Achtzehntes Kapitel
Der Trödler Wulf hatte sein möglichstes getan, um den rücksichtslosen Sonnenschein dieses Sonntagmorgens aus seinem Wohnzimmer auszuschließen. Da die roten Vorhänge nicht genügten, hatte er das gelbe Tuch seiner Frau vor das Fenster gehängt, aber durch die kleinen, von den Motten hineingestochenen Löcher sandte die Sonne doch scharfgoldene Strahlen in das Zimmer, um die sich dann gleich ganze Staubsäulen drehten. Vor dieser unerwartet im September eingetretenen Hitze vermochte sich niemand zu schützen, so war auch das niedrige Gemach des Juden ganz durchglüht. Die Scherben, Lumpen, Papiere ringsum schienen in der Wärme zu neuem Leben zu erwachen, und dem Eintretenden schlug es wie ein heißer staubiger Atem entgegen, der sich auf die Lunge legte.
Ambrosius, Lurch und der Trödler saßen um den kleinen Tisch am Fenster und schwiegen. Ein jeder blickte starr und gereizt vor sich nieder. Lurch war sehr bleich. Den Kopf neigte er auf die rechte Schulter und knöpfte seine Weste nervös auf und dann wieder zu, während Ambrosius, in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Hände in den Hosentaschen, ruhig und gleichgültig scheinen wollte, aber zwischen den Augenbrauen, um die Mundwinkel, an den Schultern selbst verriet ein leichtes Zucken die Aufregung, in der er sich befand. Wulf war verlegen, rieb sich sanft mit den Handflächen die Kniescheiben und schaute lächelnd auf den weißen Papierstreifen, der vor ihm auf dem Tisch lag.
Endlich begann Lurch zu sprechen. Ohne aufzublicken, mit missmutig verzogenem Munde, redete er wie ein zänkisch schmollendes Kind vor sich hin: »Warum soll ich das tun? Wozu brauch ich das? Hab ich denn etwas davon, wenn Sie mit Fräulein Rosa fortgehen? Warum soll ich Geld riskieren, damit andere Leut sich – sich –?« Er sprach den Schluss nicht aus, sondern schluckte ihn laut und mühsam hinunter.
»Gut, gut! Wir wissen’s schon!« meinte Ambrosius und erhob sich, um im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich tu’s eben nicht«, wiederholte Lurch, indem er verstockt mit dem Kopfe wackelte. Ambrosius blieb vor ihm stehen, zog die Augenbrauen empor und sagte mit einer Stimme, die rau ward, weil sie ruhig sein wollte: »Hab ich denn etwas gesagt? So schweigen Sie doch! Es ist gewiss nicht unterhaltend, immer dasselbe anhören zu müssen. Ich habe Sie gebeten, noch zwanzig Minuten hier zu warten, nur das. Vielleicht ist es nicht gegen Ihre Grundsätze, hier zu warten?«
»Nein«, erwiderte Lurch, »das kann ich tun. Mir ist es gleich, kann hier noch ein wenig sitzen bleiben, aber unterschreiben – nein, das nicht!«
Diese zwanzig Minuten beängstigten ihn dennoch. Was konnten sie zu bedeuten haben? Da Ambrosius ihm aber den Rücken zukehrte, schwieg er und blickte wieder sorgenvoll auf seine alte, faltige Weste nieder.
Nun war das ärgerliche Klapp-klapp von Ambrosius’ Schritten, der in seiner Aufregung besonders hart mit dem Absatz auftrat, der einzige Laut im Gemach. Ein schwüles Unbehagen lastete auf diesem fadenscheinigen Zimmer mit seiner schmutziggelben Dämmerung, auf den drei bleichen Menschen, die sich schiefe, unsichere Blicke zuwarfen. Und der weiße Papierstreif auf dem Tisch, dort neben der halbzerbrochenen Tintenflasche und dem Federhalter, den Idas spitze Zähne rundum benagt hatten – da lag er, ließ den Sonnenstrahl über sich hinzittern und wartete ruhig, mitten in all der Pein, die er seiner Umgebung bereitete.
Ambrosius schaute zuweilen zur Türe hin. Er hatte Ida zu Rosa hinübergeschickt mit dem Befehl: Rosa solle sofort kommen. Den Bitten des Mädchens würde Lurch nicht widerstehen, gewiss nicht! Dieses Mittel anzuwenden war fatal, aber da es keinen anderen Ausweg gab, so musste man ja. Nicht wahr? Was war übrigens dabei? Nur zögerte Rosa. Zehn Minuten waren bereits verstrichen. Die peinliche Lage dauerte ohnehin schon zu lange.
Mit dem dummen Lurch und dem schmutzigen Juden in diesem übelriechenden Zimmer eingesperrt zu sein, ward endlich unerträglich. Am liebsten hätte er jetzt alles aufgegeben. Eine unbändige Wut kochte in ihm auf, eine Wut, die alles hätte zerschlagen und zerstoßen mögen. Da ward die Türe aufgerissen. Eine Flut von Licht, ein warmer Wind, der Levkojendüfte mitbrachte, drangen ins Zimmer, und auf der Schwelle stand Rosa. Ambrosius’ sorgenvolle Miene heiterte sich auf. Rosa erschien ihm wie eine Erlösung, wie Luft und Licht, die in einen finstern, dumpfen Ort dringen. Noch nie glaubte er seine Geliebte so schön, so heiter und hell gesehen zu haben wie in diesem Augenblick, da sie auf der Schwelle des Trödlerladens stand, die Türklinke in der Hand, den Kopf vorgebeugt, die Augen weit auf und himmelhell, den Mund ein wenig schief zu einem neugierigen Lächeln verzogen. Dazu hatte Rosa heute etwas dareingesetzt, wie ein kleines Mädchen gekleidet zu sein. Die Zöpfe hingen über den Rücken nieder. Das frisch gewaschene blaue Sommerkleid ließ die Halbstiefel und ein Stück des weißen Strumpfes sehen. Im schwarzen Ledergurt stak ein Strauß weißer Levkojen, und all diese lebensvollen, lustigen Farben brachten in die misslaunige Dämmerung des Judenzimmers etwas frohes, jugendlich reines.
»Da bist du ja!« sagte Ambrosius und ging Rosa entgegen.
»Was gibt es denn?« fragte diese.
»Wart, ich sag’s dir draußen.« Mit diesen Worten legte Ambrosius sehr freundlich seinen Arm um Rosas Taille und führte sie in den Hof hinaus.
Mit offenem Munde, ein rostiges Rot auf den spitzen Backenknochen, starrte Lurch auf die Türe. Jetzt, da sie sich hinter Rosa schloss, sprang er auf, schaute wirr um sich. »Wo ist mein Hut?« fragte er.
»Die zwanzig Minuten sind noch nicht um«, entgegnete Wulf.
»Gleichviel!« Oh, jetzt begriff er alles, und er fürchtete sich. »Meinen Hut, Wulf!«
Der Jude lächelte sein geduldiges Lächeln. »Der Hut liegt dort auf dem Stuhl, Herr Lurch, aber von den zwanzig Minuten fehlen noch fünf. Versprochen ist versprochen.«
»Ach was!« rief Lurch und griff nach seinem Hut; als er ihn aber in der Hand hielt, drehte er ihn nachdenklich zwischen den Fingern hin und her. »Fünf Minuten, sagten Sie?« fragte er leise. Der Trödler nickte. »Die kann ich wohl noch abwarten«, beschloss Lurch endlich. »Ich muss vielleicht.« Langsam setzte er sich wieder. So ohne weiteres fortgehen, das konnte er nicht. Rosas Anblick hatte sein armes, verdrossenes Gemüt erschüttert, hatte es mit warmer, lichtvoller Aufregung erfüllt, die ihm noch in allen Gliedern nachzitterte. Und dann – sie wird ihn ja bitten, sie wird es versuchen, ihn zu überreden – sie – ihn! Lurchs Lippen brannten, und der Hals wurde ihm von innerer Rührung zugeschnürt. Sie – ihn bitten!
»Ein schönes Fräulein!« bemerkte Wulf »Ein wunderschönes Fräulein.«
»Ja!« stöhnte Lurch auf, fügte jedoch sogleich ein verdrießliches »Ziemlich« hinzu. Die fünf Minuten waren längst verstrichen, und Lurch saß noch immer da und wartete.
Endlich kehrten Ambrosius und Rosa zurück. Rosa war ernst und zog die Stirne kraus, als wäre ihr etwas Widriges begegnet. In der Tat, sie verstand die ganze Lebenslage nicht, und sie war ihr fatal. Ambrosius sagte zwar, es sei nichts Schlechtes, was sie tun sollte. Lurch könne dabei nicht zu Schaden kommen, und es sei nur Eigensinn von ihm, dass er diese kleine Formalität nicht erfüllen mochte, obgleich alles von dieser Formalität abhing. Gut! Rosa begriff nur nicht, warum Lurch ihr gehorchen sollte. Wenn er es nicht tun wollte, was konnte sie dafür? – Er liebte sie. – Was? – Lurch liebte sie? Darüber konnte sie nur lachen. Lurch und Liebe!
Doch Ambrosius hatte sich geärgert, brachte Rosa es nicht zuwege, meinte er, dass Lurch den Wechsel unterschrieb, dann war es mit der ganzen Reise nichts. Über all diesen Widerwärtigkeiten hatte er ohnehin die Lust dazu verloren. Da gehorchte Rosa – ohne Widerrede – sofort –
Lurch blieb auf seinem Stuhl sitzen und vergaß es in seiner Aufregung, Rosa zu grüßen. Erst als sie ihm »Guten Morgen, Herr Lurch« zurief, erhob er sich ein wenig, setzte sich aber gleich wieder und klammerte sich an die Armlehnen des Sessels. Eine ungemütliche Pause entstand. Da machte sich Rosa mit einem plötzlichen Entschluss von Ambrosius’ Arm frei; da es sein musste, wollte sie ihren Auftrag ernstnehmen. Sie trat an Lurch heran und reichte ihm die Hand. »Wie geht es Ihnen, Herr Lurch?«
»Danke, Fräulein Rosa, mir geht es gut.«
»So.« Rosa schlug die Augen nieder, stützte ihren Mittelfinger so fest auf die Tischplatte, dass er sich bog, und sagte schnell: »Sie wissen, worum ich Sie bitten wollte?«
»Nein«, erwiderte Lurch erschrocken. »Oder doch – ja. Aber…«
»Bitte, tun Sie es.«
Lurch schüttelte mit dem Kopf.
Doch bat Rosa: »Mir zuliebe. Wollen Sie?«
»Ich kann nicht, Fräulein Rosa.« Lurch hob ein von Tränen und Jammer verzerrtes Gesicht zu Rosa auf. »Ich möchte ja gern, aber ich kann nicht.«
»Wenn Sie nur wollten.« Ein Sonnenstrahl traf Rosas Augen, dass sie klar und blau wie Glas schienen; dabei zog sie die Augenbrauen empor, was ihr einen erstaunten, lustigen Ausdruck verlieh. Was war nur dem Menschen? Warum zitterte er? Warum weinte er? Was hatte sie ihm getan? Rosa legte ihre Hand leicht auf Lurchs Schulter und wiederholte: »Bitte, tun Sie’s.« Lurch machte einen runden Rücken und preßte seine bleichen Lippen aufeinander. »Was?« sagte Rosa, hinter ihr knarrte eine Türe. Ambrosius hatte das Zimmer verlassen. Er konnte es nicht länger mit ansehen, er hätte Lurch schlagen müssen. Rosa aber ließ nicht nach. Die Leiden des armen Lurch erregten ihr Mitleid, und dennoch war etwas an ihnen, was Rosa reizte, sie immer wieder zu erneuen. »Wenn Sie mich ein wenig liebhaben«, sagte sie und drückte mit der Hand auf Lurchs Schulter, um zu sehen, wie dann ein nervöses Beben durch den ganzen dürren Körper lief.
»Ich kann es nicht!« brach Lurch endlich los. »Ich habe es Herrn von Tellerat schon gesagt. Ich habe nichts davon. Was hab ich davon? Sagen Sie selbst, Fräulein Rosa. Nichts hab ich davon.« In der Not seines Herzens knöpfte er sich wieder die Weste auf.
»Was Sie davon haben?« wiederholte Rosa zögernd und ein wenig befangen. »Sie haben allerdings nichts davon. Es wäre eben nur eine Freundlichkeit von Ihnen. Ich habe nichts, ich kann Ihnen nichts geben.« Sie hob beide Hände empor und zeigte ihre Handflächen. Lurch schwieg. Traurig starrte er auf die rosigen Handflächen. Er verstand es nur zu wohl; für ihn waren diese Hände immer leer. Plötzlich verlautete des Trödlers sanfte Stimme: »Für einen Kuss tut’s Herr Lurch schon.« Rosa wandte sich schnell um und ward feuerrot. »Pfui!« sagte sie. Auch Lurch war aufgefahren. »Nein«, stotterte er, »das tut Fräulein Rosa nie.«
»Gewiss nie«, bestätigte Rosa, ergriff einen ihrer gelben Zöpfe und drückte ihn an ihren Mund, als wollte sie diesen schützen. Sie fürchtete sich. Lurch blickte sie mit feuchtgelben Augen so unmenschlich starr an, und auf seinem Gesicht brannten rote Flecken. Den küssen! Sie wollte fortlaufen, und doch zögerte sie wieder. Was wird Ambrosius sagen, wenn sie nichts ausrichtet? Die ganze Reise, die ganze schöne Zukunft ging also in die Brüche? – »Schnell, schreiben Sie«, rief sie plötzlich, noch immer dunkelrot im Gesicht, die Augen voller Tränen. Lurch verstand nicht sogleich. »Wie, Fräulein Rosa…?« – »Fräulein Rosa will«, ermunterte ihn der Trödler, »das Geschäft ist abgemacht.« Er konnte es immer noch nicht glauben, Rosa aber stampfte mit dem Fuß auf. »Ja doch – schnell« – sie wandte sich ab – oh, sie schämte sich.
Endlich hatte Lurch begriffen. Mit zitternden Fingern ergriff er die Feder und malte vorsichtig seinen Namen auf den Papierstreif, spritzte die Feder aus, legte sie auf den Tisch, wischte sich die Lippen und war bereit. »Ich habe geschrieben«, flüsterte er. Rosa fuhr zusammen, richtete sich aber gerade auf, stellte sich vor Lurch hin, bog den Kopf zurück und schloss die Augen; dabei ward sie bleich bis in die Lippen und sah aus, als schliefe sie und habe einen sehr bösen Traum. Ängstlich lächelnd stellte sich Lurch auf die Fußspitzen – reckte den Hals – blickte mit zuckenden Wimpern auf das weiße Mädchengesicht nieder – spitzte den Mund und drückte ihn behutsam auf Rosas fest zusammengekniffene Lippen. Kaum fühlte Rosa diesen heißen Mund auf dem ihren, als sie aufschrie und zurücktrat. –
Lurch stand traurig und beschämt da; er wusste nicht, wie er sich jetzt benehmen sollte – darum verbeugte er sich höflich; Rosa aber riss das Wechselblanquet vom Tisch, um sich draußen – im Hof – weinend und lachend Ambrosius in die Arme zu werfen.
Lurch stand noch eine Weile da und strich sich liebkosend über die Lippen, dann griff er nach seinem Hut und schlich durch den Laden auf die Straße hinaus.
»Was ist denn passiert?« fragte Ambrosius besorgt, aber Rosa wollte es ihm nicht sagen. Sie erklärte nur, die Demütigung sei zu groß gewesen.
»Lass es gut sein«, meinte er. »Du hast es mir zulieb getan. Jetzt können wir reisen. Was geht uns der dumme Lurch an? So weine doch nicht; wir brauchen ruhige Überlegung. Der Würfel ist gefallen, sagt schon ein alter Römer.«
»Ja, ich weiß es – Cäsar«, schluchzte Rosa, und doch lachte sie wieder.
»Siehst du es wohl«, versetzte Ambrosius heiter. Er begriff Rosas Aufregung nicht; nun er den Wechsel in der Tasche hatte, war seine Laune die allerbeste. »Komm Liebchen, beruhige dich. Wir dürfen keine Kindereien treiben«, und seine frische, unternehmende Art tat Rosa wohl. Das war wieder der lustige Stimmton, die sorglosen Augen, das hübsche süßliche Lächeln, die so verwirrend in ihr kindlich ruhiges Leben eingedrungen waren, um alle guten Lehren, Fräulein Schanks ganzen Erziehungsplan über den Haufen zu werfen und Rosas Köpfchen mit einem seltsamen Rausch zu erfüllen, in dem alles erreichbar und erlaubt schien. Seit sie Ambrosius liebte, hatte jenes rücksichtslose, alles wagende Gefühl sich ihrer bemächtigt, von dem einst die sechsjährige Rosa zu sagen pflegte: »Agnes, die Ungezogenheit steigt mir zu Kopfe.« Auch jetzt wieder fühlte sie in sich jenes unbändige Verlangen nach Verbotenem, und das Leben war nur noch ein schönes, heimliches Vergnügen, das man hastig und mit schlechtem Gewissen genießt – wie die Liebesstunde im Trödlerhause. Ja – diese Liebesstunde! Gestern hatte sie noch Rosa mit ratloser Traurigkeit bedrückt, heute erschien sie ihr wie etwas Süßes – etwas, über das man errötet, von dem man schweigt, das einem aber dennoch mit seltsamem Rückverlangen das Blut erhitzt.
Ambrosius gab Rosa die nötigen Verhaltungsmaßregeln für den Abend. Um neun Uhr sollte Ida an der Hintertreppe der Herzschen Wohnung Rosas kleinen Handkoffer in Empfang nehmen. Rosa selbst sollte – auf einem anderen Wege als Ida – sich durch den Stadtgarten zur Brücke begeben, und in der Nähe des Brückenkruges wollte Ambrosius mit dem Wagen sie erwarten. Der Plan war einfach genug. »Und dann, Amby – können wir endlich fort«, rief Rosa in der leidenschaftlich offenen Freude eines Kindes, dem man ein längst versprochenes Vergnügen endlich gewährt. So schieden sie, um sich erst am Abend beim Brückenkruge wiederzusehen.
Da der Vormittag noch lang war, beschloss Rosa, einen Gang durch die Stadt zu machen – zum letzten Mal – das gehört sich so. Die Tageszeit war günstig, denn eben erst hatten die Kirchenglocken den Gottesdienst eingeläutet. Nicht als ob Rosa sich vor einer Begegnung mit Sally oder Ernestine Klappekahl gefürchtet hätte! Nein! Will man aber Abschied von seiner Heimat nehmen, so bedarf man der Einsamkeit, nicht wahr?
Die Straßen und der Marktplatz waren leer, wie stets zur Kirchenzeit, nur in der Ferne sah Rosa das alte Fräulein Katter einhertrippeln; ihr Atlasmantel glänzte in der Sonne, der Dachs folgte ihr – breitbeinig und verstimmt – ab und zu die Nase in die Gosse steckend. Sie hatten sich heute beide mit dem Kirchgang verspätet.
Die große, gelb angestrichene Türe des Laninschen Ladens war gesperrt, selbst der Mohr auf dem Schilde davor schien zu schlummern. Oh, welch eine verächtlich blöde Trägheit brütete über diesem Hause. Rosa konnte es sich deutlich vorstellen, wie es dort heute zugehen würde: Die Zimmer voller Suppengeruch – Herr Lanin voll fader Geschichten, Frau Lanin mit ihrem langen, weichen Munde beständig gähnend – und Sally – – mein Gott, die Arme! Und während Rosa vor diesem Hause stand, stieg wieder die Freude – groß und unruhig in ihr auf. Sie brauchte dieses Leben nicht mehr zu teilen.
Sie ging weiter – überall dieselbe Stille. Die Häuser waren wohlverschlossen und wie ausgestorben, nur in den Küchen hörte man es klappern, oder hier und da stand eine Dienstmagd, die das Haus bewachen sollte, unter dem Hoftor, die Haare feucht an die Schläfen gekämmt, das Kamisol frisch gewaschen, und sprach mit einem Burschen. Die kleinen Ereignisse, die sich in der Stille der Kirchenzeit abspielen, das Kichern unter den Toren, das heimliche, vergnügte Treiben unbeaufsichtigter Dienstboten und Kinder hatten Rosa früher, wenn sie sich auf dem Gange in die Kirche verspätete, ein neugieriges Interesse eingeflößt. Heute kam plötzlich ein wunderliches Verstehen über sie, das sie quälte und ihr missfiel. Diese dicken, hochbusigen Mägde, diese plumpen, unreinlichen Burschen, sie hatten zwischen Kessel und Pfanne, zwischen Kohlstrünken und Salatblättern ihre Liebesgeschichten. Rosa begriff nun, was sie wollten, was sie trieben, und es schien ihr, als würde ihr eigenes Schicksal dadurch entweiht. Dieses aufdringliche Klarsehen machte sie traurig; sie seufzte; sie hatte sich manches doch schöner gedacht!
In den entlegneren Stadtteilen – am Fluss – sah es weniger feiertäglich aus. Die armen Leute hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre guten Kleider anzulegen. Frauen mit ungekämmtem, wirr auf das missmutige Gesicht herabhängendem Haar standen in den engen Hofräumen und wuschen Erdäpfel oder Salat. Nackte Kinder sprangen zwischen den Schweinen und Hühnern umher. Hinter den morschen Bretterzäunen langten kümmerliche Apfelbäume mit ihrem eckigen Gezweige auf die Straße hinaus. Weiter hinab wurden die Häuser seltener. Kartoffelfelder und Weideland zogen sich am Flussufer hin; magere Pferde standen dort; die Hufe tief im roten Heidekraut, hielten sie im Grasen inne und nickten sinnend mit den Köpfen. Am Rande des steil abfallenden Ufers wollte Rosa ausruhen; sie legte sich nieder, den Leib im Grase, mit den Füßen in der Luft umherschlagend, den Kopf in die Hände gestützt, und biss an einem Halm. Unten lag der Sonnenschein, ein blankes Zittern auf dem träg rinnenden Wasser des Flusses.
Rosa blickte dem Rinnen des Wassers nach. Klare, festumrissene Gedanken wollten in ihrem Kopfe nicht mehr standhalten, nur ein wohliges Auf- und Abfluten von Bildern und Empfindungen regte sich in ihr. Sie kamen und brachen wieder ab, wie das Geigen der Feldgrillen ringsum im Grase – und es lag über ihnen ich weiß nicht welch unklare Traurigkeit, die einen seltsamen Frieden in sich barg. Die Ereignisse der letzten Tage, dieses beständige sich selbst Mut zusprechen, das Ringen mit unangenehmen Gedanken hatten Rosa müde gemacht, das fühlte sie plötzlich. Hier, am warm beschienenen Abhange, kam eine lähmende Erschlaffung über sie, die Kraft fehlte ihr, abzuwehren, festzuhalten, sie musste die Hände in den Schoß legen und achselzuckend sagen: »Es gehe, wie es geht.«
Wie das nur alles so kommen konnte. Unmerklich war es herangekrochen – nun war es da. Natürlich musste es so sein! Aber noch stand es fremd vor ihr wie etwas, an dem sie nicht teilhatte – sie, die friedliche Schanksche Schülerin, die jeden Morgen ihre große Mappe durch die Schulstraße geschleppt hatte. Rosa Herz, die nie die französischen Fabeln hersagen konnte und vor dem bevorstehenden Gouvernantenexamen zitterte, Rosa, die stundenlang zum Fenster hinausschaute und sich über das Gekicher auf dem Kirchenplatz ihre kindischen Gedanken machte, die sich um zehn Uhr niederlegte und vom Bett aus das schräge, mondbeglänzte Dach des Pfarrhauses anstarrte, bis ihr die Augen zufielen, diese ganz gewöhnliche Rosa liebte nun und ward geliebt; diese Rosa war jetzt die Person, vor der die Leute, die sie so gut kannte wie ihr Werktagskleid, ein Kreuz schlugen. Fräulein Katter, der Doktor, Ernestine, sie hielten sie für ein schlechtes Mädchen, mit dem man nicht sprechen darf. Sie war das verführte Mädchen; verführt – dieses Wort, das sie früher nicht aussprechen durfte, weil es unpassend war, nun gehörte es zu ihr, sie war jetzt eine unpassende Person. Was wohl Marianne darüber denken mochte? Und ob sie in der Schule nur ganz heimlich von Rosa sprechen durften, wie man sich sonst die dummen Geschichten erzählte, über die man errötete und kicherte? Rosa drückte die Augenlider zusammen und wiegte ihren Kopf schläfrig hin und her. Sie grämte sich über diese Dinge nicht, aber auch die Freude, in die sie sich hineingeredet hatte, war fort. Wer so daliegen könnte und abwarten. Es fließt ja doch vorüber, wie dort unten, immer zu, man braucht nur stillezuhalten. Dem müden Mädchen gefiel dieser Gedanke. Die lästige Arbeit, selbst am Leben mitzuwirken, schien unnötig, es fließt ja ohnehin vorüber! Im traumhaften Durcheinanderwogen der Vorstellungen folgte Rosa mit den Blicken dem Strom, als gehöre er zu ihr, als hinge für sie etwas von dem Rinnen dieses Wassers ab – fort – die Ufer entlang, an dem großen Stein hin, wo kleine Wellen flimmernd emporatmeten, an dem Kahn vorüber, in dem der stille Angler saß – weiter bis zu dem Erlengestrüpp, wo es sich schwarz unter die Zweige verkroch.
»Das ist der Tod«, sagte Rosa laut vor sich hin. Der Klang der eigenen Stimme machte sie aufschrecken, gleich wieder jedoch versank sie in Sinnen: »Tod!« – Dieses Wort atmete kühle Ruhe aus. Man streckt Hände und Füße von sich und ist tot. Sie bog den Kopf auf das Gras zurück, reckte die Glieder. »Ah, so muss es sein, ganz so!« Regungslos lag sie da, tief und regelmäßig atmend.
Der Ton der Kirchenglocken ließ sie auffahren. Sie erhob sich verwirrt; der Halbschlummer, in dem sie dagelegen, hatte sie weit aus der Gegenwart fortgeführt. Ohne deutliches Traumbild hatte sie doch das Gefühl gehabt, als lege sie mühelos ein beträchtliches Stück Leben zurück, sie ward eben mit fortgetragen. Jetzt, aus diesem Traumweben herausgerissen, schaute sie erstaunt um sich. Derselbe eintönige Singsang der Grillen, dasselbe sachte, zitternde Licht auf dem Abhange, derselbe verhängnisvolle Tag, den sie im Traum längst überstanden hatte, wartete auf sie. Mutlos ließ Rosa die Hände in das Gras sinken. Sie fühlte sich zu träge, ihre Geschichte von neuem aufzunehmen.
Früher, wenn sie ihre Schulaufgaben des Abends nicht beenden konnte, ließ sie sich von Agnes am nächsten Morgen ganz früh wecken, um das Versäumte nachzuholen. Wenn aber Agnes in der dunklen Winterfrühe an Rosas Bett trat und sie aufrüttelte, dann erschien ihr der Schlaf das höchste Gut. »Agnes«, flehte sie, »lass mich nur noch fünf Minuten schlafen.« Oh, diese kostbare Frist! Aber das Gewissen regte sich doch. Es träumte Rosa, sie verließ das Bett, kleidete sich an, begann den französischen Aufsatz zu schreiben. Wie leicht das ging! Jetzt war er fertig! »Rosa steh auf! Du bringst sonst den Aufsatz bis acht Uhr nicht fertig«, tönte Agnes’ Stimme in den schönen Traum hinein, denn nur Traum war es gewesen; das mühselige Aufstehen, das Frieren vor der Waschschüssel standen noch bevor; der ganze Aufsatz war noch zu schreiben!
An diese trüben Morgenstunden musste Rosa denken, und sie lächelte; die Schule und ihre Qual waren jedoch für immer vorüber. Sie sprang auf, der Abschied von der Heimat hatte sie weich gestimmt, das war hübsch und natürlich, nun war es aber auch genug. Die Freude an ihrer Liebe, ihrem bunten Schicksal wollte sie sich nicht verkümmern lassen. So wie es war, war es gut; so hatte sie es sich gewünscht. Sie war fest entschlossen, glücklich zu sein. Jeder Zweifel, der in ihr aufstieg, ward gewaltsam niedergedrückt. Sie wollte nicht enttäuscht und elend sein! – – –
Auf dem Marktplatze vor dem Laninschen Hause standen Fräulein Klappekahl und Fräulein Lanin in ihren schönen Sonntagskleidern und mit ihren neuen Herbsthüten. Sally faltete die Hände über dem schwarzen Gesangbuch und schüttelte im Eifer des Gesprächs die Locken. »Die heutige Predigt hat mir so recht das Herz aufgewühlt«, sagte sie, gewiss; wie oft hatte sie das nicht schon zu Rosa gesagt – dort an derselben Ecke!
Als Rosa an ihnen steif und hochmütig vorüberging, schlug Sally die Augen nieder, drückte das Gesangbuch fest an den Busen und sagte sehr laut: »Armes, verlornes Schaf!« Ernestine Klappekahl aber wandte ihren Blick von Rosa nicht ab. Rosa freute sich darüber. Hatte sie es doch selbst erfahren, mit welch heißem Interesse man aus dem Gefängnis bürgerlicher Zucht herausschaut auf alles, an dem etwas von den verbotenen, furchtbaren Dingen hängen mag, an die ein ordentliches Mädchen nicht denken darf. Ja – die lange dünne Ernestine beneidete das verlorene Schaf.
Zu Hause fand Rosa ihren Vater bleich und kummervoll im Lehnstuhl sitzen. Das verdroß sie; fasste er denn die Sache noch immer nicht richtig auf? Missmutig warf sie sich in einen Sessel und schlug mit den Handflächen auf die Armlehnen. »Ich habe also heute mit der Schank gesprochen«, bemerkte Herr Herz schüchtern.
»So!« erwiderte Rosa gleichgültig, dann aber erhob sie sich plötzlich; sie durfte diese jammervolle Stimmung nicht andauern lassen. Sie kniete bei ihrem Vater nieder, stützte ihren Kopf auf sein Knie und begann zu sprechen: »Weißt du, Papa, heute reden wir nicht davon. Morgen ist Montag, das ist ohnehin ein widerwärtiger Tag. Da können wir über die dummen Geschichten sprechen. Heute möchte ich Ruhe haben.«
»Gewiss, mein Kind!« erwiderte Herr Herz schnell. »Ich habe dich nicht quälen wollen; meiner Kleinen wehtun – ich – das wär kurios!« Er lachte, wie über einen lustigen, widersinnigen Einfall. »Heute also lassen wir das alles; was haben wir denn für Eile? Heute bleiben wir gemütlich beieinander – hier – in unserer Festung.« Er streichelte die Hände sei�