Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

»Ich habe nichts be­merkt. Wa­rum?«

»Wie? Sie wis­sen’s noch nicht?« Herr Klappe­kahl rück­te dem Se­kre­tär nahe auf den Leib, steck­te sein Ge­sicht in den rot­gol­de­nen Ba­cken­bart und er­zähl­te die Ge­schich­te von der Rosa. – Be­lus­tigt hör­te der schö­ne Se­kre­tär zu.

»Nicht mög­lich!« Er lach­te, vor­sich­tig den Kopf zu­rück­bie­gend, da­mit die Glä­ser ihm nicht von der Nase fie­len. Die an­de­ren Her­ren ka­men auch her­an – sie woll­ten auch hö­ren, und Klappe­kahl er­zähl­te im­mer wie­der die An­ge­le­gen­heit. Er war gut un­ter­rich­tet, füg­te neue Ein­zel­hei­ten hin­zu, und die al­ten Her­ren, die Hän­de in den Ta­schen, ga­ben ih­rer Ent­rüs­tung Aus­druck, wäh­rend ein Lä­cheln ihre blas­sen Lip­pen kit­zel­te. Nur der Se­kre­tär nahm die Sa­che nicht so ernst. Er fand das al­les ganz in der Ord­nung. »Gott, ich habe nie et­was an­de­res er­war­tet. Der Rosa Herz sah man ja die Le­bens­neu­gier­de an den Au­gen an. Sie hat die ers­te Ge­le­gen­heit be­nützt, sich zu be­leh­ren. Die­ser – oder ein an­de­rer, ei­ner muss­te es sein. Mir hat sie ge­nug Bli­cke zu­ge­wor­fen. Soll der jun­ge Tel­le­r­at viel­leicht den Sprö­den spie­len? Lä­cher­lich! Er ist ein sym­pa­thi­scher Jun­ge, ich ken­ne ihn. Sie ist ein hüb­sches Mäd­chen. Ich fin­de nichts Merk­wür­di­ges an der Ge­schich­te!«

»Ja, aber La­nin«, warf Pal­tow ein. »Der hat doch auf den jun­gen Mann für sei­ne Toch­ter ge­rech­net, sagt man.«

»Gut! Wa­rum nicht?« Herr von Fei­er­gro­schen fand, dass die Af­fä­re mit der Rosa Lan­ins Plä­ne nicht durch­kreuz­te. Man soll­te doch nicht glau­ben, der jun­ge Tel­le­r­at wür­de die Rosa hei­ra­ten. Ge­wiss nicht! Er konn­te ja noch im­mer reu­ig zu Sal­ly La­nin zu­rück­keh­ren. Sol­che Ju­gend­ver­hält­nis­se sind für bei­de Tei­le nur Vor­stu­di­en für das spä­te­re Le­ben. Die Stadt­vä­ter schüt­tel­ten die Köp­fe, sie fan­den das fri­vol. War der alte Herz nicht ein an­stän­di­ger Mann und Bür­ger der Stadt, trotz sei­ner Bal­lett­ver­gan­gen­heit? Wur­de er nicht in den bes­ten Häu­sern emp­fan­gen? Nein, man durf­te die Ge­schich­te nicht so be­ur­tei­len, als wäre Rosa Herz die erst­bes­te. Ge­hört man zur gu­ten Ge­sell­schaft, so muss man sich auch da­nach be­neh­men, nicht wahr? Über Am­bro­si­us wa­ren alle ei­nig, dass er ein lie­bens­wür­di­ger, net­ter jun­ger Mann sei. Leicht­sin­nig – ja! Aber er war jung und rei­cher Leu­te Kind. Der alte Herz, Rosa, La­nin, das wa­ren die Schul­di­gen. Breit­bei­nig stan­den die er­hitz­ten al­ten Her­ren auf der Rat­haustrep­pe, lie­ßen die Bre­lo­ques auf den spit­zen Bäu­chen klir­ren und mach­ten be­däch­ti­ge Ge­sich­ter. Vor ih­nen lag – in der Mit­tags­glut – der Markt­platz. Un­ter den lei­ne­nen Schutz­dä­chern schlum­mer­ten die Ver­käu­fe­rin­nen mit­ten un­ter den Hau­fen grü­nen Ge­mü­ses. Land­leu­te hat­ten sich auf das Pflas­ter ge­setzt; einen Korb mit Ei­ern ne­ben sich, ein mat­tes Huhn un­ter dem Arm, steck­ten sie ihre Köp­fe über ei­nem Sup­pentopf zu­sam­men, kau­ten lang­sam und be­däch­tig, müde zu den sonn­be­glänz­ten Dä­chern auf­schau­end. Nur we­ni­ge Käu­fer wa­ren zu se­hen. Hier und da ging eine alte Dame mit ei­ner Hand­ta­sche am Arm kos­tend von Korb zu Korb, oder ein Kind stell­te sich vor der Obst­bu­de auf die Fuß­spit­zen, um sich die größ­te Bir­ne aus­zu­su­chen. Leu­te, die an der Rat­haustrep­pe vor­über muss­ten, grüß­ten ehr­er­bie­tig hin­auf, und die Stadt­vä­ter dank­ten, zo­gen ru­hig und me­cha­nisch, als Män­ner, die das Grü­ßen ge­wohnt sind, die Hüte ab und zeig­ten ihre blan­ken Glat­zen.

»Mei­ner Seel! Da ist sie!« rief der Se­kre­tär plötz­lich.

»Wo – wo?« Alle reck­ten die Häl­se, schütz­ten mit der fla­chen Hand die Au­gen vor der Son­ne.

Auf der an­de­ren Sei­te des Plat­zes er­schi­en Rosa; den grau­en Som­mer­man­tel lose um die Schul­ter ge­wor­fen, den Stroh­hut im Na­cken, die Stirn voll wil­der blon­der Haar­bü­schel, ging sie trä­ge und ein we­nig miss­mu­tig ein­her. Als sie an den Her­ren vor­über­kam, grüß­te zu­erst der Se­kre­tär, und die an­dern grif­fen un­will­kür­lich auch an die Hüte. Rosa dank­te mit ei­nem ar­ti­gen Kopf­ni­cken.

»Da kann man sa­gen, was man will«, be­merk­te Klappe­kahl, »sie hat eben nicht so­li­des Blut in den Adern. Das habe ich schon er­kannt, als sie noch so – groß war. Sie ist aus an­de­rem Teig ge­ba­cken wie un­ser­eins – Büh­nen­blut.«

Das war’s. Alle stimm­ten dem bei, bis auf den Se­kre­tär, der nach­denk­lich sei­nen gol­de­nen Bart zupf­te. Man trenn­te sich: »Auf Wie­der­se­hen! – Bon­jour! – Habe die Ehre!« Ein je­der woll­te heim; die Sup­pe war­te­te, und ein je­der war froh, Ro­sas Lie­bes­ge­schich­te als hüb­sche Über­ra­schung nach Hau­se brin­gen zu kön­nen. Ja, die­ser Lie­bes­ge­schich­te ge­hör­te der Tag. Sie wur­de nicht nur bei den Mit­tags­ti­schen der gu­ten Ge­sell­schaft mit je­dem neu­en Gang im­mer wie­der neu auf­ge­tra­gen, sie war auch die Gra­tis­zu­ga­be für jede Fla­sche Soda, für je­des Pil­len­schäch­tel­chen, das in der Apo­the­ke ver­ab­reicht ward, für je­des Band, das Herr Pal­tow ver­kauf­te. Na­tür­lich, so et­was war seit Men­schen­ge­den­ken nicht pas­siert! Wenn man sich am hel­len lich­ten Tage hin­ter die Türe ei­ner Tröd­ler­bu­de stellt und sich küsst, wenn man gu­ter Sit­te und alt­her­ge­brach­ter Moral acht­los in das Ge­sicht schlägt, dann kann man nicht er­war­ten, dass die Leu­te ru­hig zu­se­hen und schwei­gen. Man küsst sich in ho­hen Bür­ger­krei­sen bei der Ver­lo­bung und gleich nach der Ver­hei­ra­tung, das muss je­des gu­ter­zo­ge­ne Bür­ger­mäd­chen wis­sen. Wenn aber zwei Kin­der aus gu­ten Häu­sern es un­ter­neh­men, im An­ge­sicht der Fir­ma La­nin einen aben­teu­er­li­chen Ro­man ab­zu­spie­len, dann müs­sen sie sich auch dar­auf ge­fasst ma­chen, dass die Bür­ger­schaft, um die Wür­de des Stan­des zu wah­ren, ernst­lich da­ge­gen Pro­test ein­legt. Den­noch war all die­ses Rosa durch­aus nicht klar. Dass Sal­ly sie be­lauscht hat­te, war lä­cher­lich und wi­der­wär­tig, ge­wiss! Und den­noch war et­was dar­an, das Rosa nicht miss­fiel. Sal­ly, die im­mer so groß­tat, die alle Welt glau­ben ma­chen woll­te, Am­bro­si­us sei in sie ver­liebt – nun hat­te sie eine Nie­der­la­ge er­lit­ten, die ihr wohl zu gön­nen war. Jetzt soll­te Sal­ly ein­mal Rosa be­nei­den, wäh­rend Rosa bis­her im­mer Sal­ly be­nei­det hat­te um Klei­der, Bän­der, Ta­schen­geld, Bon­bons. Wie pro­sa­isch und arm muss­te Sal­ly sich selbst jetzt er­schei­nen. Ihr ent­ge­gen­tre­ten, da­vor scheu­te Rosa noch zu­rück und hat­te sich bei Fräu­lein Schank krank­mel­den las­sen.

Nach­dem sie den Mor­gen über in ih­rem Zim­mer auf dem Sofa ge­le­gen hat­te, um nach­zu­den­ken, ent­schloss sie sich, um zwölf Uhr aus­zu­ge­hen. Die Zeit des großen Son­nen­scheins war ja ihre Stun­de. Das Lan­in­sche Haus, Wulfs La­den ver­mei­dend, ging sie über den Markt­platz und irr­te in ent­le­ge­nen klei­nen Gas­sen um­her, die heiß und leer zwi­schen nied­ri­gen Holz­häu­sern und Ge­mü­se­gär­ten la­gen. Oft blieb Rosa ste­hen, lehn­te sich an einen Gar­ten­zaun und schau­te die Rei­he der Salat­bee­te ent­lang. Eine Wol­ke wei­ßer Schmet­ter­lin­ge wog­te über den krau­sen Blät­tern. In den Nes­seln am Zaun reg­ten sich zahl­lo­se Hum­meln und sand­ten ihr ei­gen­sin­ni­ges Brum­men zu Rosa em­por. Selt­sam! Die­ses Gärt­chen mit sei­nem gel­ben Son­nen­schein ver­stimm­te Rosa, raub­te ihr das er­war­tungs­vol­le Fest­tags­ge­fühl, dem sie heu­te mor­gen noch nach­ge­träumt hat­te. Am­bro­si­us’ Lie­be war als et­was Neu­es und Hüb­sches in ihr Le­ben hin­ein­ge­kom­men; et­was, das blank wie sein Hut, süß wie der Duft sei­ner Haar­po­ma­de war. Was aber mehr war, die­se Lie­be er­schi­en Rosa wie der An­fang ei­nes bes­se­ren, glück­li­che­ren Le­bens, und da­her die­ses an­ge­neh­me Ge­fühl, wie wir es am Vora­bend ei­nes Fes­tes ha­ben.

Ob sie heu­te oder mor­gen ei­ni­ge Wi­der­wär­tig­kei­ten zu er­tra­gen hat­te, was lag dar­an, das große Er­eig­nis wür­de auch die be­sei­ti­gen. Nun aber, vor der All­täg­lich­keit des kar­gen Gärt­chens, vor dem gäh­nen­den Frie­den der grau­en Häu­ser, im re­gel­mä­ßi­gen Sum­sen der Mit­tags­stun­de, be­gann sie zu zwei­feln. Wird La­nin der Schank nicht al­les er­zäh­len? Wird es nicht De­mü­ti­gun­gen und Wi­der­wär­tig­kei­ten ge­ben? Und der Va­ter? Was wird er sa­gen? Wird er nicht trau­rig und er­ge­ben die grau­en Haar­bü­schel über den Au­gen em­por­zie­hen, was Rosa im­mer är­ger­te und be­trüb­te? Mor­gen oder über­mor­gen muss­te sie doch wie­der in den ab­ge­stan­de­nen Tin­ten­ge­ruch der Schul­stu­be hin­ein, und nichts – nichts hat­te sich ge­än­dert! Furcht vor Stra­fe und Schel­te stieg in Rosa auf, je­nes lose, un­ge­ord­ne­te und un­si­che­re Ge­fühl klei­ner Mäd­chen, die et­was Un­rech­tes zu ver­ber­gen ha­ben. Wo war denn Am­bro­si­us? Wa­rum schütz­te und trös­te­te er sie nicht? Wa­rum nahm er sie nicht und führ­te sie weit fort? Rosa be­gann zu wei­nen, von der Son­ne an­ge­glüh­te Trä­nen, die ihr auf der Wan­ge brann­ten. Sie sehn­te sich nach Am­bro­si­us. Wäre er nur da mit sei­nen sonn­täg­li­chen Klei­dern, sei­nem hüb­schen, leicht­sin­ni­gen Ge­sicht, sei­nen schö­nen Re­dens­ar­ten, in de­nen im­mer das Wort »Lie­be« vor­kam! »Ja! Lie­be – Lie­be – Lie­be«, sprach Rosa ei­gen­sin­nig vor sich hin und schlug mit der Faust auf die Bret­ter des Zau­nes. Lie­be woll­te sie – sie lieb­te Am­bro­si­us – Am­bro­si­us lieb­te sie – soll­te sie hei­ra­ten, reich und vor­nehm ma­chen – Hoch­zeit und Rei­sen, und gleich jetzt muss­te es ge­sche­hen, ehe die Schank und Sal­ly und La­nin über sie her­fie­len. Ei­lig trat Rosa den Rück­weg an. Wenn sie sich un­be­merkt glaub­te, lief sie – das Ge­sicht glü­hend, Schweiß­trop­fen auf der Stirn und die Au­gen­win­kel noch feucht von Trä­nen.

Zu Hau­se fand Rosa einen Brief vor.

 

»Lieb­chen! Ich lei­de furcht­bar. Wo kann ich Dich spre­chen? Der Pe­ter holt die Ant­wort. Un­se­rem Ver­hält­nis droht Ge­fahr. Schrei­be mir so­gleich. Mit schwe­rem, aber Dir ewig treu­em Her­zen A. v. T. 28. Au­gust.« –

»Lie­ber Amby!« ant­wor­te­te Rosa. »Kom­me heu­te um acht Uhr zum Fluss hin­ab. Hin­ter der Hüt­te des al­ten Rau­te er­war­te ich Dich. Ich habe auch große Sehn­sucht, Dich zu se­hen. Lebe wohl. Ei­nen Kuss von dei­ner R. 28. Au­gust.«

Vierzehntes Kapitel

Die Hüt­te des al­ten Rau­te lag hart am Fluss, halb in die stei­len Sand­mas­sen des Ufers hin­ein­ge­baut. Sie be­stand aus grau­en, moos­be­wach­se­nen Bret­tern, be­saß nur ein ganz klei­nes Fens­ter und eine mor­sche Türe, die an ei­ner An­gel hing. Auf ei­ni­gen Hand­voll Gar­ten­er­de ne­ben der Hüt­te ge­die­hen Lev­ko­jen, Ge­or­gi­nen und wohl­rie­chen­de Erb­sen. Oben, auf dem Dach, un­ter dem Schutz der Sand­leh­ne, mach­te sich ein Ho­lun­der­strauch breit und klopf­te mit sei­nen blau-schwar­zen Frucht­trod­deln an das Fens­ter. Vor der Hüt­te, auf dem Fluss, lag das lan­ge Boot für die Über­fahrt, in dem der alte Rau­te einen je­den, der über das Was­ser woll­te, an ei­nem von ei­nem Ufer zum an­de­ren ge­spann­ten Seil hin­über­schob. Au­ßer dem Ge­wer­be des städ­ti­schen Fähr­manns be­saß Rau­te als Ein­nahms­quel­le noch zwei klei­ne Käh­ne, die er ver­mie­te­te, und all die­ses muss­te ihm ein be­hag­li­ches Le­ben dort un­ter sei­nem Ho­lun­der­strauch si­chern, denn er zeig­te ein zu­frie­de­nes braun­ro­tes Ge­sicht un­ter den kurz­ge­schnit­te­nen Haa­ren, und die grün­li­chen Au­gen hat­ten den kla­ren Blick der Leu­te, die ge­wohnt sind, auf wei­ter Flä­che in einen frei­en Ho­ri­zont hin­ab­zu­ge­hen. Er lehn­te am Tür­pfos­ten sei­ner Hüt­te und rauch­te. Vor ihm, auf ei­nem großen Stein, saß Rosa. Sie hat­te sich heu­te abend schön ge­macht und trug ih­ren neu­en Stroh­hut, einen run­den Kna­ben­hut mit schwar­zen Bän­dern. Die Füße in den aus­ge­schnit­te­nen Schu­hen streck­te sie von sich, um die schö­nen blau- und weiß­ge­streif­ten St­rümp­fe se­hen zu las­sen, die sie sich ges­tern heim­lich bei Pal­tow ge­kauft hat­te.

»Sie dür­fen nie von hier fort­ge­hen, Herr Rau­te?« frag­te Rosa höf­lich. »Sie müs­sen im­mer war­ten, ob nicht je­mand über den Fluss will, nicht wahr?«

»Ach was!« er­wi­der­te Rau­te, ohne die Pfei­fe aus dem Mun­de zu neh­men. »Ich dürf­te schon! Am Nach­mit­tag will kei­ner hin­über. In der Früh und um die Mit­tags­zeit, da gibt es zu tun. Aber, mein Gott, ich geh nicht fort. Was hab ich in der Stadt zu su­chen? Ich bin froh, wenn ich mei­ne Ruh habe.«

»Hier bei Ih­nen sieht man den Him­mel gut«, mein­te Rosa. »Sind Sie, Herr Rau­te, dort – weit jen­seits ge­we­sen, dort, wo der Mann geht?«

»Dort? ja.«

»Was ist dort?«

»Oh, nichts, Fräu­lein! Arme Leu­te woh­nen dort. Es geht ih­nen schlimm, die Stei­ne und der Sand las­sen nichts Rech­tes auf­kom­men.«

»Und der Fluss?« frag­te Rosa wei­ter. »Wo­hin geht der? Sind Sie den schon ganz hin­ab­ge­fah­ren?«

»Frei­lich! In dem Kahn da. Drei Tage sind wir ge­fah­ren, eh wir an die See ka­men.«

»An die See?«

»Ja, es geht gut. Nur eine hal­be Stun­de un­ter­wärts ist eine schlim­me Stel­le. Vor Ge­strüpp und Schilf kommt man nicht wei­ter. Da muss der Kahn auf dem Lan­de fort­ge­zo­gen wer­den.«

»Wenn man also im­mer wei­ter und wei­ter hin­ab­fährt, dann kommt man ins Meer?«

Rau­te blin­zel­te be­ja­hend mit den Au­gen­li­dern.

»Dort liegt es also?« Rosa zeig­te mit dem Fin­ger den Fluss hin­ab und zuck­te mit den Wim­pern. Das Wort »Meer« er­weck­te in ihr die Vi­si­on ei­ner wei­ten, licht­blau­en Flä­che, die wogt und rauscht und flim­mert. Sie kann­te es nicht, aber das Wort al­lein mach­te sie froh, er­reg­te ein kit­zeln­des, un­ru­hi­ges Won­ne­ge­fühl in der Herz­gru­be. Dann muss­te sie wie­der über ih­ren Fin­ger la­chen, der klein und kin­disch in die Fer­ne, auf je­nes große, un­be­kann­te Wun­der – das Meer – hin­aus­deu­te­te.

End­lich kam Am­bro­si­us den Ab­hang her­ab. Er jo­del­te wie ein stey­ri­scher Bua und schwenk­te sei­nen Hut. Rosa blieb sit­zen und streck­te dem Ge­lieb­ten ka­me­rad­schaft­lich die Hand ent­ge­gen. »Grüß dich Gott!« sag­te Am­bro­si­us und drück­te die dar­ge­reich­te Hand. Sie ge­fie­len sich bei­de in der ge­schmack­vol­len Zu­rück­hal­tung die­ses Hän­de­druckes. Er gab ih­rer Lie­be das An­se­hen ei­ner aus­ge­mach­ten Sa­che.

»Blei­ben wir hier?« frag­te Am­bro­si­us.

»Wie du willst«, er­wi­der­te Rosa. »Aber hier ist’s gut.« Die ge­fühl­vol­le Schlaff­heit, in der sie auf dem Stein saß, be­hag­te ihr. Die Hän­de auf den Kni­en, den Ober­kör­per leicht nach vor­ne ge­beugt, die Bli­cke in den Glanz des Abend­him­mels ver­lo­ren.

»Nein – nein«, sag­te Am­bro­si­us, schüt­tel­te den Kopf und dach­te nach. Da, jetzt hat­te er’s! »Wir fah­ren mit dem Kahn den Fluss hin­aus.«

»Ja Amby, wenn du willst?«

Rau­te rich­te­te den Kahn her, und als al­les be­reit war, führ­te Am­bro­si­us Rosa zum Ufer hin­ab, stieg zu­erst in den Kahn und woll­te Rosa hin­ein­hel­fen; Rau­te aber schob ihn ru­hig bei­sei­te, nahm Rosa in sei­ne Arme, hob sie in den Kahn und setz­te sie auf die Bank vor dem Steu­er nie­der. Am­bro­si­us lach­te ge­zwun­gen. Er wuss­te nicht, är­ger­te es ihn, dass er Rosa nicht selbst trug, oder dass er selbst nicht wie Rosa ge­tra­gen ward.

»Hal­ten Sie sich hübsch in der Mit­te«, mahn­te Rau­te, »da­bei ha­ben Sie nicht viel Ar­beit. Hin­ab geht es oh­ne­hin von selbst.«

»Mir brau­chen Sie das nicht zu sa­gen«, ant­wor­te­te Am­bro­si­us ge­reizt. »Sto­ßen Sie nur den Kahn ab.«

Mit lei­sem Ge­plät­scher schoss das Boot in den Fluss hin­aus, und Am­bro­si­us be­gann eif­rig und sehr re­gel­recht zu ru­dern. Er gab viel dar­auf, die Ru­der ge­nau zu glei­cher Zeit in das Was­ser zu tau­chen und sie flach und ge­räusch­los wie­der her­aus­zu­zie­hen. Bei je­dem Ruck stemm­te er sei­nen kräf­ti­gen, stram­men Ober­kör­per ge­gen die Ru­der, wölb­te die Brust, ließ sei­ne Mus­keln spie­len, freu­te sich sei­ner jun­gen Glie­der. Die An­stren­gung rö­te­te sei­ne Wan­gen und gab sei­nen Au­gen einen ge­sun­den, fröh­li­chen Glanz. »Eins, zwei – eins, zwei« zähl­te er und schau­te stolz zu Rosa hin­über. »Das geht gut, nicht? Oh, das Ru­dern ver­steh ich. Ich war im­mer der Ers­te in un­se­rem Ru­der­klub. Die Haupt­sa­che ist: das Ru­der flach hin­ein – ein Ruck – flach her­aus. Kein Ge­plät­scher und Sprit­zen. So: eins – zwei, eins – zwei. Komm, willst du’s ler­nen?«

»Jetzt nicht«, er­wi­der­te Rosa. Sie sah lie­ber zu und fühl­te sich gar so wohl dort an ih­rem Steu­er. Der Kahn wieg­te sie sach­te hin und her, ein küh­les, feuch­tes We­hen schüt­tel­te an ih­ren Haa­ren. Vor ihr die Was­ser­bahn mit ih­rem me­tal­li­gen Glanz, in den die Abend­wol­ken eine wel­ke Ro­sen­far­be misch­ten, wie das Spie­gel­bild ei­ner Hand auf ei­ner Stahl­klin­ge. Die Häu­ser am Ufer, mit ih­ren ge­öff­ne­ten Fens­tern, gli­chen großen durch­lö­cher­ten Käs­ten, in de­ren schwar­zen Öff­nun­gen sich fleisch­far­bi­ge Punk­te reg­ten, grel­le Far­ben­flo­cken auf­leuch­te­ten. Dazu kam ein be­stän­di­ges Klin­gen über das Was­ser, Stim­men, Hun­de­ge­bell, Glo­cken­ge­läu­te, und es schi­en Rosa, als emp­fin­gen die Töne vom Was­ser eine hel­le­re, sanf­te­re Note, et­was von dem lei­sen Rau­schen am Kiel des Boo­tes. End­lich war ihr, auf dem Hin­ter­grun­de des bun­ten Abend­him­mels, der rege, kräf­ti­ge Jun­ge mit sei­nem ge­röte­ten Ge­sicht, der feuch­ten Stirn, den re­gel­mä­ßi­gen, elas­ti­schen Be­we­gun­gen der ge­ra­den Schul­tern – ja, so war es recht! Ro­sas Au­gen wur­den feucht und blick­ten vor sich hin in der ver­träum­ten Geis­tes­ab­we­sen­heit der Frau­en, die sich wohl­füh­len und nur ih­rer Emp­fin­dung lau­schen.

Am­bro­si­us war des Ru­derns müde. »Wir kom­men auch so fort«, mein­te er, ord­ne­te sei­ne Kra­wat­te, warf Rosa eine kor­rek­te Kuss­hand zu, kreuz­te die Arme über den Ru­dern und sag­te ernst: »Ja, ich woll­te von un­se­ren An­ge­le­gen­hei­ten spre­chen. Es ist wirk­lich zu dum­m…«

»Jetzt nicht«, un­ter­brach ihn Rosa.

Ver­wun­dert blick­te Am­bro­si­us auf. Zum zwei­ten Mal schon kam die­ses bit­ten­de, wei­che: »Jetzt nicht.« Was war’s? Rosa saß ja da, als gin­ge sie die gan­ze Welt nichts an. Aber die Unan­nehm­lich­kei­ten, die La­nin ihm be­rei­te­te, wa­ren doch ge­wiss wich­tig ge­nug.

»Wie du meinst«, ver­setz­te er, zuck­te die Ach­seln, schwieg und dach­te nach. Was war es nur? Mach­te die Kahn­fahrt wirk­lich solch einen Ein­druck auf Rosa? Poe­tisch war es, ge­wiss; er hat­te aber den Kopf so voll von La­nin, dass er das ganz ver­ges­sen hat­te. Und Rosa? Teu­fel, war das Kind heu­te schön! Er be­gann das erns­te Ge­sicht­chen sorg­sam und gründ­lich zu stu­die­ren und freu­te sich dar­über, dass es sei­ne Bli­cke zu füh­len schi­en. Sah er auf die Lip­pen, dann lä­chel­ten sie, als stri­che je­mand sach­te mit ei­ner Fe­der über sie hin, schau­te er auf die Au­gen, dann zuck­ten die Wim­pern.

Die­se ge­fühl­vol­le Ver­sun­ken­heit im­po­nier­te Am­bro­si­us; er woll­te auch zei­gen, dass er poe­tisch ge­stimmt sei. »Sieh doch, Schatz«, rief er, »die rosa Wol­ke dort, wie blass sie ge­wor­den ist. Ich be­ob­ach­te sie schon lan­ge, sie wird im­mer blas­ser, sie stirbt. Wirk­lich, sie kommt mir vor wie eine jun­ge Dame, die lang­sam stirbt. Nicht wahr?« Rosa nick­te; sie fand es auch, dass die Wol­ke ei­nem ster­ben­den jun­gen Mäd­chen zu ver­glei­chen war. »Die Wol­ken be­ob­ach­ten«, fuhr Am­bro­si­us fort, »war von je­her mei­ne Pas­si­on, da konn­te ich stun­den­lang träu­men. Und dann – hast du be­merkt, wie die Stadt sich im Was­ser spie­gelt? Schau, da sieht man’s noch. Al­ler­liebst! Das dort ist das Koll­hardt­sche Haus; man soll­te mei­nen, es ste­he hart am Fluss, und doch ist es ein gu­tes Stück da­von. Eine rei­zen­de op­ti­sche Täu­schung! Ach ja, über­haupt die Na­tur, sie ist mei­ne ein­zi­ge Er­qui­ckung.«

Der Fluss mach­te eine schar­fe Bie­gung. Die Ufer wur­den flach, und dich­tes Er­len­ge­sträuch trat hart bis an das Was­ser her­an. Un­ter den Bäu­men däm­mer­te es be­reits, und die Ta­ges­schwü­le hielt hier län­ger stand. Zu­wei­len lang­te ein Zweig in den Kahn hin­ab und streif­te Ro­sas Wan­ge; die krau­sen, grau­grü­nen Blät­ter fühl­ten sich tro­cken und noch warm von der Son­ne an. Der Strom ver­lor hier sei­ne Kraft, kaum merk­lich be­weg­te sich der Kahn fort, und das Was­ser rings­um war, wie ein Teich, ru­hig und schwarz. Was­ser­spin­nen und Mücken zeich­ne­ten ihre Ara­bes­ken auf den dunklen Grund, die Ufer at­me­ten einen war­men Heu­ge­ruch aus, und die Luft war voll des durch­drin­gen­den Ge­klin­gels der som­mer­li­chen In­sek­ten.

»Hier ist’s gut.« Am­bro­si­us knöpf­te sich die Wes­te auf, streck­te sich im Boot aus, den Kopf auf die Bank ge­stützt, schau­te em­por und lach­te. »Wie das selt­sam ist, wenn man so em­por­schaut. Oh, oh, schwind­lig wird man. Es ist, als flö­gen vie­le klei­ne blan­ke Punk­te durch­ein­an­der, im­mer schnel­ler, im­mer schnel­ler.«

»So?« Rosa muss­te das auch se­hen. Ei­lig er­hob sie sich und streck­te sich ne­ben Am­bro­si­us hin. So la­gen sie bei­de auf dem Rücken, den Blick in das sanf­te Blau des Him­mels ver­lo­ren, und bei dem star­ren Em­por­schau­en zu dem lich­ten Rau­me wur­den sie von ei­nem an­ge­neh­men Ge­fühl des Schwin­dels ge­schüt­telt und ge­wiegt.

»Es ist, als hin­ge man frei in der Luft – ganz frei – – ganz – ganz«; Rosa wie­der­hol­te die­ses Wort, dehn­te es, ließ es klin­gen, »ganz… ganz«, als woll­te sie mit der Ein­tö­nig­keit ih­rer Stim­me der Uner­meß­lich­keit dort oben er­wi­dern,

»Willst du jetzt die Ge­schich­te hö­ren?« sag­te Am­bro­si­us plötz­lich.

»Wel­che?« ver­setz­te Rosa zer­streut.

»Wel­che? Wie kannst du so fra­gen? Ich mei­ne, ob du hö­ren willst, was Lan­ins ge­sagt ha­ben?«

»Ja – er­zäh­le dei­ne Ge­schich­te.«

»Mei­ne Ge­schich­te?«

Wirk­lich, sag­te Rosa das nicht, als gin­ge sie die gan­ze An­ge­le­gen­heit nichts an? Wo hat­te sie nur plötz­lich die­sen hoch­mü­ti­gen Pro­tek­ti­ons­ton her? Er rich­te­te sich auf und woll­te et­was sa­gen – schwieg aber und starr­te Rosa ver­wun­dert an. Wie ver­zückt lag sie da – die Au­gen weit auf­ge­ris­sen, die Lip­pen halb ge­öff­net, die Wan­gen heiß­rot und rings um sie auf der Bank das Flim­mern der blon­den Haa­re.

In Am­bro­si­us’ Au­gen reg­ten sich blan­ke gel­be Punk­te, er knie­te auf den Bo­den des Kah­nes nie­der, beug­te sich über Rosa und be­deck­te sie mit stür­mi­schen Lieb­ko­sun­gen, die ihr we­he­taten; an­fangs lach­te sie, noch halb be­wusst­los vom Em­por­star­ren, sie wehr­te sich nur matt und stieß kur­ze aus­ge­las­se­ne Rufe aus, wie ein Schul­mäd­chen, das sich mit sei­ner Ka­me­ra­din hetzt; plötz­lich aber ward sie ernst, stell­te sich ge­ra­de auf die Füße, strich sich das Haar aus dem hei­ßen Ge­sicht und sag­te lei­se: »O nein!«

 

»Nein – nein«, wie­der­hol­te Am­bro­si­us. Er knie­te noch auf dem Bo­den des Kah­nes, ließ die Arme schlaff nie­der­hän­gen und hob zu Rosa ein bö­ses und den­noch kläg­li­ches Ge­sicht auf, wie ein Kind, dem man sein Spiel­zeug fort­ge­nom­men hat. »Wa­rum nicht?« frag­te er. Rosa blick­te zur Sei­te und streif­te nach­denk­lich die Blät­ter von den Er­len­zwei­gen, end­lich lä­chel­te sie wie­der, strich die Fal­ten ih­res Klei­des glatt und setz­te sich auf die Bank. »Komm! Sei ver­nünf­tig! Er­zäh­le, was ha­ben Lan­ins ge­sagt?« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, nahm sei­ne Hän­de in die ih­ren und strei­chel­te sie: »Komm« – sie ver­such­te es, ihn an den Rockaufschlä­gen em­por­zu­ziehn. Er aber fand in ihr wie­der jene über­le­ge­ne Pro­tek­ti­ons­mie­ne, die ihn ver­droß und der er sich – er fühl­te es wohl – den­noch beu­gen muss­te. Seuf­zend ließ er sich em­por­zie­hen, ließ sich den Hut auf­set­zen und die Kra­wat­te zu­recht­rücken und nahm die ru­hi­ge, ein­schmei­cheln­de Zärt­lich­keit, die Rosa über ihn brei­te­te, mit der Wür­de ei­nes Pa­scha ent­ge­gen.

»Er­zäh­le also.«

Am­bro­si­us ließ sein welt­män­ni­sches Räus­pern hö­ren, um sich wie­der die vor­neh­me Hal­tung ei­nes erns­ten Kom­mis zu ge­ben, und lä­chel­te ver­ächt­lich: »Gott, Lan­ins! Ich küm­me­re mich ver­dammt we­nig dar­um, was die sa­gen!«

»Was ist denn ge­sche­hen?«

»Nun, ihre Ge­sich­ter wa­ren sau­er ge­nug. Ich sah sie erst beim Nacht­mahl. Der On­kel, die Tan­te und Sal­ly sa­ßen um den Tisch mit Ge­sich­tern – so trau­rig, als läge ein To­ter statt des Kalbs­bra­tens auf der Schüs­sel. Ich wur­de na­tür­lich sehr kühl emp­fan­gen, und wäh­rend des Es­sens sprach kei­ner; nur die Tan­te flüs­ter­te zwei, drei Mal: ›Nimm doch, Am­bro­si­us! Hier ist But­ter, Am­bro­si­us! Ich will, dass je­der Haus­ge­nos­se ge­nug hat – un­ter al­len Um­stän­den.‹ Gott, und wie sie das her­aus­brach­te! Scheuß­lich!«

»Und Sal­ly?« frag­te Rosa.

»Sal­ly war noch im­mer in ih­rer Nacht­ja­cke und mit den Knol­len. Sie war sehr er­hitzt; ich glau­be, sie hat­te ge­weint. Ap­pe­tit hat­te sie kei­nen, das weiß ich! Al­ler­hand klei­ne Spei­sen stan­den für sie ganz al­lein auf dem Tisch, und die Tan­te jam­mer­te: ›Kind iss, nimm da­von; es wird dir gut­tun.‹

Sal­ly aber schüt­tel­te nur den Kopf und seufz­te. Nicht um eine Mil­li­on, glau­be ich, hät­te sie vor mir einen Bis­sen über die Lip­pen ge­bracht. Das soll­te rüh­rend sein. Auf mich hat es gar kei­nen Ein­druck ge­macht. Ge­müt­lich war die Le­bens­la­ge nicht, das kannst du dir den­ken. Gleich nach dem Nacht­mahl woll­te ich ver­schwin­den, da flö­te­te die Tan­te: ›Lie­ber Am­bro­si­us, der On­kel hat mit dir zu spre­chen‹, da­bei schau­te sie den On­kel an, als woll­te sie sa­gen: ›Nun – marsch – vor­wärts.‹ Die dum­me Sal­ly nick­te dazu. Im Zim­mer des On­kels ging die Pre­digt an. Drei­vier­tel Stun­den hat er ge­spro­chen, ganz glatt. Ich glau­be, er hat­te es auf­ge­schrie­ben und aus­wen­dig ge­lernt. Was er da sag­te, habe ich na­tür­lich nicht be­hal­ten. Von der Wür­de des Hau­ses war die Rede, dann lob­te er sich selbst, end­lich die Sal­ly.«

»Von mir war nicht die Rede?«

»War­te nur, dann kam dei­ne Rei­he. ›Ei­ne jun­ge Per­son‹, sag­te er, ›die ih­rer ei­ge­nen Wür­de un­ein­ge­denk, mei­ner Seel’!‹ Er sag­te un­ein­ge­denk, wo der das nur her hat? ›Ei­ne Per­son, die wir aus dunklen Ver­hält­nis­sen in un­se­re Krei­se ge­zo­gen ha­ben, und zwar aus Mit­leid, hat dich zu ei­nem un­be­dach­ten Schritt ver­lei­tet. Ich hof­fe, du wirst ein­se­hen, dass die­se jun­ge Per­son, nach den letz­ten Er­eig­nis­sen, zu tief steht, um der ge­eig­ne­te Um­gang für den Nef­fen des Hau­ses La­nin zu sein. Ich hof­fe, du wirst ein­se­hen, dass das Un­mo­ra­li­sche ei­nes sol­chen Ver­hält­nis­ses dich kom­pro­mit­tiert, mich kom­pro­mit­tiert, uns kom­pro­mit­tiert.‹«

Am­bro­si­us ahm­te sei­nen On­kel ganz tref­fend nach, da­bei er­ließ er Rosa je­doch nichts von all den Be­lei­di­gun­gen, die Herr La­nin ge­gen sie aus­ge­sto­ßen hat­te. Vi­el­leicht war das eine Art Ra­che für die Pro­tek­ti­ons­mie­ne und für die Macht, die das Mäd­chen sich über ihn an­ge­eig­net hat­te. Aber als er be­merk­te, dass Ro­sas Au­gen vol­ler Trä­nen stan­den, ward er be­stürzt. »Du wirst doch nicht über sol­chen Un­sinn wei­nen?« rief er has­tig.

»Das könn­te mir ein­fal­len!« er­wi­der­te Rosa und lä­chel­te; die Trä­nen aber hör­ten nicht auf zu flie­ßen. Am­bro­si­us’ Er­zäh­lung be­trüb­te sie, es schi­en ihr, als er­nied­rig­ten Lan­ins Wor­te sie vor Am­bro­si­us, als könn­ten sie die­se von ihm tren­nen, und ohne ihn – was dann? Tra­ten die großen, schö­nen Er­eig­nis­se nicht ein, die sie er­war­te­te, an die sie fest glaub­te; ging Am­bro­si­us und ließ sie al­lein, oh, dann fie­len Lan­ins, Klappe­kahls – alle über sie her, hetz­ten und be­schimpf­ten und quäl­ten sie; dann wur­de sie eine nied­rig­ste­hen­de Per­son. Nein! Am­bro­si­us durf­te sie nicht ver­las­sen, auf ihn war ihr Le­ben ge­stellt – das ver­stand sie plötz­lich und um­klam­mer­te ihn fest. Am­bro­si­us war tief ge­rührt, es schmei­chel­te ihm, dass Rosa so lei­den­schaft­lich von ihm Be­sitz er­griff, und den­noch misch­te sich in die­ses Ge­fühl ein ge­wis­ses Ban­gen, wie es ein schwa­ches Ge­müt ei­nem kraft­vol­len Wil­len ge­gen­über emp­fin­det, dem es un­ter­lie­gen wird. »Wei­ne nicht, Ge­lieb­te«, sag­te er mit dem weichs­ten Ba­ri­ton­klang sei­ner Stim­me. »Wir hal­ten zu­sam­men. Ich be­schüt­ze dich, ich bin – hm – so­zu­sa­gen – dein ein und al­les.«

»Ja, Amby«, er­wi­der­te Rosa und küss­te ihn fest auf die Lip­pen. »Zeig, wie mach­te Sal­ly, als sie ihre klei­nen Spei­sen nicht es­sen moch­te?«

Un­ter den Er­len­stäm­men war es fins­ter ge­wor­den. Ein küh­ler Luft­zug flüs­ter­te in den Blät­tern, und hin­ter den Bäu­men er­schol­len lang­ge­zo­ge­ne Töne, ein rau­es, me­lan­cho­li­sches Ge­joh­le der heim­zie­hen­den Ar­bei­ter. »Jetzt fah­ren wir wei­ter«, schlug Rosa vor, und Am­bro­si­us mach­te sich mun­ter ans Ru­dern.

Jen­seits der Er­len­bü­sche ward der Fluss brei­ter, zu bei­den Sei­ten dehn­te sich fla­ches Land aus, ab­ge­mäh­te Wie­sen, hie und da ein Korn­feld, wie ein Stück gel­ber Sei­de, in der Fer­ne ein Dorf, in dem rote Licht­pünkt­chen er­wach­ten. Im­mer mehr wei­te­te der Fluss sich aus. Die Blät­ter der Was­ser­ro­sen bil­de­ten blan­ke In­seln auf dem Was­ser, oder eine Ge­sell­schaft von Schach­tel­hal­men stand bei­ein­an­der – vie­le dün­ne grü­ne Li­ni­en. Das Ge­wir­re der Pflan­zen nahm zu. Was­ser­i­ris, Kal­mus­stau­den, Kol­ben­rohr ge­sell­ten sich zu den Schach­tel­hal­men und Was­ser­ro­sen, der gan­ze Fluss war nur noch ein wei­tes Feld für die­se wun­der­li­chen Hal­me, al­ler­ort spit­ze, zit­tern­de Blät­ter und Sten­gel, weit – weit – bis dort an die Wie­se, die vol­ler Ver­giss­mein­nicht und Ried stand.