Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Achtzehntes Kapitel



Der Tröd­ler Wulf hat­te sein mög­lichs­tes ge­tan, um den rück­sichts­lo­sen Son­nen­schein die­ses Sonn­tag­mor­gens aus sei­nem Wohn­zim­mer aus­zu­schlie­ßen. Da die ro­ten Vor­hän­ge nicht ge­nüg­ten, hat­te er das gel­be Tuch sei­ner Frau vor das Fens­ter ge­hängt, aber durch die klei­nen, von den Mot­ten hin­ein­ge­sto­che­nen Lö­cher sand­te die Son­ne doch scharf­gol­de­ne Strah­len in das Zim­mer, um die sich dann gleich gan­ze Staub­säu­len dreh­ten. Vor die­ser un­er­war­tet im Sep­tem­ber ein­ge­tre­te­nen Hit­ze ver­moch­te sich nie­mand zu schüt­zen, so war auch das nied­ri­ge Ge­mach des Ju­den ganz durch­glüht. Die Scher­ben, Lum­pen, Pa­pie­re rings­um schie­nen in der Wär­me zu neu­em Le­ben zu er­wa­chen, und dem Ein­tre­ten­den schlug es wie ein hei­ßer stau­bi­ger Atem ent­ge­gen, der sich auf die Lun­ge leg­te.



Am­bro­si­us, Lurch und der Tröd­ler sa­ßen um den klei­nen Tisch am Fens­ter und schwie­gen. Ein je­der blick­te starr und ge­reizt vor sich nie­der. Lurch war sehr bleich. Den Kopf neig­te er auf die rech­te Schul­ter und knöpf­te sei­ne Wes­te ner­vös auf und dann wie­der zu, wäh­rend Am­bro­si­us, in sei­nen Stuhl zu­rück­ge­lehnt, die Hän­de in den Ho­sen­ta­schen, ru­hig und gleich­gül­tig schei­nen woll­te, aber zwi­schen den Au­gen­brau­en, um die Mund­win­kel, an den Schul­tern selbst ver­riet ein leich­tes Zu­cken die Auf­re­gung, in der er sich be­fand. Wulf war ver­le­gen, rieb sich sanft mit den Hand­flä­chen die Knieschei­ben und schau­te lä­chelnd auf den wei­ßen Pa­pier­strei­fen, der vor ihm auf dem Tisch lag.



End­lich be­gann Lurch zu spre­chen. Ohne auf­zu­bli­cken, mit miss­mu­tig ver­zo­ge­nem Mun­de, re­de­te er wie ein zän­kisch schmol­len­des Kind vor sich hin: »Wa­rum soll ich das tun? Wozu brauch ich das? Hab ich denn et­was da­von, wenn Sie mit Fräu­lein Rosa fort­ge­hen? Wa­rum soll ich Geld ris­kie­ren, da­mit an­de­re Leut sich – sich –?« Er sprach den Schluss nicht aus, son­dern schluck­te ihn laut und müh­sam hin­un­ter.



»Gut, gut! Wir wis­sen’s schon!« mein­te Am­bro­si­us und er­hob sich, um im Zim­mer auf und ab zu ge­hen.



»Ich tu’s eben nicht«, wie­der­hol­te Lurch, in­dem er ver­stockt mit dem Kop­fe wa­ckel­te. Am­bro­si­us blieb vor ihm ste­hen, zog die Au­gen­brau­en em­por und sag­te mit ei­ner Stim­me, die rau ward, weil sie ru­hig sein woll­te: »Hab ich denn et­was ge­sagt? So schwei­gen Sie doch! Es ist ge­wiss nicht un­ter­hal­tend, im­mer das­sel­be an­hö­ren zu müs­sen. Ich habe Sie ge­be­ten, noch zwan­zig Mi­nu­ten hier zu war­ten, nur das. Vi­el­leicht ist es nicht ge­gen Ihre Grund­sät­ze, hier zu war­ten?«



»Nein«, er­wi­der­te Lurch, »das kann ich tun. Mir ist es gleich, kann hier noch ein we­nig sit­zen blei­ben, aber un­ter­schrei­ben – nein, das nicht!«



Die­se zwan­zig Mi­nu­ten be­ängs­tig­ten ihn den­noch. Was konn­ten sie zu be­deu­ten ha­ben? Da Am­bro­si­us ihm aber den Rücken zu­kehr­te, schwieg er und blick­te wie­der sor­gen­voll auf sei­ne alte, fal­ti­ge Wes­te nie­der.



Nun war das är­ger­li­che Klapp-klapp von Am­bro­si­us’ Schrit­ten, der in sei­ner Auf­re­gung be­son­ders hart mit dem Ab­satz auf­trat, der ein­zi­ge Laut im Ge­mach. Ein schwü­les Un­be­ha­gen las­te­te auf die­sem fa­den­schei­ni­gen Zim­mer mit sei­ner schmut­zig­gel­ben Däm­me­rung, auf den drei blei­chen Men­schen, die sich schie­fe, un­si­che­re Bli­cke zu­war­fen. Und der wei­ße Pa­pier­streif auf dem Tisch, dort ne­ben der halb­zer­bro­che­nen Tin­ten­fla­sche und dem Fe­der­hal­ter, den Idas spit­ze Zäh­ne rund­um be­nagt hat­ten – da lag er, ließ den Son­nen­strahl über sich hin­zit­tern und war­te­te ru­hig, mit­ten in all der Pein, die er sei­ner Um­ge­bung be­rei­te­te.



Am­bro­si­us schau­te zu­wei­len zur Türe hin. Er hat­te Ida zu Rosa hin­über­ge­schickt mit dem Be­fehl: Rosa sol­le so­fort kom­men. Den Bit­ten des Mäd­chens wür­de Lurch nicht wi­der­ste­hen, ge­wiss nicht! Die­ses Mit­tel an­zu­wen­den war fa­tal, aber da es kei­nen an­de­ren Aus­weg gab, so muss­te man ja. Nicht wahr? Was war üb­ri­gens da­bei? Nur zö­ger­te Rosa. Zehn Mi­nu­ten wa­ren be­reits ver­stri­chen. Die pein­li­che Lage dau­er­te oh­ne­hin schon zu lan­ge.



Mit dem dum­men Lurch und dem schmut­zi­gen Ju­den in die­sem übel­rie­chen­den Zim­mer ein­ge­sperrt zu sein, ward end­lich un­er­träg­lich. Am liebs­ten hät­te er jetzt al­les auf­ge­ge­ben. Eine un­bän­di­ge Wut koch­te in ihm auf, eine Wut, die al­les hät­te zer­schla­gen und zer­sto­ßen mö­gen. Da ward die Türe auf­ge­ris­sen. Eine Flut von Licht, ein war­mer Wind, der Lev­ko­jen­düf­te mit­brach­te, dran­gen ins Zim­mer, und auf der Schwel­le stand Rosa. Am­bro­si­us’ sor­gen­vol­le Mie­ne hei­ter­te sich auf. Rosa er­schi­en ihm wie eine Er­lö­sung, wie Luft und Licht, die in einen fins­tern, dump­fen Ort drin­gen. Noch nie glaub­te er sei­ne Ge­lieb­te so schön, so hei­ter und hell ge­se­hen zu ha­ben wie in die­sem Au­gen­blick, da sie auf der Schwel­le des Tröd­ler­la­dens stand, die Tür­klin­ke in der Hand, den Kopf vor­ge­beugt, die Au­gen weit auf und him­mel­hell, den Mund ein we­nig schief zu ei­nem neu­gie­ri­gen Lä­cheln ver­zo­gen. Dazu hat­te Rosa heu­te et­was dar­ein­ge­setzt, wie ein klei­nes Mäd­chen ge­klei­det zu sein. Die Zöp­fe hin­gen über den Rücken nie­der. Das frisch ge­wa­sche­ne blaue Som­mer­kleid ließ die Halbstie­fel und ein Stück des wei­ßen Strump­fes se­hen. Im schwar­zen Le­der­gurt stak ein Strauß wei­ßer Lev­ko­jen, und all die­se le­bens­vol­len, lus­ti­gen Far­ben brach­ten in die miss­lau­ni­ge Däm­me­rung des Ju­den­zim­mers et­was fro­hes, ju­gend­lich rei­nes.



»Da bist du ja!« sag­te Am­bro­si­us und ging Rosa ent­ge­gen.



»Was gibt es denn?« frag­te die­se.



»Wart, ich sag’s dir drau­ßen.« Mit die­sen Wor­ten leg­te Am­bro­si­us sehr freund­lich sei­nen Arm um Ro­sas Tail­le und führ­te sie in den Hof hin­aus.



Mit of­fe­nem Mun­de, ein ros­ti­ges Rot auf den spit­zen Ba­cken­kno­chen, starr­te Lurch auf die Türe. Jetzt, da sie sich hin­ter Rosa schloss, sprang er auf, schau­te wirr um sich. »Wo ist mein Hut?« frag­te er.



»Die zwan­zig Mi­nu­ten sind noch nicht um«, ent­geg­ne­te Wulf.



»Gleich­viel!« Oh, jetzt be­griff er al­les, und er fürch­te­te sich. »Mei­nen Hut, Wulf!«



Der Jude lä­chel­te sein ge­dul­di­ges Lä­cheln. »Der Hut liegt dort auf dem Stuhl, Herr Lurch, aber von den zwan­zig Mi­nu­ten feh­len noch fünf. Ver­spro­chen ist ver­spro­chen.«



»Ach was!« rief Lurch und griff nach sei­nem Hut; als er ihn aber in der Hand hielt, dreh­te er ihn nach­denk­lich zwi­schen den Fin­gern hin und her. »Fünf Mi­nu­ten, sag­ten Sie?« frag­te er lei­se. Der Tröd­ler nick­te. »Die kann ich wohl noch ab­war­ten«, be­schloss Lurch end­lich. »Ich muss viel­leicht.« Lang­sam setz­te er sich wie­der. So ohne wei­te­res fort­ge­hen, das konn­te er nicht. Ro­sas An­blick hat­te sein ar­mes, ver­dros­se­nes Ge­müt er­schüt­tert, hat­te es mit war­mer, licht­vol­ler Auf­re­gung er­füllt, die ihm noch in al­len Glie­dern nach­zit­ter­te. Und dann – sie wird ihn ja bit­ten, sie wird es ver­su­chen, ihn zu über­re­den – sie – ihn! Lurchs Lip­pen brann­ten, und der Hals wur­de ihm von in­ne­rer Rüh­rung zu­ge­schnürt. Sie – ihn bit­ten!



»Ein schö­nes Fräu­lein!« be­merk­te Wulf »Ein wun­der­schö­nes Fräu­lein.«



»Ja!« stöhn­te Lurch auf, füg­te je­doch so­gleich ein ver­drieß­li­ches »Ziem­lich« hin­zu. Die fünf Mi­nu­ten wa­ren längst ver­stri­chen, und Lurch saß noch im­mer da und war­te­te.



End­lich kehr­ten Am­bro­si­us und Rosa zu­rück. Rosa war ernst und zog die Stir­ne kraus, als wäre ihr et­was Wi­d­ri­ges be­geg­net. In der Tat, sie ver­stand die gan­ze Le­bens­la­ge nicht, und sie war ihr fa­tal. Am­bro­si­us sag­te zwar, es sei nichts Schlech­tes, was sie tun soll­te. Lurch kön­ne da­bei nicht zu Scha­den kom­men, und es sei nur Ei­gen­sinn von ihm, dass er die­se klei­ne For­ma­li­tät nicht er­fül­len moch­te, ob­gleich al­les von die­ser For­ma­li­tät ab­hing. Gut! Rosa be­griff nur nicht, warum Lurch ihr ge­hor­chen soll­te. Wenn er es nicht tun woll­te, was konn­te sie da­für? – Er lieb­te sie. – Was? – Lurch lieb­te sie? Dar­über konn­te sie nur la­chen. Lurch und Lie­be!



Doch Am­bro­si­us hat­te sich ge­är­gert, brach­te Rosa es nicht zu­we­ge, mein­te er, dass Lurch den Wech­sel un­ter­schrieb, dann war es mit der gan­zen Rei­se nichts. Über all die­sen Wi­der­wär­tig­kei­ten hat­te er oh­ne­hin die Lust dazu ver­lo­ren. Da ge­horch­te Rosa – ohne Wi­der­re­de – so­fort –



Lurch blieb auf sei­nem Stuhl sit­zen und ver­gaß es in sei­ner Auf­re­gung, Rosa zu grü­ßen. Erst als sie ihm »Gu­ten Mor­gen, Herr Lurch« zu­rief, er­hob er sich ein we­nig, setz­te sich aber gleich wie­der und klam­mer­te sich an die Arm­leh­nen des Ses­sels. Eine un­ge­müt­li­che Pau­se ent­stand. Da mach­te sich Rosa mit ei­nem plötz­li­chen Ent­schluss von Am­bro­si­us’ Arm frei; da es sein muss­te, woll­te sie ih­ren Auf­trag ernst­neh­men. Sie trat an Lurch her­an und reich­te ihm die Hand. »Wie geht es Ih­nen, Herr Lurch?«



»Dan­ke, Fräu­lein Rosa, mir geht es gut.«



»So.« Rosa schlug die Au­gen nie­der, stütz­te ih­ren Mit­tel­fin­ger so fest auf die Tisch­plat­te, dass er sich bog, und sag­te schnell: »Sie wis­sen, worum ich Sie bit­ten woll­te?«



»Nein«, er­wi­der­te Lurch er­schro­cken. »Oder doch – ja. Aber…«



»Bit­te, tun Sie es.«



Lurch schüt­tel­te mit dem Kopf.



Doch bat Rosa: »Mir zu­lie­be. Wol­len Sie?«



»Ich kann nicht, Fräu­lein Rosa.« Lurch hob ein von Trä­nen und Jam­mer ver­zerr­tes Ge­sicht zu Rosa auf. »Ich möch­te ja gern, aber ich kann nicht.«



»Wenn Sie nur woll­ten.« Ein Son­nen­strahl traf Ro­sas Au­gen, dass sie klar und blau wie Glas schie­nen; da­bei zog sie die Au­gen­brau­en em­por, was ihr einen er­staun­ten, lus­ti­gen Aus­druck ver­lieh. Was war nur dem Men­schen? Wa­rum zit­ter­te er? Wa­rum wein­te er? Was hat­te sie ihm ge­tan? Rosa leg­te ihre Hand leicht auf Lurchs Schul­ter und wie­der­hol­te: »Bit­te, tun Sie’s.« Lurch mach­te einen run­den Rücken und preß­te sei­ne blei­chen Lip­pen auf­ein­an­der. »Was?« sag­te Rosa, hin­ter ihr knarr­te eine Türe. Am­bro­si­us hat­te das Zim­mer ver­las­sen. Er konn­te es nicht län­ger mit an­se­hen, er hät­te Lurch schla­gen müs­sen. Rosa aber ließ nicht nach. Die Lei­den des ar­men Lurch er­reg­ten ihr Mit­leid, und den­noch war et­was an ih­nen, was Rosa reiz­te, sie im­mer wie­der zu er­neu­en. »Wenn Sie mich ein we­nig lieb­ha­ben«, sag­te sie und drück­te mit der Hand auf Lurchs Schul­ter, um zu se­hen, wie dann ein ner­vö­ses Be­ben durch den gan­zen dür­ren Kör­per lief.

 



»Ich kann es nicht!« brach Lurch end­lich los. »Ich habe es Herrn von Tel­le­r­at schon ge­sagt. Ich habe nichts da­von. Was hab ich da­von? Sa­gen Sie selbst, Fräu­lein Rosa. Nichts hab ich da­von.« In der Not sei­nes Her­zens knöpf­te er sich wie­der die Wes­te auf.



»Was Sie da­von ha­ben?« wie­der­hol­te Rosa zö­gernd und ein we­nig be­fan­gen. »Sie ha­ben al­ler­dings nichts da­von. Es wäre eben nur eine Freund­lich­keit von Ih­nen. Ich habe nichts, ich kann Ih­nen nichts ge­ben.« Sie hob bei­de Hän­de em­por und zeig­te ihre Hand­flä­chen. Lurch schwieg. Trau­rig starr­te er auf die ro­si­gen Hand­flä­chen. Er ver­stand es nur zu wohl; für ihn wa­ren die­se Hän­de im­mer leer. Plötz­lich ver­lau­te­te des Tröd­lers sanf­te Stim­me: »Für einen Kuss tut’s Herr Lurch schon.« Rosa wand­te sich schnell um und ward feu­er­rot. »Pfui!« sag­te sie. Auch Lurch war auf­ge­fah­ren. »Nein«, stot­ter­te er, »das tut Fräu­lein Rosa nie.«



»Ge­wiss nie«, be­stä­tig­te Rosa, er­griff einen ih­rer gel­ben Zöp­fe und drück­te ihn an ih­ren Mund, als woll­te sie die­sen schüt­zen. Sie fürch­te­te sich. Lurch blick­te sie mit feucht­gel­ben Au­gen so un­mensch­lich starr an, und auf sei­nem Ge­sicht brann­ten rote Fle­cken. Den küs­sen! Sie woll­te fort­lau­fen, und doch zö­ger­te sie wie­der. Was wird Am­bro­si­us sa­gen, wenn sie nichts aus­rich­tet? Die gan­ze Rei­se, die gan­ze schö­ne Zu­kunft ging also in die Brü­che? – »Schnell, schrei­ben Sie«, rief sie plötz­lich, noch im­mer dun­kel­rot im Ge­sicht, die Au­gen vol­ler Trä­nen. Lurch ver­stand nicht so­gleich. »Wie, Fräu­lein Ro­sa…?« – »Fräu­lein Rosa will«, er­mun­ter­te ihn der Tröd­ler, »das Ge­schäft ist ab­ge­macht.« Er konn­te es im­mer noch nicht glau­ben, Rosa aber stampf­te mit dem Fuß auf. »Ja doch – schnell« – sie wand­te sich ab – oh, sie schäm­te sich.



End­lich hat­te Lurch be­grif­fen. Mit zit­tern­den Fin­gern er­griff er die Fe­der und mal­te vor­sich­tig sei­nen Na­men auf den Pa­pier­streif, spritz­te die Fe­der aus, leg­te sie auf den Tisch, wisch­te sich die Lip­pen und war be­reit. »Ich habe ge­schrie­ben«, flüs­ter­te er. Rosa fuhr zu­sam­men, rich­te­te sich aber ge­ra­de auf, stell­te sich vor Lurch hin, bog den Kopf zu­rück und schloss die Au­gen; da­bei ward sie bleich bis in die Lip­pen und sah aus, als schlie­fe sie und habe einen sehr bö­sen Traum. Ängst­lich lä­chelnd stell­te sich Lurch auf die Fuß­spit­zen – reck­te den Hals – blick­te mit zu­cken­den Wim­pern auf das wei­ße Mäd­chen­ge­sicht nie­der – spitz­te den Mund und drück­te ihn be­hut­sam auf Ro­sas fest zu­sam­men­ge­knif­fe­ne Lip­pen. Kaum fühl­te Rosa die­sen hei­ßen Mund auf dem ih­ren, als sie auf­schrie und zu­rück­trat. –



Lurch stand trau­rig und be­schämt da; er wuss­te nicht, wie er sich jetzt be­neh­men soll­te – dar­um ver­beug­te er sich höf­lich; Rosa aber riss das Wech­selblan­quet vom Tisch, um sich drau­ßen – im Hof – wei­nend und la­chend Am­bro­si­us in die Arme zu wer­fen.



Lurch stand noch eine Wei­le da und strich sich lieb­ko­send über die Lip­pen, dann griff er nach sei­nem Hut und schlich durch den La­den auf die Stra­ße hin­aus.



»Was ist denn pas­siert?« frag­te Am­bro­si­us be­sorgt, aber Rosa woll­te es ihm nicht sa­gen. Sie er­klär­te nur, die De­mü­ti­gung sei zu groß ge­we­sen.



»Lass es gut sein«, mein­te er. »Du hast es mir zu­lieb ge­tan. Jetzt kön­nen wir rei­sen. Was geht uns der dum­me Lurch an? So wei­ne doch nicht; wir brau­chen ru­hi­ge Über­le­gung. Der Wür­fel ist ge­fal­len, sagt schon ein al­ter Rö­mer.«



»Ja, ich weiß es – Cäsar«, schluchz­te Rosa, und doch lach­te sie wie­der.



»Siehst du es wohl«, ver­setz­te Am­bro­si­us hei­ter. Er be­griff Ro­sas Auf­re­gung nicht; nun er den Wech­sel in der Ta­sche hat­te, war sei­ne Lau­ne die al­ler­bes­te. »Komm Lieb­chen, be­ru­hi­ge dich. Wir dür­fen kei­ne Kin­de­rei­en trei­ben«, und sei­ne fri­sche, un­ter­neh­men­de Art tat Rosa wohl. Das war wie­der der lus­ti­ge Stimm­ton, die sorg­lo­sen Au­gen, das hüb­sche süß­li­che Lä­cheln, die so ver­wir­rend in ihr kind­lich ru­hi­ges Le­ben ein­ge­drun­gen wa­ren, um alle gu­ten Leh­ren, Fräu­lein Schanks gan­zen Er­zie­hungs­plan über den Hau­fen zu wer­fen und Ro­sas Köpf­chen mit ei­nem selt­sa­men Rausch zu er­fül­len, in dem al­les er­reich­bar und er­laubt schi­en. Seit sie Am­bro­si­us lieb­te, hat­te je­nes rück­sichts­lo­se, al­les wa­gen­de Ge­fühl sich ih­rer be­mäch­tigt, von dem einst die sechs­jäh­ri­ge Rosa zu sa­gen pfleg­te: »Ag­nes, die Un­ge­zo­gen­heit steigt mir zu Kop­fe.« Auch jetzt wie­der fühl­te sie in sich je­nes un­bän­di­ge Ver­lan­gen nach Ver­bo­te­nem, und das Le­ben war nur noch ein schö­nes, heim­li­ches Ver­gnü­gen, das man has­tig und mit schlech­tem Ge­wis­sen ge­nießt – wie die Lie­bes­stun­de im Tröd­ler­hau­se. Ja – die­se Lie­bes­stun­de! Ges­tern hat­te sie noch Rosa mit rat­lo­ser Trau­rig­keit be­drückt, heu­te er­schi­en sie ihr wie et­was Sü­ßes – et­was, über das man er­rö­tet, von dem man schweigt, das ei­nem aber den­noch mit selt­sa­mem Rück­ver­lan­gen das Blut er­hitzt.



Am­bro­si­us gab Rosa die nö­ti­gen Ver­hal­tungs­maß­re­geln für den Abend. Um neun Uhr soll­te Ida an der Hin­ter­trep­pe der Herz­schen Woh­nung Ro­sas klei­nen Hand­kof­fer in Empfang neh­men. Rosa selbst soll­te – auf ei­nem an­de­ren Wege als Ida – sich durch den Stadt­gar­ten zur Brücke be­ge­ben, und in der Nähe des Brücken­kru­ges woll­te Am­bro­si­us mit dem Wa­gen sie er­war­ten. Der Plan war ein­fach ge­nug. »Und dann, Amby – kön­nen wir end­lich fort«, rief Rosa in der lei­den­schaft­lich of­fe­nen Freu­de ei­nes Kin­des, dem man ein längst ver­spro­che­nes Ver­gnü­gen end­lich ge­währt. So schie­den sie, um sich erst am Abend beim Brücken­kru­ge wie­der­zu­se­hen.



Da der Vor­mit­tag noch lang war, be­schloss Rosa, einen Gang durch die Stadt zu ma­chen – zum letz­ten Mal – das ge­hört sich so. Die Ta­ges­zeit war güns­tig, denn eben erst hat­ten die Kir­chen­glo­cken den Got­tes­dienst ein­ge­läu­tet. Nicht als ob Rosa sich vor ei­ner Be­geg­nung mit Sal­ly oder Er­nes­ti­ne Klappe­kahl ge­fürch­tet hät­te! Nein! Will man aber Ab­schied von sei­ner Hei­mat neh­men, so be­darf man der Ein­sam­keit, nicht wahr?



Die Stra­ßen und der Markt­platz wa­ren leer, wie stets zur Kir­chen­zeit, nur in der Fer­ne sah Rosa das alte Fräu­lein Kat­ter ein­her­trip­peln; ihr At­las­man­tel glänz­te in der Son­ne, der Dachs folg­te ihr – breit­bei­nig und ver­stimmt – ab und zu die Nase in die Gos­se ste­ckend. Sie hat­ten sich heu­te bei­de mit dem Kirch­gang ver­spä­tet.



Die große, gelb an­ge­stri­che­ne Türe des Lan­in­schen La­dens war ge­sperrt, selbst der Mohr auf dem Schil­de da­vor schi­en zu schlum­mern. Oh, welch eine ver­ächt­lich blö­de Träg­heit brü­te­te über die­sem Hau­se. Rosa konn­te es sich deut­lich vor­stel­len, wie es dort heu­te zu­ge­hen wür­de: Die Zim­mer vol­ler Sup­pen­ge­ruch – Herr La­nin voll fa­der Ge­schich­ten, Frau La­nin mit ih­rem lan­gen, wei­chen Mun­de be­stän­dig gäh­nend – und Sal­ly – – mein Gott, die Arme! Und wäh­rend Rosa vor die­sem Hau­se stand, stieg wie­der die Freu­de – groß und un­ru­hig in ihr auf. Sie brauch­te die­ses Le­ben nicht mehr zu tei­len.



Sie ging wei­ter – über­all die­sel­be Stil­le. Die Häu­ser wa­ren wohl­ver­schlos­sen und wie aus­ge­stor­ben, nur in den Kü­chen hör­te man es klap­pern, oder hier und da stand eine Dienst­magd, die das Haus be­wa­chen soll­te, un­ter dem Hof­tor, die Haa­re feucht an die Schlä­fen ge­kämmt, das Ka­mi­sol frisch ge­wa­schen, und sprach mit ei­nem Bur­schen. Die klei­nen Er­eig­nis­se, die sich in der Stil­le der Kir­chen­zeit ab­spie­len, das Ki­chern un­ter den To­ren, das heim­li­che, ver­gnüg­te Trei­ben un­be­auf­sich­tig­ter Dienst­bo­ten und Kin­der hat­ten Rosa frü­her, wenn sie sich auf dem Gan­ge in die Kir­che ver­spä­te­te, ein neu­gie­ri­ges In­ter­es­se ein­ge­flö­ßt. Heu­te kam plötz­lich ein wun­der­li­ches Ver­ste­hen über sie, das sie quäl­te und ihr miss­fiel. Die­se di­cken, hoch­bu­si­gen Mäg­de, die­se plum­pen, un­rein­li­chen Bur­schen, sie hat­ten zwi­schen Kes­sel und Pfan­ne, zwi­schen Kohl­strün­ken und Salat­blät­tern ihre Lie­bes­ge­schich­ten. Rosa be­griff nun, was sie woll­ten, was sie trie­ben, und es schi­en ihr, als wür­de ihr ei­ge­nes Schick­sal da­durch ent­weiht. Die­ses auf­dring­li­che Klar­se­hen mach­te sie trau­rig; sie seufz­te; sie hat­te sich man­ches doch schö­ner ge­dacht!



In den ent­leg­ne­ren Stadt­tei­len – am Fluss – sah es we­ni­ger fei­er­täg­lich aus. Die ar­men Leu­te hat­ten noch nicht Zeit ge­fun­den, ihre gu­ten Klei­der an­zu­le­gen. Frau­en mit un­ge­kämm­tem, wirr auf das miss­mu­ti­ge Ge­sicht her­ab­hän­gen­dem Haar stan­den in den en­gen Ho­fräu­men und wu­schen Er­däp­fel oder Salat. Nack­te Kin­der spran­gen zwi­schen den Schwei­nen und Hüh­nern um­her. Hin­ter den mor­schen Bret­ter­zäu­nen lang­ten küm­mer­li­che Ap­fel­bäu­me mit ih­rem ecki­gen Ge­zwei­ge auf die Stra­ße hin­aus. Wei­ter hin­ab wur­den die Häu­ser sel­te­ner. Kar­tof­fel­fel­der und Wei­de­land zo­gen sich am Flus­sufer hin; ma­ge­re Pfer­de stan­den dort; die Hufe tief im ro­ten Hei­de­kraut, hiel­ten sie im Gra­sen inne und nick­ten sin­nend mit den Köp­fen. Am Ran­de des steil ab­fal­len­den Ufers woll­te Rosa aus­ru­hen; sie leg­te sich nie­der, den Leib im Gra­se, mit den Fü­ßen in der Luft um­her­schla­gend, den Kopf in die Hän­de ge­stützt, und biss an ei­nem Halm. Un­ten lag der Son­nen­schein, ein blan­kes Zit­tern auf dem träg rin­nen­den Was­ser des Flus­ses.



Rosa blick­te dem Rin­nen des Was­sers nach. Kla­re, fest­um­ris­se­ne Ge­dan­ken woll­ten in ih­rem Kop­fe nicht mehr stand­hal­ten, nur ein woh­li­ges Auf- und Ab­flu­ten von Bil­dern und Emp­fin­dun­gen reg­te sich in ihr. Sie ka­men und bra­chen wie­der ab, wie das Gei­gen der Feld­gril­len rings­um im Gra­se – und es lag über ih­nen ich weiß nicht welch un­kla­re Trau­rig­keit, die einen selt­sa­men Frie­den in sich barg. Die Er­eig­nis­se der letz­ten Tage, die­ses be­stän­di­ge sich selbst Mut zu­spre­chen, das Rin­gen mit un­an­ge­neh­men Ge­dan­ken hat­ten Rosa müde ge­macht, das fühl­te sie plötz­lich. Hier, am warm be­schie­ne­nen Ab­hange, kam eine läh­men­de Er­schlaf­fung über sie, die Kraft fehl­te ihr, ab­zu­weh­ren, fest­zu­hal­ten, sie muss­te die Hän­de in den Schoß le­gen und ach­sel­zu­ckend sa­gen: »Es gehe, wie es geht.«



Wie das nur al­les so kom­men konn­te. Un­merk­lich war es her­an­ge­kro­chen – nun war es da. Na­tür­lich muss­te es so sein! Aber noch stand es fremd vor ihr wie et­was, an dem sie nicht teil­hat­te – sie, die fried­li­che Schank­sche Schü­le­rin, die je­den Mor­gen ihre große Map­pe durch die Schul­stra­ße ge­schleppt hat­te. Rosa Herz, die nie die fran­zö­si­schen Fa­beln her­sa­gen konn­te und vor dem be­vor­ste­hen­den Gou­ver­nan­tenex­amen zit­ter­te, Rosa, die stun­den­lang zum Fens­ter hin­aus­schau­te und sich über das Ge­ki­cher auf dem Kir­chen­platz ihre kin­di­schen Ge­dan­ken mach­te, die sich um zehn Uhr nie­der­leg­te und vom Bett aus das schrä­ge, mond­be­glänz­te Dach des Pfarr­hau­ses an­starr­te, bis ihr die Au­gen zu­fie­len, die­se ganz ge­wöhn­li­che Rosa lieb­te nun und ward ge­liebt; die­se Rosa war jetzt die Per­son, vor der die Leu­te, die sie so gut kann­te wie ihr Werk­tags­kleid, ein Kreuz schlu­gen. Fräu­lein Kat­ter, der Dok­tor, Er­nes­ti­ne, sie hiel­ten sie für ein schlech­tes Mäd­chen, mit dem man nicht spre­chen darf. Sie war das ver­führ­te Mäd­chen; ver­führt – die­ses Wort, das sie frü­her nicht aus­spre­chen durf­te, weil es un­pas­send war, nun ge­hör­te es zu ihr, sie war jetzt eine un­pas­sen­de Per­son. Was wohl Ma­ri­an­ne dar­über den­ken moch­te? Und ob sie in der Schu­le nur ganz heim­lich von Rosa spre­chen durf­ten, wie man sich sonst die dum­men Ge­schich­ten er­zähl­te, über die man er­rö­te­te und ki­cher­te? Rosa drück­te die Au­gen­li­der zu­sam­men und wieg­te ih­ren Kopf schläf­rig hin und her. Sie gräm­te sich über die­se Din­ge nicht, aber auch die Freu­de, in die sie sich hin­ein­ge­re­det hat­te, war fort. Wer so da­lie­gen könn­te und ab­war­ten. Es fließt ja doch vor­über, wie dort un­ten, im­mer zu, man braucht nur stil­le­zu­hal­ten. Dem mü­den Mäd­chen ge­fiel die­ser Ge­dan­ke. Die läs­ti­ge Ar­beit, selbst am Le­ben mit­zu­wir­ken, schi­en un­nö­tig, es fließt ja oh­ne­hin vor­über! Im traum­haf­ten Durchein­an­der­wo­gen der Vor­stel­lun­gen folg­te Rosa mit den Bli­cken dem Strom, als ge­hö­re er zu ihr, als hin­ge für sie et­was von dem Rin­nen die­ses Was­sers ab – fort – die Ufer ent­lang, an dem großen Stein hin, wo klei­ne Wel­len flim­mernd em­po­rat­me­ten, an dem Kahn vor­über, in dem der stil­le Ang­ler saß – wei­ter bis zu dem Er­len­ge­strüpp, wo es sich schwarz un­ter die Zwei­ge ver­kroch.

 



»Das ist der Tod«, sag­te Rosa laut vor sich hin. Der Klang der ei­ge­nen Stim­me mach­te sie auf­schre­cken, gleich wie­der je­doch ver­sank sie in Sin­nen: »Tod!« – Die­ses Wort at­me­te küh­le Ruhe aus. Man streckt Hän­de und Füße von sich und ist tot. Sie bog den Kopf auf das Gras zu­rück, reck­te die Glie­der. »Ah, so muss es sein, ganz so!« Re­gungs­los lag sie da, tief und re­gel­mä­ßig at­mend.



Der Ton der Kir­chen­glo­cken ließ sie auf­fah­ren. Sie er­hob sich ver­wirrt; der Halb­schlum­mer, in dem sie da­ge­le­gen, hat­te sie weit aus der Ge­gen­wart fort­ge­führt. Ohne deut­li­ches Traum­bild hat­te sie doch das Ge­fühl ge­habt, als lege sie mü­he­los ein be­trächt­li­ches Stück Le­ben zu­rück, sie ward eben mit fort­ge­tra­gen. Jetzt, aus die­sem Traum­we­ben her­aus­ge­ris­sen, schau­te sie er­staunt um sich. Der­sel­be ein­tö­ni­ge Sings­ang der Gril­len, das­sel­be sach­te, zit­tern­de Licht auf dem Ab­hange, der­sel­be ver­häng­nis­vol­le Tag, den sie im Traum längst über­stan­den hat­te, war­te­te auf sie. Mut­los ließ Rosa die Hän­de in das Gras sin­ken. Sie fühl­te sich zu trä­ge, ihre Ge­schich­te von neu­em auf­zu­neh­men.



Frü­her, wenn sie ihre Schul­auf­ga­ben des Abends nicht be­en­den konn­te, ließ sie sich von Ag­nes am nächs­ten Mor­gen ganz früh we­cken, um das Ver­säum­te nach­zu­ho­len. Wenn aber Ag­nes in der dunklen Win­ter­frü­he an Ro­sas Bett trat und sie auf­rüt­tel­te, dann er­schi­en ihr der Schlaf das höchs­te Gut. »Ag­nes«, fleh­te sie, »lass mich nur noch fünf Mi­nu­ten schla­fen.« Oh, die­se kost­ba­re Frist! Aber das Ge­wis­sen reg­te sich doch. Es träum­te Rosa, sie ver­ließ das Bett, klei­de­te sich an, be­gann den fran­zö­si­schen Auf­satz zu schrei­ben. Wie leicht das ging! Jetzt war er fer­tig! »Rosa steh auf! Du bringst sonst den Auf­satz bis acht Uhr nicht fer­tig«, tön­te Ag­nes’ Stim­me in den schö­nen Traum hin­ein, denn nur Traum war es ge­we­sen; das müh­se­li­ge Auf­ste­hen, das Frie­ren vor der Wasch­schüs­sel stan­den noch be­vor; der gan­ze Auf­satz war noch zu schrei­ben!



An die­se trü­ben Mor­gen­stun­den muss­te Rosa den­ken, und sie lä­chel­te; die Schu­le und ihre Qual wa­ren je­doch für im­mer vor­über. Sie sprang auf, der Ab­schied von der Hei­mat hat­te sie weich ge­stimmt, das war hübsch und na­tür­lich, nun war es aber auch ge­nug. Die Freu­de an ih­rer Lie­be, ih­rem bun­ten Schick­sal woll­te sie sich nicht ver­küm­mern las­sen. So wie es war, war es gut; so hat­te sie es sich ge­wünscht. Sie war fest ent­schlos­sen, glück­lich zu sein. Je­der Zwei­fel, der in ihr auf­stieg, ward ge­walt­sam nie­der­ge­drückt. Sie woll­te nicht ent­täuscht und elend sein! – – –



Auf dem Markt­plat­ze vor dem Lan­in­schen Hau­se stan­den Fräu­lein Klappe­kahl und Fräu­lein La­nin in ih­ren schö­nen Sonn­tags­klei­dern und mit ih­ren neu­en Herbst­hü­ten. Sal­ly fal­te­te die Hän­de über dem schwar­zen Ge­sang­buch und schüt­tel­te im Ei­fer des Ge­sprächs die Lo­cken. »Die heu­ti­ge Pre­digt hat mir so recht das Herz auf­ge­wühlt«, sag­te sie, ge­wiss; wie oft hat­te sie das nicht schon zu Rosa ge­sagt – dort an der­sel­ben Ecke!



Als Rosa an ih­nen steif und hoch­mü­tig vor­über­ging, schlug Sal­ly die Au­gen nie­der, drück­te das Ge­sang­buch fest an den Bu­sen und sag­te sehr laut: »Ar­mes, ver­lor­nes Schaf!« Er­nes­ti­ne Klappe­kahl aber wand­te ih­ren Blick von Rosa nicht ab. Rosa freu­te sich dar­über. Hat­te sie es doch selbst er­fah­ren, mit welch heißem In­ter­es­se man aus dem Ge­fäng­nis bür­ger­li­cher Zucht her­aus­schaut auf al­les, an dem et­was von den ver­bo­te­nen, furcht­ba­ren Din­gen hän­gen mag, an die ein or­dent­li­ches Mäd­chen nicht den­ken darf. Ja – die lan­ge dün­ne Er­nes­ti­ne be­nei­de­te das ver­lo­re­ne Schaf.



Zu Hau­se fand Rosa ih­ren Va­ter bleich und kum­mer­voll im Lehn­stuhl sit­zen. Das ver­droß sie; fass­te er denn die Sa­che noch im­mer nicht rich­tig auf? Miss­mu­tig warf sie sich in einen Ses­sel und schlug mit den Hand­flä­chen auf die Arm­leh­nen. »Ich habe also heu­te mit der Schank ge­spro­chen«, be­merk­te Herr Herz schüch­tern.



»So!« er­wi­der­te Rosa gleich­gül­tig, dann aber er­hob sie sich plötz­lich; sie durf­te die­se jam­mer­vol­le Stim­mung nicht an­dau­ern las­sen. Sie knie­te bei ih­rem Va­ter nie­der, stütz­te ih­ren Kopf auf sein Knie und be­gann zu spre­chen: »Weißt du, Papa, heu­te re­den wir nicht da­von. Mor­gen ist Mon­tag, das ist oh­ne­hin ein wi­der­wär­ti­ger Tag. Da kön­nen wir über die dum­men Ge­schich­ten spre­chen. Heu­te möch­te ich Ruhe ha­ben.«



»Ge­wiss, mein Kind!« er­wi­der­te Herr Herz schnell. »Ich habe dich nicht quä­len wol­len; mei­ner Klei­nen weh­tun – ich – das wär ku­ri­os!« Er lach­te, wie über einen lus­ti­gen, wi­der­sin­ni­gen Ein­fall. »Heu­te also las­sen wir das al­les; was ha­ben wir denn für Eile? Heu­te blei­ben wir ge­müt­lich bei­ein­an­der – hier – in un­se­rer Fes­tung.« Er strei­chel­te die Hän­de sei�