Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Nach dem Mit­ta­ges­sen brach wie­der ei­ner je­ner stil­len Nach­mit­tage an, wie Rosa de­ren so vie­le er­lebt hat­te; der letz­te – sag­te sich Rosa heu­te.

Herr Herz schlum­mer­te in sei­nem Ses­sel. Gol­de­ne Lich­ter zit­ter­ten über die Wand und den Fuß­bo­den hin; der Wind schüt­tel­te an den Vor­hän­gen. Von der Stra­ße tön­ten Stim­men und Schrit­te her­auf. Im Stadt­gar­ten spiel­te die Mu­sik, und zu­wei­len drang ein lus­ti­ges Auf­schmet­tern der Hör­ner bis in die Herz­sche Woh­nung. Ge­gen­über, scharf von dem Rücken des Ra­ser­schen Da­ches ab­ge­schnit­ten, stand das Stück tief­blau­en Him­mels, das Rosa stets blau­er als der üb­ri­ge Him­mel er­schie­nen war; die Schwal­ben schos­sen dar­über hin und sand­ten sich ihre schril­len, lus­tig­frei­en Rufe zu.

Rosa lag im Fens­ter und schau­te zu, wie die Leu­te zum Stadt­gar­ten ström­ten. Lau­ter be­kann­te Ge­sich­ter, Men­schen, die Rosa von Kind­heit auf ge­se­hen hat­te – und doch! – wie fremd wa­ren sie ihr jetzt. Gleich­gül­tig gin­gen sie ein­her, spra­chen, lach­ten, als hät­te es für sie nie eine Rosa ge­ge­ben; in ih­rem Le­ben hat­te sich nichts ge­än­dert. Zum ers­ten Male stieg in Rosa der Ge­dan­ke auf, wie doch der Mensch in furcht­ba­rer Ein­sam­keit mit sich selbst ein­ge­schlos­sen ist. Ganz al­lein! – Sie warf ih­ren Kopf zu­rück und schau­te auf­merk­sam sin­nend über das Dach des Pfarr­hau­ses hin. Was doch der heu­ti­ge Tag für un­ge­wohn­te, bun­te Ge­dan­ken brach­te! Aber es ward ihr jetzt klar; was wuss­te denn ei­ner vom an­dern? Da schlief ihr al­ter Va­ter bleich und kum­mer­voll in sei­nem Ses­sel und ahn­te nichts von den küh­nen, aben­teu­er­li­chen Un­ter­neh­mun­gen, die, kaum einen Schritt von ihm ent­fernt, sei­ne Toch­ter plan­te, nichts von dem Schmerz, der fer­tig ne­ben ihm stand. Nein, über­all ge­sperr­te Tü­ren.

Rosa blick­te wie­der auf die Stra­ße nie­der. Es un­ter­hielt sie jetzt, den Leu­ten nach­zu­schau­en und sich be­däch­tig zu sa­gen: »Wie die sich den Arm rei­chen! Wie ka­me­rad­schaft­lich sie tun! Was hilft’s! Sie mö­gen sich noch so eng an­ein­an­der­schmie­gen, es bleibt doch ein je­der al­lein – al­lein – al­lein«, die­ses Wort hing sich an jede Per­son; es ward zum ei­gen­sin­ni­gen Traum, der jede Ge­stalt ver­zerrt, und mit­ten im hel­len, mun­te­ren Ta­ges­licht be­schlich es Rosa wie Grau­en. Sie woll­te aber nicht ein­sam sein; sie fürch­te­te sich. Wäre doch Am­bro­si­us da; der lieb­te sie, vor dem brauch­te sie sich nicht zu ver­ber­gen. Wenn man ge­liebt wird, ist man nicht al­lein, nicht wahr? Das ist eben die Lie­be. – Soll­te sie zum Tröd­ler hin­über­ge­hen? Nein! Das durf­te sie nicht. Dann woll­te sie sich we­nigs­tens auf das Wie­der­se­hen mit Am­bro­si­us vor­be­rei­ten; sie freu­te sich dar­auf und sehn­te es her­bei. Sie moch­te nicht al­lein sein.

Sie ging in ihr Zim­mer und setz­te sich an den Schreib­tisch; der Brief an den Va­ter muss­te ge­schrie­ben wer­den. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke saß Rosa vor dem Brief­bo­gen, den Fe­der­hal­ter an den Lip­pen, und dach­te nach, dann tauch­te sie die Fe­der in die Tin­te und schrieb – ru­hig, in ei­nem Zuge – den Bo­gen voll. Durch die halb an­ge­lehn­te Türe hör­te sie die tie­fen Atem­zü­ge ih­res schlum­mern­den Va­ters; den­noch zit­ter­te ihre Hand nicht im ge­rings­ten beim Nie­der­schrei­ben die­ser Zei­len, in de­nen je­des Wort ein Stich in das gute alte Herz sein muss­te, das jetzt – dort ne­ben­an – so ah­nungs­los schlug.

»Liebs­ter Papa!« hieß es in dem Brief, »wenn Du die­ses liest, bin ich schon weit von Dir, ich hof­fe, nur für kur­ze Zeit. Sie wol­len mich hier nicht mehr; gut! Ich gehe. Am­bro­si­us und ich lie­ben uns in­nig, und nie­mand soll uns schei­den. Wenn wir un­lös­lich ver­bun­den sind, kom­men wir wie­der und ho­len Dich ab, da­mit Du un­ser Glück teilst. Wenn ich dar­an den­ke, wie se­lig wir zu­sam­men­le­ben wer­den, möch­te ich auf­jauch­zen. Ag­nes muss auch mit. Dass ich heim­lich fort­ge­he, ver­zeihst Du mir, lie­ber – lie­ber Papa, es ist zu mei­nem Glück nö­tig, denn dass ich glück­lich wer­de, das ver­spre­che ich Dir. Vie­le tau­send Küs­se. Auf bal­di­ges fro­hes Wie­der­se­hen. Dei­ne treue Toch­ter Rosa. Sonn­tag, den 25. Sep­tem­ber.«

Rosa mach­te einen hüb­schen, sorg­sa­men Schnör­kel un­ter ih­ren Na­men, fal­te­te das Blatt zu­sam­men, schrieb »an Papa« dar­auf, steck­te es in die Ta­sche.

Es war vier Uhr. Wie fern der Abend noch war. In fünf Mi­nu­ten konn­te sich noch so­viel Stö­ren­des er­eig­nen. Rosa pack­te ihre Habe in den Rei­se­sack, ver­schloss ihn und ver­steck­te ihn un­ter ih­rem Bett. Das Rei­se­kleid, Hut und Man­tel leg­te sie zu­recht. Al­les war be­reit. Nun zog sie sich das Kleid, das sie an­hat­te, aus und leg­te sich auf ihr Bett. So war es noch am leich­tes­ten, den Abend zu er­war­ten. Rosa hät­te jetzt vie­les er­le­ben, tun, un­ter­neh­men mö­gen und muss­te stil­le­hal­ten wie ein kran­kes Kind. Ne­ben­an reg­te sich der Va­ter – seufz­te tief auf – be­gann im Zim­mer auf und ab zu ge­hen. Oh, den woll­te Rosa glück­lich ma­chen – den ar­men Papa! – Jetzt schloss er den Kas­ten auf, um den schwar­zen Rock her­vor­zu­ho­len – jetzt bürs­te­te er sei­nen Hut. Ro­sas Herz ward im­mer wei­cher, sie preß­te ihr Ge­sicht in die Kis­sen und muss­te es sich im­mer wie­der sa­gen, wie glück­lich sie den ar­men Papa ma­chen woll­te.

Er kam an ihre Türe und steck­te den Kopf in das Zim­mer. »Schläfst du, Kind«, frag­te er, »ich gehe fort.«

»Ja, ich schla­fe.«

»Gut, Kind! Ich will dich nicht stö­ren.« Er zog sich zu­rück.

»Adieu, Papa.«

»Adieu, adieu –« sag­te Herr Herz schon im an­de­ren Zim­mer. Die Hau­stü­re knarr­te; er war fort.

Rosa stürz­te an das Fens­ter, ihm nach­zu­schau­en. Da ging er – fest in sei­nen schwar­zen Rock ein­ge­knöpft – eine schma­le, kum­mer­vol­le Ge­stalt.

Rosa muss­te zu Ag­nes ge­hen, um ihr zu sa­gen, dass sie kein Nacht­mahl wol­le und sich so­gleich zu Bett le­gen wer­de. Sie fühl­te wohl ein Ban­gen, das ihr Herz be­drück­te, und eine tie­fe Er­re­gung, der sie nicht Raum ge­ben woll­te, schnür­te ihr die Keh­le zu­sam­men, aber Reue oder Zau­dern war das nicht. Mit pein­li­cher Ge­wis­sen­haf­tig­keit er­füll­te sie je­den Punkt ih­res tö­rich­ten Pla­nes.

Ag­nes saß am Kü­chen­tisch und las in ih­rem Ge­sang­bu­che. In der Kü­che herrsch­te Sonn­tags­ord­nung. Durch das ge­öff­ne­te Fens­ter sah man auf den lee­ren Hof hin­aus und über die Nach­bar­dä­cher hin, auf de­nen die ro­ten Abend­strah­len sprüh­ten. Ag­nes fuhr lang­sam mit dem Zei­ge­fin­ger die Zei­len in ih­rem Bu­che hin­ab und be­weg­te ton­los die Lip­pen. Als Rosa ein­trat, blick­te sie auf.

»Ag­nes, ich gehe schla­fen. Ich mag kein Nacht­mahl. Ich habe Kopf­weh«, sag­te Rosa has­tig. Als sie das vor­ge­bracht hat­te, blieb sie doch noch am Kü­chen­tisch ste­hen, der tie­fe Frie­den hier er­schüt­ter­te sie. –

»Was gib­t’s denn?« frag­te Ag­nes. »Bist du krank?«

»Nein. Es ist nichts!«

»Doch, ich brin­ge dich zu Bett«, be­schloss Ag­nes und leg­te ein tro­ckenes Kas­ta­ni­en­blatt als Le­se­zei­chen in das Ge­sang­buch. Rosa aber woll­te da­von nichts wis­sen: »Ich bin schon so gut wie aus­ge­klei­det. Nur schla­fen will ich«, rief sie und lief da­von. – Noch eine Stun­de, und dann – – –

Was war sonst eine Stun­de, wenn sie zwi­schen ei­ner Ge­schichts- und ei­ner fran­zö­si­schen Stun­de lag! Und heu­te woll­te sie nim­mer ver­strei­chen.

Ei­nen kur­z­en Au­gen­blick war Ro­sas Zim­mer jäh von dem ro­ten Licht der un­ter­ge­hen­den Son­ne er­leuch­tet ge­we­sen – die­ses Auf­fla­ckern ward dann zu ei­nem matt­gel­ben, ge­spens­ti­schen Schein, der das Herz ver­zagt macht, wie nie­der­ge­brann­te Ker­zen am Schluss ei­nes Fe­sta­bends.

Im Ne­ben­zim­mer sperr­te Ag­nes den Schrank zu, rück­te die Ses­sel an die Wand. Die Kü­chen­tü­re ward zu­ge­wor­fen, ein schür­fen­der Tritt stieg die klei­ne Trep­pe hin­an, die nach oben führ­te – dann ward es still; Ag­nes war zur Ruhe ge­gan­gen.

Wäh­rend die Däm­me­rung auf die klei­nen Räu­me der Herz­schen Woh­nung nie­der­sank, lag das stil­le Mäd­chen has­tig at­mend da und starr­te mit weit of­fe­nen Au­gen auf das Stück blei­chen Him­mel, das vor ihr vom Fens­ter­kreuz in gleich­mä­ßi­ge Ta­feln zer­schnit­ten ward. Lang­sam ver­häng­te die Dun­kel­heit einen Ge­gen­stand nach dem an­dern im Ge­mach, nahm Rosa Stück für Stück ihre Ver­gan­gen­heit, um sie atem­los und zit­ternd vor Auf­re­gung vor eine un­kla­re, dunkle Zu­kunft zu stel­len.

Ein Licht­strahl blitz­te auf und warf einen schma­len Gold­streif auf den Bett­vor­hang. Un­ten auf der Stra­ße ward die La­ter­ne an­ge­steckt. Ein zwei­ter Licht­streif glitt über die Zim­mer­de­cke hin. Das war drü­ben die Lam­pe des Pfar­rers; und nun schlug es neun Uhr, Rosa sprang auf, leg­te ihr Kleid an, tas­te­te nach ih­ren Sa­chen. Es kam ihr der Ge­dan­ke: Wenn du es ver­säum­test? Wenn Am­bro­si­us schon fort wäre? Sie nahm sich nicht die Zeit, den Man­tel zu­zu­knöp­fen, die Hand­schu­he an­zu­zie­hen, son­dern stürm­te fort. Lei­se durch­schritt sie das Wohn­zim­mer, das nur spär­lich von der Lam­pe er­hellt wur­de, die ge­gen­über an des Pfar­rers Fens­ter stand; und es war Rosa, als müs­se sie hier be­son­ders be­hut­sam auf­tre­ten, um den trau­ten Raum nicht aus sei­nem Schlum­mer zu we­cken, in dem er zu lie­gen schi­en. Dann durch die Kü­che. Hier war es fins­ter. Ei­ni­ge Heim­chen schrill­ten am Her­de. Ihr durch­drin­gen­der Ton er­schreck­te Rosa; klang er nicht so ei­gen­sin­nig jam­mernd, als rie­fen Ag­nes’ klei­ne Ka­me­ra­den ihr et­was Trau­rig-Mah­nen­des zu? Vor­sich­tig schob sie den Rie­gel der Hin­ter­tü­re zu­rück, schlich die Trep­pe hin­ab und stand auf der Stra­ße.

Die Nacht war dun­kel und voll hef­ti­gen We­hens. Schwar­ze, wild­aus­ge­fran­s­te Wol­ken­stücke wur­den von Wes­ten her über den Him­mel ge­trie­ben, zwi­schen ih­nen glomm hie und da ein grell leuch­ten­der Stern auf. Rosa schau­te sich nach Ida um. Die Stra­ße war leer.

 

Soll­te Rosa auf das Ju­den­mäd­chen war­ten? Vi­el­leicht war es spät und Ida schon fort. Eine große Angst er­griff Rosa. Sie schau­te zu den Fens­tern des Pfar­rers auf. Dort saß die Fa­mi­lie um den ge­deck­ten Tisch, und die Magd trug das Es­sen auf. Also schon beim Nacht­mahl. Ja, es muss­te spät sein. Gott, zu spät viel­leicht und al­les war aus, Rosa muss­te bei den fried­li­chen Fa­mi­li­en, den blau­en Por­zel­lan­tel­lern, den Schüs­seln voll damp­fen­der Er­däp­fel blei­ben. Sie be­gann zu lau­fen – die Stra­ße hin­ab, um die Ecke in den Stadt­gar­ten. Leu­te, an de­nen sie vor­über­lief, blie­ben ste­hen und schau­ten ihr ver­wun­dert nach. Da war schon der Fluss, schwarz und laut rau­schend – da die Brücke, dort das Licht­pünkt­chen muss­te das Fens­ter des Brücken­kru­ges sein. Auf der Brücke fass­te sie der Wind so hef­tig, dass sie sich am Ge­län­der hal­ten muss­te, sie fürch­te­te sich, und doch, hier weh­te schon die freie, mäch­ti­ge Luft, nach der sie sich sehn­te, nur wünsch­te sie, Am­bro­si­us wäre schon da.

Der Brücken­krug war das ein­zi­ge Haus am jen­sei­ti­gen Flus­sufer, eine ärm­li­che, schmut­zi­ge Knei­pe. An den Pfos­ten vor der Türe hat­te man ein Pferd ge­bun­den, mit vor­ge­streck­tem Kop­fe, zu­rück­ge­leg­ten Ohren stand es da und ließ den Wind in sei­ner Mäh­ne wüh­len. Die Hau­stü­re stand of­fen, und man blick­te von drau­ßen in die Schank­stu­be hin­ein. Am Tisch saß ein Mann mit breit­krem­pi­gem Hut und trank, ne­ben ihm saß die Wir­tin, die El­len­bo­gen bei­de auf den Tisch ge­stützt, die Au­gen halb ge­schlos­sen. Vor ihr brann­te eine Un­schlitt­ker­ze und fla­cker­te, als woll­te sie ver­lö­schen. Auf der Tür­schwel­le hock­te eine schwar­ze Kat­ze, rieb ih­ren Rücken an den Tür­pfos­ten und blin­zel­te ver­stimmt in die Nacht hin­aus.

Rosa blieb ste­hen und schöpf­te tief Atem. Die­ses war ja doch der be­zeich­ne­te Ort? Wo war denn Am­bro­si­us? Sie ging um das gan­ze Ge­bäu­de her­um. Al­les still. »Es hat ihn et­was ab­ge­hal­ten«, sag­te sie sich und lehn­te sich mit dem Rücken ge­gen den dün­nen Stamm ei­nes Ahorn­bau­mes, der vor dem Hau­se stand. Die Grün­de, warum Am­bro­si­us nicht da war, stell­ten sich reich­lich ein. Un­be­quem war es ge­wiss, aber er muss­te ja gleich kom­men. Na­tür­lich! Es war ganz un­mög­lich, dass er nicht – –; nein! Das war nicht mög­lich. Ganz ru­hig woll­te sie war­ten.

So stand sie da und blick­te un­ver­wandt auf das trü­be Bild dort in der Wirts­stu­be; sie moch­te an nichts den­ken. Auf­merk­sam be­trach­te­te sie die rot und grau­en Wür­fel auf dem Ka­mi­sol der Wir­tin, lausch­te ge­spannt dem tro­ckenen Ton, den das Glas ver­ur­sach­te, wenn der Frem­de es auf den Tisch zu­rück­stell­te, in­ter­es­sier­te sich für die arg be­dräng­te Flam­me der Ker­ze. »Wird sie ver­lö­schen oder nicht? Jetzt ist sie nah dar­an. Nein, sie fla­ckert wie­der auf Brennt sie fort, so kommt Am­bro­si­us.« Nun be­kam die­ses trüb­gel­be Licht für Rosa eine selt­sa­me Wich­tig­keit. Oh, sie war tap­fer, die arme Flam­me, aber Am­bro­si­us kam den­noch nicht. »Er wird nicht kom­men«, die­sen Ge­dan­ken wag­te Rosa nicht zu den­ken; das durf­te sie nicht. Sie schloss die Au­gen und zähl­te. War sie bis Hun­dert ge­kom­men, dann muss­te er da sein, und je nä­her sie dem Hun­dert kam, um so lang­sa­mer zähl­te sie: »Fün­fund­sieb­zig – sechs­und­sieb­zig – sie­ben­und­sieb­zig.« War das nicht Wa­gen­rol­len? Nein! Sie woll­te die Au­gen nicht eher öff­nen, als bis die Hun­dert voll wa­ren. »Achtund­sieb­zig – neun­und­sieb­zig – acht­zig« – dann woll­te sie die Au­gen auf­schla­gen – er wür­de vor ihr ste­hen. »Ein­un­dacht­zig.« Wäh­rend sie fort­zähl­te, glaub­te sie im­mer wie­der Schrit­te, Stim­men zu ver­neh­men, mit je­der Zahl stieg die Hoff­nung, und den­noch wag­te sie es nicht, die ver­häng­nis­vol­len Hun­dert zu nen­nen. »Sie­ben­und­neun­zig – achtund­neun­zig – neun­und­neun­zig« – sie hielt inne. – »Hun­dert.« Sie glaub­te schon Am­bro­si­us’ Nähe zu füh­len, sah ihn vor sich ste­hen und lä­cheln. Sie schlug die Au­gen auf. Im­mer noch schlum­mer­te die Wir­tin über den Tisch ge­beugt ne­ben dem Frem­den, im­mer noch kämpf­te die Flam­me mit dem Zug­win­de, nur die Kat­ze war bis zu Rosa her­an­ge­schli­chen, mach­te einen krum­men Rücken und mi­au­te lei­se – sonst al­les hoff­nungs­los un­ver­än­dert und leer. Rosa preß­te die Hän­de an­ein­an­der und be­te­te: »Lass ihn – ach, lass ihn kom­men! Lie­ber Gott, mir das noch!« Dann ward sie von bit­te­rer Mut­lo­sig­keit er­grif­fen, die Arme san­ken schlaff her­ab, sie drück­te sich fes­ter ge­gen den Baum. Was auch ge­sche­hen moch­te, sie woll­te hier ste­hen.

»Fräu­lein Rosa!« er­scholl es ne­ben ihr. Sie schreck­te zu­sam­men, das war Idas Stim­me. Ein war­mes, un­ge­stü­mes Freu­den­ge­fühl er­füll­te Rosa wie­der. Es war tö­richt ge­we­sen, so zu ver­zwei­feln.

»Ida, bist du es? Das ist recht. Wa­rum bliebst du so lan­ge aus?«

»Der Herr von Tel­le­r­at schickt mich mit ei­nem Brief«, be­rich­te­te Ida.

»Ein Brief; wozu? Ich soll wohl war­ten«, sag­te Rosa has­tig und er­griff den Zet­tel, den Ida un­ter ih­rem Tu­che her­vor­hol­te. Sie eil­te an das Fens­ter der Knei­pe, um bei die­sem spär­li­chen Lich­te den Brief zu le­sen. Er ent­hielt nur we­ni­ge, mit Blei­stift ge­schrie­be­ne Zei­len:

»Lieb­chen! Der ver­damm­te Jude hat mei­nem On­kel al­les ver­ra­ten. Vor­läu­fig ist es aus mit un­se­ren Plä­nen. Mor­gen bringt mich der On­kel selbst zu mei­nen El­tern. Dein un­glück­li­cher A–.«

Rosa hat­te so­gleich al­les be­grif­fen. Das war es also, was sie die gan­ze Zeit über ge­fürch­tet hat­te; nun war es da – das Un­mög­li­che. – Drin­nen in der Wirts­stu­be rüs­te­te sich der frem­de Mann zum Auf­bruch und zog sei­nen Man­tel fes­ter um die Schul­tern, wäh­rend die Wir­tin ihm die Rech­nung mit Krei­de auf den Tisch schrieb. Rosa schau­te dem zu; sie hat­te ja nichts mehr zu tun. »Ob der Mann auf dem Pfer­de dort fort­rei­ten wird? Wahr­schein­lich! Dann kann die Wir­tin schla­fen ge­hen, das arme ge­quäl­te Licht aus­lö­schen.«

»Fräu­lein Rosa!« Ida zupf­te Rosa am Man­tel. »Sie müs­sen nach Hau­se ge­hen, sonst wird das Hau­stor ge­sperrt.«

Nach Hau­se! Die­ses Wort traf Rosa wie eine neue Of­fen­ba­rung des Elends. Frei­lich muss­te sie heim­ge­hen, sich in ihr Bett le­gen – wie sonst! Sie lehn­te sich an die Mau­er des Hau­ses und schluchz­te laut. Ida blick­te neu­gie­rig das wei­nen­de Mäd­chen an; dann griff sie ent­schlos­sen nach Ro­sas Arm und führ­te sie fort. Rosa folg­te ihr. Was lag dar­an, es war ja doch al­les ver­lo­ren. Vor der Herz­schen Woh­nung ver­ab­schie­de­te sich Ida. »Gute Nacht«, sag­te sie und strei­chel­te un­be­hol­fen Ro­sas Arm. »Wei­nen Sie nicht, Fräu­lein Rosa. Ein an­de­res Mal wird es bes­ser ge­hen. Hier ist Ihr Rei­se­sack, hier die Stie­ge. Gute Nacht.«

In der Kü­che war es still ge­wor­den, die Heim­chen schwie­gen alle; im Wohn­zim­mer lag noch der Licht­streif über der De­cke; Ro­sas Brief lag un­be­rührt auf dem Schreib­tisch – und der näch­ti­ge Frie­de, die lang­ge­wohn­te Luft der Räu­me be­druck­ten Rosa mit blei­er­ner Trau­rig­keit. In hilflo­sem Jam­mer sank sie auf ih­ren Rei­se­sack nie­der, stütz­te den Kopf auf einen Stuhl – – es war ja doch al­les vor­über!

Zweites Buch – Leid

Erstes Kapitel

Für die Fa­mi­lie La­nin war es ein schlim­mer, nie­der­drücken­der Au­gen­blick, als die schö­nen le­der­über­zo­ge­nen Kof­fer auf den Post­wa­gen ge­packt wur­den und Am­bro­si­us, in sei­nen neu­mo­di­schen Man­tel gehüllt, Ab­schied nahm. Der Tan­te küss­te er sehr oben­hin die Hand und er­wi­der­te ihr sanf­t­erns­tes »Gott be­hü­te dich« nur mit ei­nem grim­mi­gen »Hm!« Fräu­lein Sal­ly reich­te er kühl zwei Fin­ger und stieg in den Wa­gen, in dem Herr La­nin mit fei­er­li­cher Trau­er­mie­ne schon sei­ner harr­te.

Sal­ly brann­ten die Trä­nen in den Au­gen. Sie schau­te dem Wa­gen nach, bis er um die Ecke bog, und auch dann noch blieb sie am Fens­ter ste­hen und starr­te be­trübt hin­aus. Was half es ihr nun, dass sie kei­ne so ge­mei­ne Per­son war wie Rosa Herz? Was hat­te sie da­von? Der Cou­sin, auf den sie sich so ge­freut, mit dem sie die bes­ten Ab­sich­ten ge­habt hat­te, war ihr vor der Nase weg­ge­schnappt wor­den, und zwar auf die schänd­lichs­te Wei­se. Ihr blieb nur ge­sit­te­te Lan­ge­wei­le. Die an­dern – die Schlech­ten hat­ten ihre Lie­bes- und Ent­füh­rungs­ge­schich­ten. Sal­ly konn­te an Rosa nicht ohne ein be­klem­men­des Neid­ge­fühl den­ken. Ihr Va­ter hat­te ja viel­leicht recht, wenn er sag­te, man müs­se sich die Ach­tung vor sich selbst, das Ge­fühl des ei­ge­nen Wer­tes be­wah­ren. Sal­ly kann­te ih­ren ei­ge­nen Wert ganz ge­nau, dass die an­dern ihn aber nicht er­kann­ten, das war bit­ter. Sie woll­te auch so et­was wie die an­dern Mäd­chen ha­ben, um je­den Preis! Sie hät­te es auf die Stra­ße hin­aus­ru­fen mö­gen. Die Stirn ge­gen die Fens­ter­schei­ben ge­drückt, dach­te sie nach. Con­rad Lurch war ent­las­sen wor­den, der Va­ter such­te einen Neu­en. Aber – weiß es Gott, wann der kom­men wür­de, und Sal­ly hat­te Eile.

Ges­tern bei Klappe­kahl war ge­tanzt wor­den, weil sich, wie der Apo­the­ker sag­te, zu­fäl­lig doch ei­ni­ge jun­ge Leu­te zu­sam­men­ge­fun­den hat­ten, und mit Sal­ly hat­te Tod­dels auf­fal­lend häu­fig ge­tanzt. Ge­wiss, es war auf­fal­lend ge­we­sen, das gab selbst Er­nes­ti­ne zu, und die fand doch sonst nicht so leicht, dass je­mand an­de­rer als sie aus­ge­zeich­net wur­de. Und dann wäh­rend der Qua­dril­le hat­te Tod­dels die Au­gen so selt­sam in­nig ver­dreht. Er ver­dreh­te zwar im­mer die Au­gen, aber doch nicht so stark. Sich ver­nei­gend, hat­te Tod­dels ge­sagt: »Fräu­lein Sal­ly, Sie kom­men nie mehr zu uns ins Ge­schäft. Sie kau­fen nie mehr bei uns.« Worauf Sal­ly, den Kopf auf die Schul­ter nei­gend, wie sie das so hübsch ver­stand, geant­wor­tet hat­te: »Nein! Es macht sich nicht so. Ich weiß selbst nicht warum.« – Das war doch kei­ne ge­wöhn­li­che Qua­dril­le-Un­ter­hal­tung! Da­hin­ter steck­te mehr, steck­te et­was, das Sal­ly ge­ra­de jetzt her­bei­sehn­te.

»Ich gehe zu Tod­dels ins Ge­schäft«, be­schloss sie.

Sorg­sam setz­te sie sich vor dem Spie­gel den Hut auf, fuhr mit der Hand durch die dral­len Löck­chen, da­mit sie ihr frei­er, leb­haf­ter um die Ohren flat­ter­ten, und ihr Ge­sicht ganz nah an das Spie­gel­glas her­an­ste­ckend, mus­ter­te sie ihre Haut, ob nicht über Nacht ei­nes der bos­haft ro­ten Pünkt­chen ge­bo­ren wäre, die sie so sehr hass­te. Na­tür­lich, oben an der Na­sen­wur­zel sa­ßen ih­rer zwei. »Das ist ein Ekel!« mein­te Sal­ly, wand­te ih­rem Spie­gel­bil­de är­ger­lich den Rücken zu und ging hin­aus.

Es weh­te eine küh­le, schar­fe Luft. Der Wind jag­te gel­be Herbst­blät­ter durch die Gas­sen. Die stren­ge Klar­heit des Him­mels, das har­te Licht der Son­nen­strah­len, die heu­te nicht wär­men woll­ten, stimm­ten Sal­ly trau­rig. Die Welt er­schi­en ihr lee­rer und ihr ei­ge­nes Le­ben öder als sonst. Ja, ja! Sie muss­te et­was für sich tun, oh, der Win­ter kam mit sei­nen lan­gen, fins­tern Nach­mit­tagen voll un­er­träg­li­cher Lan­ge­wei­le. Der Se­kre­tär ging vor­über und grüß­te. Sal­ly dank­te, neig­te den Kopf, mach­te ei­ni­ge klei­ne Bach­stel­zen­schrit­te. Das tat ihr wohl. Der Gruß, die­ses mäd­chen­haf­te Ver­nei­gen, das ge­wand­te Trip­peln ga­ben ihr ein an­ge­neh­mes Ge­fühl ih­rer jung­fräu­li­chen Rein­heit. So schüch­tern-zier­lich konn­te Rosa Herz si­cher­lich nicht mehr grü­ßen! Sal­ly fing wie­der an, ih­rer Tu­gend froh zu wer­den.

Das Ge­schäfts­lo­kal des Herrn Pal­tow lag im tiefs­ten Frie­den da; ein lan­ger, schma­ler Raum vol­ler Son­nen­schein. Die großen Stücke blau­er, grü­ner, ro­ter Stof­fe füll­ten die Leis­ten bis zur De­cke hin­auf wie mit ei­ner Stu­fen­fol­ge sanft­ge­färb­ter Schat­ten, aus de­nen hier und da der hel­le Streif ei­nes Mus­sel­ins oder Lei­nen­stückes her­vor­leuch­te­te. Tod­dels schlief, den Kopf auf den La­den­tisch ge­stützt.

Ver­le­gen blieb Sal­ly an der Türe ste­hen. Auch hier, wo sie das schö­ne Er­eig­nis ih­res Le­bens such­te, fand sie die­sel­be öde, all­täg­li­che Stil­le, der sie im Lan­in­schen Wohn­zim­mer ent­flo­hen war. Ent­täuscht woll­te sie um­keh­ren, als Tod­dels er­wach­te, sich has­tig auf­rich­te­te und ihr, vom Schlaf ein we­nig ent­stellt, zu­lä­chel­te.

 

»Oh, Fräu­lein La­nin! Welch sel­te­ne Ehre! Wo­mit kann ich die­nen?«

Und die Hand zart an die Lip­pen le­gend, gähn­te er dis­kret.

»Ich stö­re«, sag­te Sal­ly und mach­te ei­ni­ge un­schlüs­si­ge Schrit­te zum La­den­tisch hin. »Ich woll­te nur um einen hal­b­en Me­ter grü­nes Band bit­ten.«

»Sie, Fräu­lein Sal­ly, kön­nen nie stö­ren«, er­wi­der­te der Kom­mis ga­lant und lang­te eine wei­ße Schach­tel un­ter dem La­den­tisch her­vor, öff­ne­te sie je­doch nicht, son­dern strei­chel­te sanft den De­ckel. »Sie sind recht grau­sam, Fräu­lein!« sag­te er ge­fühl­voll.

»Ich? Wie­so?« Sal­ly war wie­der im rech­ten Fahr­was­ser der kur­z­en, be­deu­tungs­vol­len Re­dens­ar­ten, bei de­nen man den Kopf zur Sei­te neigt und un­ter den halb nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen­li­dern her­vor­schielt. Das war ihr Fach.

»Ja – grau­sam«, fuhr Tod­dels fort und schob sich sei­ne Lo­cken zu­recht, die er im Schlaf zer­drückt hat­te. »Denn Sie ha­ben es mich gleich emp­fin­den las­sen, dass Sie mich schla­fend an­ge­trof­fen.« Sal­ly spiel­te nach­denk­lich mit ih­rem Por­te­mon­naie; Tod­dels aber seufz­te, sah zur De­cke em­por – er glaub­te, ent­schuld­bar zu sein. Fräu­lein La­nin ver­stand ihn viel­leicht. Sein Los war nicht glück­lich! O nein! Das ewi­ge Ei­ner­lei sei­ner Be­schäf­ti­gun­gen er­tö­te­te sei­nen Geist. Er lieb­te Li­te­ra­tur und Kunst; er schwärm­te da­für.

»Be­son­ders Li­te­ra­tur!« schal­te­te Sal­ly ein und ver­such­te den De­ckel der Schach­tel auf­zu­he­ben. Tod­dels’ Hand aber lag fest auf ihm, wäh­rend er selbst aus­ein­an­der­setz­te, wie eng und be­schränkt sein Prin­zi­pal sei – voll klein­li­cher Schi­ka­nen. Wenn Tod­dels um ei­ni­ge Mi­nu­ten zu spät ins Ge­schäft kam, mein Gott – er las die Näch­te hin­durch –, gleich gab es eine Nase. Der ge­fühl­vol­le Mär­ty­rer­ton, in dem er bis­her ge­spro­chen hat­te, ging all­mäh­lich in das lei­se, has­ti­ge Flüs­tern ei­nes Un­ter­ge­be­nen über, der schlecht von sei­nem Herrn spricht. Sal­ly nick­te mit­lei­dig. Ging es ihr denn bes­ser? Ward sie viel­leicht ver­stan­den? Ach, sie be­griff es mit je­dem Tage mehr, dass das Le­ben nur ein Pos­sen­spiel sei! Ja, Tod­dels gab ihr recht. Er war auch Pes­si­mist. Er glaub­te ans Nir­va­na. »Und ich glau­be an die Lie­be«, ver­setz­te Sal­ly und öff­ne­te ihr Por­te­mon­naie. An die Lie­be? Oh, an die glaub­te er auch; na­tür­lich! Er kniff die Au­gen­li­der zu­sam­men und lä­chel­te bei dem sü­ßen Wor­te. »Ja – ja«, sag­te er nach ei­ner klei­nen Pau­se und öff­ne­te müde die Schach­tel. »Grü­nes Band wün­schen Sie, Fräu­lein?«

»Ja, grün ist mei­ne Lieb­lings­far­be, die Far­be der Hoff­nung«, ver­setz­te Sal­ly und prüf­te mit dem Fin­ger das Band in der Schach­tel.

»Hoff­nung – na­tür­lich!« ent­geg­ne­te Tod­dels und be­fühl­te auch sei­ner­seits das Band. So stan­den sie über die Schach­tel ge­beugt und wuss­ten nichts rech­tes mehr zu sa­gen.

End­lich ließ Tod­dels das Band fah­ren, und er fass­te be­hut­sam mit dem drit­ten und Zei­ge­fin­ger Sal­lys küh­le, spit­ze Fin­ger, als näh­me er mit ei­ner Zan­ge ein Stück Zu­cker. Sal­ly über­ließ steif ihre Fin­ger die­ser Zan­ge. Jetzt kam auch für sie die Poe­sie des Le­bens, das fühl­te sie wohl. Die Stil­le des La­dens hat­te, ih­rem Ge­fühl nach, et­was köst­lich Lüs­ter­nes – der Ge­ruch von Wol­len­stof­fen und fri­scher Pap­pe stieg ihr an­ge­nehm zu Kopf. Sie hät­te ge­wünscht, lan­ge – lan­ge so ste­hen zu dür­fen – über den gel­ben La­den­tisch ge­beugt – im Strahl der un­ter­ge­hen­den Son­ne – ihre Fin­ger ge­hal­ten von Tod­dels’ Fin­gern. Es kam je­doch zu nichts. Tod­dels ließ Sal­lys Hand plötz­lich fal­len und frag­te: »Passt die Brei­te?«

»Ja, ich den­ke.«

»Wie­viel doch?«

»Ei­nen hal­b­en Me­ter.«

Die Ein­gang­stü­re knarr­te, und Fräu­lein Kat­ter trat in den La­den, ge­folgt von ih­rem Dachs. Tod­dels war ent­rüs­tet – er stütz­te die ge­ball­ten Fäus­te auf den Tisch, schlug mit den Fü­ßen aus und frag­te, so rau, als es sei­ne Stel­lung ihm er­laub­te: »Sie wün­schen?«

Fräu­lein Kat­ter ging auf die­se Fra­ge nicht so­gleich ein; freund­lich sag­te sie: »Gu­ten Abend, Herr Tod­dels. Se­hen Sie doch, wie der Max bei Ih­nen her­um­sucht. Er glaubt, hier muss ir­gend­wo Zu­cker ver­steckt sein. Hier ist kein Zu­cker, Ma­x­chen – mein klei­ner, klei­ner Hund. Was, Sie hier, Sal­ly­chen? Ein­kau­fen – wie?« Sal­ly grüß­te in ih­rer mäd­chen­haft zu­rück­hal­ten­den Wei­se; Fräu­lein Kat­ter aber trat nahe zu ihr, leg­te ihre Hän­de in den grau­en Halb­hand­schu­hen auf Sal­lys Arm und frag­te lei­se: »Also mit Rosa Herz – ist’s wahr?«

»Ja –« Sal­ly zog die Au­gen­brau­en em­por, zum Zei­chen, dass die gan­ze Ge­schich­te sie nichts an­ging. »We­nigs­tens wur­de es ges­tern auf der Soirée bei Klappe­kahl er­zählt.«

»Schreck­lich!« mein­te die alte Dame. »Also fort­lau­fen woll­te sie mit ihm. So weit wa­ren sie schon mit­ein­an­der? Ist so et­was er­hört!« Das wei­che, ge­bo­ge­ne Kinn wa­ckel­te zwi­schen den vio­let­ten Hut­bän­dern vor Er­re­gung. »Aber sa­gen Sie doch, Sal­ly­chen – Sie ha­ben ja die Ge­schich­te ent­deckt – hör ich?«

»Ja«, sag­te Sal­ly kühl. Sie mach­te sich nichts aus die­sem Ruhm.

»So – so. Nun was sa­hen Sie«, fuhr Fräu­lein Kat­ter fort. »Ge­küsst ha­ben sie sich – na­tür­lich, das hab ich schon ge­hört. Aber hat er sie auch so – an­ge­packt, wis­sen Sie?«

Sal­ly wuss­te es nicht. »Ich küm­me­re mich um die­se Din­ge nicht.«

»Selbst­ver­ständ­lich! Ein so gut er­zo­ge­nes jun­ges Mäd­chen! Aber ent­setz­lich ist doch die gan­ze Ge­schich­te. Was wird nun aus der Ar­men?«

»Wer kann das wis­sen!« Sal­ly zuck­te die Ach­seln – es war ihr gleich­gül­tig. Sie schiel­te nach ih­rer Nase, um zu se­hen, ob die­se nicht rot sei – das war ihr wich­ti­ger.

»Der Schank«, mein­te die alte Dame, »wird die Ge­schich­te zu Her­zen ge­hen. Ich bin auf dem Weg zu ihr.«

Da Sal­ly sich os­ten­ta­tiv dem grü­nen Band zu­wand­te, muss­te Fräu­lein Kat­ter sich zu Tod­dels be­mü­hen, um von ihm einen Me­ter Ma­d­a­po­lam zu be­geh­ren. Sie war sehr ge­nau. Tod­dels muss­te im­mer wie­der die Lei­ter hin­an­stei­gen und neue Stücke her­ab­ho­len. Er war bleich vor Zorn, schlug mit dem Me­ter­stock klat­schend auf die Stof­fe und be­merk­te streng: »Sehr fei­ne Ware. Ei­nen bes­se­ren Stoff wird die Dame schwer­lich fin­den.« Die Dame je­doch konn­te sich nicht ent­schei­den; sie woll­te wie­der­kom­men. »Sehr wohl«, rief Tod­dels er­leich­tert, bog ge­wandt und ge­len­kig um die Ecke des La­den­ti­sches und öff­ne­te Fräu­lein Kat­ter die Türe.

»Komm, Ma­x­chen, mein klei­nes Tier. Grü­ßen Sie Ihre lie­be Mut­ter – Sal­ly­chen. Gu­ten Abend, Herr Tod­dels. Das eine Stück hat mir nicht ganz miss­fal­len.« Da­mit war das alte Fräu­lein fort. Sal­ly schau­te sich nicht um. Sie hör­te, wie Tod­dels mit den Fü­ßen scharr­te, die Türe schloss – jetzt knarr­ten sei­ne Stie­fel ganz lei­se. Er stand ne­ben ihr, das fühl­te sie. Nun muss­te es doch zu et­was kom­men. Rich­tig! Et­was Hei­ßes, Feuch­tes be­rühr­te ih­ren Na­cken. Das war also ein Kuss – gut! Tod­dels leg­te sei­nen Arm um Sal­lys schlan­ke Tail­le und drück­te sie so fest, dass das Mie­der krach­te. »Ich habe schon oft an die Ehe ge­dacht. Sie nicht auch?« flüs­ter­te er mit vor Auf­re­gung rau­er Stim­me.

»An so et­was!« er­wi­der­te Sal­ly, das Ge­sicht tiefer in die Schach­tel ste­ckend.