er­gro­schen.

»Ja – se­hen Sie!« Der Apo­the­ker setz­te sei­ne Grün­de mit vie­lem Be­ha­gen aus­ein­an­der, er war stolz auf sie. »Ers­tens, und das ist das Haupt­mo­tiv, glau­be ich, der Va­ter wird die Sa­che nicht so ge­schickt und de­li­kat an­fas­sen wie ich. Ein gu­ter Kerl, der alte Herz, aber auf sol­che sub­ti­le Din­ge ver­steht er sich nicht, weiß es Gott! Ich kann wohl – ohne zu re­nom­mie­ren – be­haup­ten, dass ich mit Wei­bern bes­ser um­zu­sprin­gen weiß als er, trotz sei­ner Bal­lett­pra­xis. Mein Gott! Un­ser­eins hat doch auch sei­ne amours ge­habt! Was? Und mit mehr Ver­ständ­nis als so ei­ner. Kurz! Ich glau­be dem Mäd­chen da­durch die Sa­che leich­ter zu ma­chen.«

»Ach so!« er­wi­der­te Fei­er­gro­schen.

»Das ist – wie ge­sagt – das Haupt­mo­tiv«, fuhr der Apo­the­ker eif­rig fort. »Nun – und dann, Sie wis­sen, ich bin ein lei­den­schaft­li­cher Psy­cho­log.«

»Wirk­lich?«

»Ge­wiss! Lei­den­schaft­lich! Wuss­ten Sie das nicht? So ein Blick­chen in ein Men­schen­herz – de­li­cieux. Dar­über geht mir nichts; ob Sie’s mir nun glau­ben oder nicht! Sie ver­ste­hen also? Ob­gleich ich hun­dert sol­cher Ver­wick­lun­gen schon mit an­ge­se­hen habe. Eine jede bringt doch et­was neu­es – für den Ken­ner. Da­rin bin ich Gour­mand. Was? Sie fin­den die­sen Sport grau­sam?«

»Nein, das kann ich nicht sa­gen.«

»Nun hö­ren Sie, Se­kre­tär­chen, et­was grau­sam ist er doch«, mein­te Klappe­kahl bit­tend. »Aber – neh­men Sie eine Men­schen­see­le – neh­men Sie einen Schmerz – bon! Ich un­ter­su­che.« – – –

Der Se­kre­tär ward un­ru­hig. Sein oh­ne­hin lau­es In­ter­es­se schi­en ganz zu er­kal­ten. Er blick­te auf die Stra­ße – mach­te ei­ni­ge Schrit­te – blieb plötz­lich ste­hen – rück­te sein Au­gen­glas zu­recht. »Wer kommt denn da?« äu­ßer­te er.

Klappe­kahl sah auf. »Bei Gott, lu­pus in fa­bu­la – oder hier mehr luna! Sie geht sonst nie aus.«

»Da kön­nen Sie ihre Mis­si­on gleich be­gin­nen.«

Rosa ging an den Her­ren vor­über, sah sie je­doch nicht, weil sie den Kopf ge­senkt hielt und ei­lig ein­her­schritt.

»Nun«, flüs­ter­te Fei­er­gro­schen und stieß den Apo­the­ker mit dem El­len­bo­gen.

»Ob ich?« Der Apo­the­ker zö­ger­te. »Fa­ta­le Ge­schich­te!« Er ging Rosa aber doch nach. »Gu­ten Abend, Ro­set­te«, sag­te er, als er sie ein­ge­holt hat­te, und zog den Hut vor ihr. Rosa schau­te Klappe­kahl er­schro­cken an, und die­ser ward be­fan­gen. »Wol­len Sie wei­ter­ge­hen?« schlug er vor.

Ge­hor­sam ging Rosa wei­ter. »Ich woll­te eben zu Ih­nen hin­auf«, be­gann Klappe­kahl, »da fass­te mich der Se­kre­tär dort an der Ecke, und wir ver­plau­der­ten uns, aber, wie ge­sagt, ich war auf dem Wege zu Ih­nen.«

»Es wäre Papa ge­wiss sehr an­ge­nehm ge­we­sen«, ent­geg­ne­te Rosa lei­se. Der Apo­the­ker mit sei­nen Re­dens­ar­ten schüch­ter­te sie heu­te ein. Was woll­te er? Wäre er doch schon fort!

»Ihren Papa habe ich lan­ge nicht ge­se­hen«, fuhr Klappe­kahl fort – die Hän­de in den Pa­le­tot­ta­schen – mit gleich­mä­ßi­gen Schrit­ten ne­ben dem Mäd­chen ein­her­schrei­tend. »Wann doch zu­letzt? War­ten Sie. Vor­ges­tern? – Nein – gleich­viel! Heu­te aber woll­te ich nicht ei­gent­lich Ihren Papa auf­su­chen – son­dern Sie, Ro­sett­chen. Ja, ja! Zu Ih­nen woll­te ich, um mit Ih­nen von Ge­schäf­ten zu re­den.« Er schlug einen necki­schen Ton an; da Rosa aber zu Bo­den blick­te, konn­te er nicht ent­schei­den, wie die­ser Ton auf­ge­nom­men wur­de, drum ward er wie­der ernst und vä­ter­lich. »Das Ge­schäft ist eben nicht an­ge­nehm; ich habe es über­nom­men, denn wir bei­de sind ja im­mer gute Freun­de ge­we­sen, nicht?« Rosa schwieg. »Ich war von je­her Ihr al­ter Be­wun­de­rer, dar­um glaub­te ich, wir bei­de wür­den das Ge­schäft am bes­ten ab­ma­chen, ohne dass ein Drit­ter sich da hin­ein­mischt. Ich sag­te, Ro­set­te und ich wer­den al­les ord­nen. Ro­set­te ist das ge­schei­tes­te Mäd­chen ih­res Jahr­hun­derts, sie hat Ver­stand für drei. Auf Ehr! Das sag­te ich.« Er war­te­te wie­der auf eine Ant­wort. Rosa je­doch sag­te nichts. Sie wa­ren in den Stadt­gar­ten ge­langt und gin­gen über die hart­ge­fro­re­nen Kies­we­ge hin, auf de­nen das Herbst­laub ra­schel­te, wäh­rend die Fins­ter­nis im­mer dich­ter durch das brau­ne Ge­zwei­ge der ent­laub­ten Bäu­me her­ab­sank. Ein hef­ti­ger Wind weh­te hier. Klappe­kahl frös­tel­te und schlug den Kra­gen sei­nes Über­rockes auf. »Die Sa­che ist nun die«, nahm er sei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit sanf­ter Stim­me wie­der auf. »Der Kom­mer­zi­en­rat Tel­le­r­at schreibt mir – oder ei­gent­lich La­nin, der mir dann den Brief ge­ge­ben hat; er sieht ein, dass das Ver­hält­nis mit sei­nem Sohn – der arme Jun­ge soll zu Hau­se un­tröst­lich ge­we­sen sein, er hat es schwer ver­wun­den, das kön­nen Sie glau­ben. Gleich­viel! Der Kom­mer­zi­en­rat sieht also ein, dass das Ver­hält­nis mit sei­nem Soh­ne Ih­nen mög­li­cher­wei­se ge­scha­det ha­ben könn­te – in Ihren Plä­nen, Ih­rer Stel­lung – Ih­rer Kar­rie­re. Ganz un­recht hat er wohl nicht; das heißt, ich ur­tei­le über die­se Din­ge an­ders, aber in un­se­rem Nest – Sie wis­sen das ja eben­so gut wie ich. Der Kom­mer­zi­en­rat geht mit sei­nem Soh­ne nach Ita­li­en, schließ­lich ist eine Hei­rat in Aus­sicht ge­nom­men und so wei­ter.« Klappe­kahl hielt inne, um sei­ne psy­cho­lo­gi­schen Beo­b­ach­tun­gen an­zu­stel­len, aber die Mäd­chen­ge­stalt im schwar­zen Man­tel kämpf­te schwei­gend mit dem Win­de, und nichts ver­riet, was in ihr vor­ging. Der Apo­the­ker är­ger­te sich dar­über und be­schloss, in sei­ner Rede tro­ckener und kür­zer zu sein. »Vor­dem die­ses un­ter­nom­men wird«, fuhr er fort, »wün­schen der Kom­mer­zi­en­rat und sein Sohn ihre Schuld an Sie – Fräu­lein Rosa – ab­zu­tra­gen. Sie sind be­reit, Ih­nen eine Rei­se ins Aus­land, die Equi­pie­rung für eine Gou­ver­nan­ten­stel­le, oder was Sie sonst vor­ha­ben, zu er­leich­tern, das heißt, sie wün­schen et­was dazu bei­zu­tra­gen, dass Sie Ihren Le­bens­weg un­be­hin­dert wei­ter wan­deln kön­nen.« Die­ser Satz ge­fiel dem Apo­the­ker, er wie­der­hol­te ihn laut in den Wind hin­ein und streck­te die fünf Fin­ger aus; da sie ihm je­doch fro­ren, steck­te er sie wie­der in die Ta­sche und füg­te, we­ni­ger pa­the­tisch, hin­zu: »Ich fin­de die­ses Aner­bie­ten bil­lig. Nach mei­ner Auf­fas­sung sind Tel­le­r­ats Ih­nen das schul­dig, auch sehe ich kei­nen Grund, die­ses Aner­bie­ten nicht zu ak­zep­tie­ren. Wie ge­sagt, von Ih­rer Sei­te ist es nur das Ein­kas­sie­ren ei­ner Schuld. Das Geld soll bei mir ein­ge­zahlt wer­den. Das ist ganz ein­fach, nicht wahr? Wie­viel und so wei­ter wol­len wir be­spre­chen, wenn Sie sich im Prin­zip ent­schie­den ha­ben wer­den. Was?« Rosa schwieg und ging has­tig vor­wärts. »Ich will Sie na­tür­lich nicht drän­gen«, mein­te Klappe­kahl. »Aber die Sa­che ist durch­aus ein­fach. Geld kommt im­mer ge­le­gen.« Er wuss­te wirk­lich nicht, was er mit dem stil­len Mäd­chen be­gin­nen soll­te. Will sie das Geld? Will sie es nicht? Ist sie be­lei­digt? Ist sie froh? Kein Teu­fel konn­te dar­aus klug wer­den! Dazu noch die­ses ver­damm­te Wet­ter!

Sie ver­lie­ßen jetzt den Gar­ten und tra­ten an den Fluss her­an. Der Mond brei­te­te eine große Hel­lig­keit über den Him­mel und das Land und ließ die­se weit und leer er­schei­nen.

»Nun, mein lie­bes Kind«, be­gann Klappe­kahl hier wie­der zu spre­chen. »Ich habe Ih­nen die­se Af­fä­re so gut ich konn­te aus­ein­an­der­ge­setzt. Sa­gen Sie mir nur, wie Sie dar­über den­ken. Schüt­ten Sie vor mir Ihr gan­zes Herz­chen aus.« Das freund­li­che Ge­sicht, mit dem er die­se Wor­te be­glei­ten woll­te, fiel ein we­nig ver­zerrt aus, denn Lip­pen und Wan­gen wa­ren steif vor Käl­te.

Rosa lehn­te sich mit dem Rücken ge­gen das Fluss­ge­län­der, ließ ihre Arme er­schöpft sin­ken und hob zu Klappe­kahl ihr blei­ches, kum­mer­vol­les Ant­litz auf, aus dem die Au­gen angst­voll her­vor­schau­ten. Mit lei­ser, tiefer Stim­me sag­te sie: »Bit­te – sa­gen Sie Am­bro­si­us Tel­le­r­at, dass ich nichts von ihm mag.« – Der Apo­the­ker räus­per­te sich. Er hat­te nicht er­war­tet, ei­nem so großen Schmerz ge­gen­über­zu­ste­hen. »Nun – warum denn? Ich fin­de, wenn man die Sa­che vom rich­ti­gen Stand­punk­te aus be­trach­tet« – er brach ab, denn er fühl­te, dass sei­ne ge­wöhn­li­che Be­red­sam­keit die­sem bit­ter­erns­ten Mäd­chen ge­gen­über nicht am Plat­ze sei,

»Bit­te, sa­gen Sie ihm«, fuhr Rosa mit dem­sel­ben be­stimm­ten, me­tal­li­gen Klang der Stim­me fort, »dass ich von ihm nur eins ver­lan­ge, er soll mich nicht wei­ter quä­len.«

Klappe­kahl trip­pel­te vor Rosa auf und nie­der. Hier war of­fen­bar nichts zu ma­chen, es galt nur, einen pas­sen­den Schluss zu fin­den. »Schön, schön!« ver­setz­te er. »Ich will’s be­stel­len. Es wird dem ar­men Jun­gen na­he­ge­hen. Ver­dient hat er’s üb­ri­gens. Na­tür­lich – wenn man die Af­fä­re so an­sieht, so ha­ben Sie recht. Je­des Ding hat zwei Sei­ten, sage ich im­mer. Bon! Ich will’s be­stel­len. Das mei­ni­ge habe ich ge­tan. Mir sind Sie doch des­halb nicht böse? Nein? Das ist brav. Ich tat mei­ne Pf­licht. Das also wäre ab­ge­macht. Hier ist’s ver­teu­felt kalt. Ich be­glei­te Sie nach Hau­se – selbst­ver­ständ­lich! Wie? Sie ge­hen nicht mit?«

 

»Nein. Ich wür­de gern al­lein sein«, er­wi­der­te Rosa.

»Was? Bei der Käl­te im Mond­schein schwär­men?« Klappe­kahl hat­te wie­der sein welt­män­ni­sches Ki­chern ge­fun­den. »Nun, ich dan­ke! Da bin ich nicht von der Par­tie. Gu­ten Abend, Ro­sett­chen. Sie sind mir nicht böse? Der alte Klappe­kahl bleibt im­mer Ihr treues­ter Be­wun­de­rer. Er­käl­ten Sie sich nicht.« Als er Rosa den Rücken wand­te und ei­lig der Stadt zu­schritt, stieß er mit großer Er­leich­te­rung sei­ne Hän­de auf den Grund sei­ner Ta­schen. Es war glück­lich vor­über! Vor sol­chen tra­gi­schen Au­gen konn­te ei­nem ja angst und ban­ge wer­den, und er dach­te dar­über nach, wie er Fei­er­gro­schen und Dr. Hol­te am wir­kungs­volls­ten die Sze­ne schil­dern könn­te.

Rosa blieb am Flus­se ste­hen. Jetzt be­griff sie al­les; be­griff die gan­ze Schan­de, die über sie her­ein­brach. Dass sie vor ei­ner Stun­de so tö­richt hat­te sein kön­nen, zu hof­fen! Die heu­ti­ge Leh­re aber hat­te sie er­fasst. Ein küh­les, scho­nungs­lo­ses Ver­ste­hen war ihr ge­wor­den. Die Klein­heit und Häss­lich­keit al­les des­sen, wor­an sie ge­glaubt, lag klar vor ihr – und Ekel und Bit­ter­keit stie­gen in ihr auf und mach­ten sie ru­hig. Was half es! Es war doch nichts des An­schau­ens wert. Ge­ängs­tigt blick­te sie zum Him­mel auf, der weit und hoch in sei­ner durch­sich­ti­gen Klar­heit über ihr hing, und es war der Durst nach je­ner hel­len, rei­nen Stil­le, was sie emp­fand; sie hät­te sie trin­ken, sich in ihr ba­den mö­gen, um von dem Schmut­zi­gen, Schimpf­li­chen, Gars­ti­gen be­freit zu sein, das auf ihr wie ein Alp las­te­te.

Ver­sun­ken in ihre trü­ben Ge­dan­ken, be­merk­te sie nicht, dass eine schma­le, dunkle Ge­stalt sich ihr lang­sam nä­her­te, vor ihr ste­hen­blieb, den Hut ab­nahm und lei­se »Gu­ten Abend« sag­te. – Con­rad Lurch war es. Fest in sei­nen grau­en Über­rock ein­ge­zwängt, den schä­bi­gen Hut im Na­cken, stand er da. Das lan­ge Ge­sicht nahm im Mond­licht ein kran­kes, grün­li­ches Aus­se­hen an. Die Au­gen wa­ren von tie­fen Schat­ten um­ge­ben, und die ge­röte­ten Au­gen­li­der zuck­ten wie bei jun­gen Vö­geln. Der arme Con­rad Lurch! So vom Mon­de be­schie­nen nahm er sich sehr dünn, sehr lei­dend und ein we­nig her­ab­ge­kom­men aus. Erst als er sei­nen Gruß wie­der­hol­te, zuck­te Rosa leicht zu­sam­men und sah ihn an. »Gu­ten Abend«, er­wi­der­te sie. »Ich gehe nach Hau­se«, füg­te sie has­tig hin­zu und woll­te fort.

»Ach, ge­hen Sie nicht!« bat Lurch kläg­lich, »Tag um Tag habe ich dar­auf ge­war­tet, Sie spre­chen zu dür­fen, und nun wol­len Sie ge­hen.«

Rosa blieb. Matt und ge­dul­dig lehn­te sie sich wie­der an das Ge­län­der. Schließ­lich war es ja gleich­gül­tig, ob sie ging oder blieb!

»Ich sah Sie vor­hin mit Herrn Klappe­kahl ge­hen«, fuhr Lurch mit sei­ner ho­her, hei­se­ren Stim­me fort. »Da bin ich Ih­nen nach­ge­gan­gen, dort – an je­nem Bau­me war­te­te ich, bis Herr Klappe­kahl Sie ver­ließ, dann kam ich, um mit Ih­nen zu spre­chen. Fräu­lein Ro­sa…« Rosa hör­te nicht mehr, was er ihr sag­te, sie dach­te wie­der dar­an, wie ver­blen­det sie ge­we­sen war, das für schön und er­stre­bens­wert zu hal­ten, was ihr jetzt so wid­rig, so ge­mein er­schi­en. Lie­be nann­te man das! Mein Gott, war das eine häss­li­che, nied­ri­ge Sa­che! Nichts als Schan­de – un­end­li­che Öde. Es gab Men­schen, die in ih­rem Fall ster­ben konn­ten, sie hat­te da­von ge­hört. Un­will­kür­lich wand­te sie sich um und blick­te auf den Fluss hin­ab. Über das un­ru­hi­ge, tin­ten­schwar­ze Was­ser fuhr das Mond­licht in has­ti­gem Zick­zack hin; ein ste­tes Flie­ßen und Le­ben, eine Jagd von Schat­ten und blei­chem Licht. Frös­telnd fuhr Rosa zu­rück.

»Und eben, Fräu­lein Rosa, weil ich Sie so sehr lie­be«, klang Lurchs ge­preß­te Stim­me in Ro­sas Ge­dan­ken hin­ein und mach­te sie auf­hor­chen. Was sprach er denn von Lie­be? Die fa­den­schei­ni­ge, trüb­se­li­ge Er­schei­nung war für Rosa jetzt wie das ver­kör­per­te Bild je­ner Lie­be, die sie mehr als al­les ver­ab­scheu­te.

»Weil ich Sie so sehr lie­be, Fräu­lein Rosa, sag­te ich mir: jetzt viel­leicht kannst du ihr die­nen, jetzt viel­leicht nimmt sie dei­ne Lie­be an. Es ist ja nicht, dass ich glau­be, Sie könn­ten sich je in mich ver­lie­ben. Be­wah­re! Sie sol­len nur ge­stat­ten, dass ich Ih­nen die­ne. Ich glau­be nicht, Fräu­lein Rosa, dass je­mand Sie stär­ker lie­ben kann als ich. Ich glau­be das nicht. Sie wis­sen, Fräu­lein, seit ich Sie ken­ne, bin ich Ih­nen gut. Dort in Lan­ins La­den – und die Ko­rin­then – im­mer – im­mer.« Müh­sam re­de­te er fort und drück­te die Knö­chel sei­ner blau­ge­fro­re­nen Hän­de fest ge­gen­ein­an­der. »Aber seit­dem Sie er­laubt ha­ben, dass – dass ich Sie küs­se – dort bei Wulf – Sie wis­sen, Fräu­lein Rosa? – seit­dem hat es wie eine Krank­heit an mir ge­nagt. Tag und Nacht habe ich nur an Sie den­ken kön­nen. Ich weiß, Sie ta­ten es da­mals nicht für mich; mich aber hat es un­glück­lich ge­macht. Mei­ne Mut­ter fragt mich, wo­her die Lö­cher in mein Kopf­kis­sen kom­men. Ich habe es ihr nicht ge­sagt; aber bei der Nacht, wenn ich an Sie, Fräu­lein Rosa, den­ke, zer­rei­ße ich mit den Zäh­nen mein Kopf­kis­sen. Ich weiß nicht warum, aber ich muss das tun. Als ich nun hör­te, wie es Ih­nen er­gan­gen ist, da dach­te ich, viel­leicht jetzt. Ich kann ohne Sie nicht le­ben. Bei Gott! Fräu­lein Rosa, ich kann – – kann es nicht!« Sein Ge­sicht ver­zerr­te sich; er schi­en zu wei­nen.

Starr vor Schre­cken blick­te Rosa ihn an. War es ein furcht­ba­rer Traum, der die­sen blei­chen Men­schen vor sie hin­stell­te, da­mit er ihr mit sei­ner halb­lau­ten, lei­den­schafts­hei­ßen Stim­me vor­hielt, was sie ge­tan? Und doch konn­te sie nicht fort. Wie ge­fes­selt stand sie da, die Arme über das Ge­län­der ge­legt, und hör­te zu. »Las­sen Sie mich!« stöhn­te sie.

»Ich las­se Sie ja, Fräu­lein Rosa«, er­wi­der­te Lurch. »Ich hal­te Sie nicht. Es wäre aber nicht gut, Fräu­lein Rosa, mich so ste­hen­zu­las­sen. Ich glau­be nicht, dass das gut wäre. Den Wech­sel un­ter­schrieb ich da­mals, weil Sie es woll­ten, sonst hät­te ich es nicht ge­tan – aber, als Sie ka­men – – Sie er­in­nern sich des­sen, Fräu­lein Rosa? Herr La­nin hat mich die­ses Wech­sels we­gen fort­ge­schickt, und die ho­hen Pro­zen­te hat er nicht be­zah­len wol­len, da habe ich zu­le­gen müs­sen. Ich hat­te et­was Geld zu­rück­ge­legt – für mei­ne Mut­ter, wis­sen Sie, wenn ich ein­mal ohne Stel­le bin. Es ist aber al­les dar­auf­ge­gan­gen. Ja – und ich habe jetzt nichts zu tun. Die­ser Über­rock ist schlecht, ich sehe das wohl, der Hut auch; aber wäre der Wech­sel nicht ge­we­sen, so… Üb­ri­gens ma­che ich mir nichts dar­aus, wenn Sie nur woll­ten. Ohne Sie kann ich nicht le­ben, Fräu­lein Rosa; ohne Sie nicht.«

»Was kann ich denn tun?« stieß Rosa kaum hör­bar her­vor. Sie woll­te die Be­din­gun­gen er­fah­ren, un­ter de­nen sie be­freit wer­den konn­te. Lurch sah auf sei­ne Hän­de her­ab und ver­setz­te lei­se: »Wir könn­ten ein­an­der ja hei­ra­ten.«

»Sie?«

»Ja!«

Lurch hob den Kopf. Der Mond be­schi­en sein fah­les Ge­sicht, auf den Wan­gen brann­ten rote Fle­cken; die Au­gen­li­der blin­zel­ten im­mer has­ti­ger, und die Hän­de krampf­ten sich in­ein­an­der, dass es knack­te. »Ja, denn ich lie­be Sie doch, Fräu­lein Rosa, und wer wird Sie sonst hei­ra­ten? Ich weiß sehr gut, was dort bei Wulf ge­sche­hen ist, und die gan­ze Stadt weiß es – alle, alle. Sie zei­gen mit Fin­gern auf Sie. Ich ma­che mir nichts dar­aus. Frü­her sag­te ich mir, sie ist zu gut – zu hoch für dich; jetzt aber, Fräu­lein Rosa, sind Sie zu mir her­un­ter­ge­kom­men, jetzt, wo kei­ner Sie will, kann ich Sie doch ha­ben! Ich muss Sie ha­ben! Bit­te, bit­te, Fräu­lein Rosa, sei­en Sie so gut, tun Sie mir den Ge­fal­len. Ge­wiss – kei­ner nimmt Sie sonst. Alle schimp­fen auf Sie, nur ich lie­be Sie. Gott, Gott, wenn Sie wüss­ten, wie stark ich Sie lie­be!« Er wein­te und knie­te auf den Sand nie­der.