Der Frosch mit der Maske

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8

War es nicht Torheit, von dem kommenden Sonntag zu träumen, von dieser Stimme, von diesem Mädchengesicht?

Dick hatte Schönere schon bewundert, Stolzere, oder solche, aus denen eine launisch fesselnde Seele sprach. Aber was ihn bewegte, wenn die Erinnerung diese zarten Züge widerspiegelte, war anderes, war mehr. Noch nie hatte er einen Sonntag so ungeduldig herbeigesehnt.

Als er mit einem Lächeln der Erwartung das Tor des Gartenzaunes öffnete, sah er die rundliche Gestalt des philosophischen Johnson in einem Gartenstuhl ausgestreckt. Der Sekretär erhob sich, um ihm mit einem Ausdruck unendlichen Wohlwollens die Hand zu reichen.

»Ray sagte mir, daß Sie kommen würden, Hauptmann Gordon. Er ist mit Fräulein Bennett im Obstgarten, und wie ich aus einem gelegentlichen Blick entnehmen konnte, bekommt er gerade eine Gardinenpredigt.«

»Geht er nicht mehr ins Büro?« fragte Dick.

»Ich fürchte, es ist für immer aus.« Johnsons Gesicht wurde traurig. »Ich selbst mußte es ihm sagen. Der Alte hatte es herausgefunden, daß er weggeblieben war, und durch irgendein höchst listiges und unterirdisches Nachrichtensystem hat er erfahren, daß Ray ein unsolides Leben führt. Er ließ einen Buchsachverständigen kommen, um die Bücher nachzusehen, aber die waren, Gott sei Dank, alle in bester Ordnung. Ich bin selber beinahe hinausgeflogen.«

»Wissen Sie vielleicht, wo Maitland wohnt?« fragte Dick langsam, »und in welcher Umgebung? Besitzt er ein Haus in der Stadt?«

Johnson lächelte. »Ja gewiß«, sagte er sarkastisch. »Erst vor einem Jahr habe ich entdeckt, wo es liegt, und bis jetzt habe ich es noch keiner Seele gesagt. Der alte Maitland wohnt in einer Gegend, die beinahe ein Elendsquartier zu nennen ist. Er wohnt schlecht, ganz so ärmlich wie ein Arbeitsloser. Und dabei besitzt er Millionen. Er lebt mit seiner Schwester. Sie besorgt den Haushalt und hat wohl nicht viel Arbeit damit. Nie habe ich gesehen, daß Maitland auch nur einen Penny für sich ausgab. Er trägt den gleichen Anzug seit dem Tag, an dem ich zu ihm kam. Zu Mittag nimmt er ein Glas Milch und eine Zwei-Pence-Semmel zu sich und versucht manchmal, mich dahin zu bringen, sie für ihn zu bezahlen.«

»Sagen Sie mir, Herr Johnson, warum der Alte Handschuhe im Büro trägt?«

Johnson schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Früher dachte ich, daß es nur geschieht, um die Narbe auf seinem Handrücken zu verdecken, aber er ist nicht der Mann, der deswegen Handschuhe tragen würde. Seine Arme sind bis zur Schulter hinauf mit Kronen und Ankern und Delphinen tätowiert.«

»Vielleicht auch mit Fröschen?« fragte Dick.

»Nein, einen Frosch habe ich noch nie an ihm gesehen. Ein Bündel von Schlangen ist auf sein Handgelenk tätowiert, das habe ich gesehen. Mein Gott, Maitland wird doch nicht etwa ein Frosch sein?«

»Das möchte ich selber nur zu gerne wissen«, meinte Dick.

»Ich würde ihn für gemein genug halten, um sogar ein Frosch oder etwas Ähnliches zu sein«, sagte Johnson.

In diesem Augenblick kamen Ray und seine Schwester heran. Ray sah düster drein, und der Anblick Gordons schien ihn nicht heiterer zu stimmen. Ellas Wangen waren gerötet, und sie war sehr erregt.

»Hallo, Gordon«, begann Ray ohne Einleitung. »Sie sind es wohl gewesen, der meiner Schwester Geschichten über mich zugetragen hat. Und Sie haben Elk beauftragt, mich auszuspionieren. Ich weiß es, denn ich habe Elk gerade dabei getroffen, wie er ...«

»Ray, du darfst nicht so zu Hauptmann Gordon sprechen«, unterbrach ihn seine Schwester. »Er hat nie etwas Nachteiliges über dich erzählt. Was ich weiß, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Und dann scheinst du zu vergessen, daß Herr Gordon Papas Gast ist.«

»Jedermann macht solches Aufsehen meinetwegen«, brummte Ray. »Sogar der alte Johnson.« Er schlug dem Philosophen auf die Schulter.

»Man hat wohl seine Sorgen mit Ihnen, mein Junge«, sagte Philo.

Die Situation entspannte sich erst, als John Bannett mit der Kamera auf dem Rücken den roten Gartenweg heraufkam.

»Ach, Herr Johnson, ich muß mich vielmals bei Ihnen entschuldigen, weil ich den Tag Ihres Besuches bei uns so oft verschieben mußte. Aber ich freue mich unendlich, Sie hier zu sehen. Wie ist man bei Ihnen im Büro mit Ray zufrieden?«

Johnson warf einen hilflosen und ausdrucksvollen Blick auf Gordon. »Oh, so ziemlich, Herr Bennett«, stotterte er.

Ein Gefühl des Unbehagens überkam Dick, als er begriff, daß Herr Bennett nichts von dem neuen Beruf seines Sohnes erfahren durfte. Auch Johnson schien diese Tatsache mit Missvergnügen zu erfüllen, und nach dem in etwas gedrückter Stimmung verbrachten Mittagessen, als die beiden im Garten allein waren, schüttete der ehrenwerte Mann Dick sein Herz aus. »Ich schäme mich, weil ich den alten Bennett betrüge. Ray hätte es ihm sagen müssen.«

Dick vermochte ihm nur beizupflichten. Des jungen Mannes zornige Selbstsicherheit irritierte ihn, und es war niederdrückend für ihn, dieser plötzlichen und unverhüllten Feindschaft, die Ellas Bruder ihm entgegenbrachte, zu begegnen.

Er entdeckte, was viele verliebte junge Männer entdecken müssen, daß die Gloriole ihrer Liebsten nicht auch Verwandte und Freunde mit gleichem Lichte bestrahlt. Und er entdeckte auch, daß der rundliche Herr Johnson genau wie er selbst von ganzem Herzen in das Mädchen verliebt war. In ihrer Gegenwart war Johnson nervös und zerstreut. Er schien unglücklich, wenn sie fortging und noch viel unglücklicher, als Dick später ihren Arm nahm und sie in den Rosengarten führte, der hinter dem Haus lag.

»Ich weiß nicht, was dieser Mensch hier zu suchen hat«, sagte Ray wild, als die beiden verschwunden waren. »Er gehört nicht zu unserer Klasse, und er haßt mich.«

»Ich kann mir nicht denken, daß er Sie haßt, Ray«, sagte Johnson und erwachte aus seinem unglücklichen Brüten. »Er ist doch ein liebenswürdiger Mensch.«

»Unsinn!« sagte der andere verächtlich. »Er ist ein Snob. Er ist vor allem ein Polizeimann, und ich hasse diese Spitzel. Sie können mir glauben, daß er sich hoch erhaben über das dünkt. Aber ich bin ebenso viel wie er, und ich wette, daß ich viel mehr Geld verdiene als er.«

»Geld ist nicht alles«, sagte Johnson mürrisch. »Mit welcher Arbeit sind Sie denn jetzt eigentlich beschäftigt, Ray?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Ray geheimnisvoll. »Ich konnte es auch Ella nicht sagen, obgleich sie stundenlange Verhöre mit mir angestellt hat. Es gibt eben Geheimnisse, über die man als Geschäftsmann nicht sprechen kann.«

Herr Johnson schwieg. Er dachte an Ella.

In der Abgeschlossenheit des Rosengartens erzählte Ella Gordon von ihren Befürchtungen.

»Ich fühle, daß Vater alles erraten hat. Er war fast die ganze letzte Nacht aus. Ich blieb wach, bis er zurückkam, und er war entsetzlich blaß. Er hat mir erzählt, daß er die ganze Zeit umhergewandert ist, und nach dem Schmutz auf seinen Stiefeln zu schließen, muß es wohl wahr sein.«

»Wenn ich auch nur wenig über Herrn Bennett weiß«, sagte Dick, »so glaube ich doch nicht, daß er der Mann ist, der schweigend dulden würde, wo es sich um Ihren Bruder handelt. Ich könnte mir eher einen höchst unliebsamen Auftritt vorstellen. – Warum ist Ihr Bruder so unfreundlich gegen mich?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ray ist plötzlich ganz verändert. Das neue Leben richtet ihn zugrunde. Warum hat er denn nur einen falschen Namen angenommen, wenn wenn er einem ehrlichen Beruf nachgeht?«

Sie hatte aufgehört, ihn mit »Herr Gordon« anzusprechen. Der Kompromiss, ihn nicht bei seinem Namen zu nennen, machte Dick jubeln, denn er erkannte wohl, daß es ein Kompromiss war. Der Tag war warm und der Himmel wolkenlos. Ella servierte den Tee auf dem Rasenplatz, und sie fand in Johnson und Dick zwei eifrige Helfer. Die Haltung des Jungen blieb weiter feindlich, und nach ein paar flüchtigen Versuchen, ihn umzustimmen, gab es Dick auf. Auch die Gegenwart des Vaters, der den Nachmittag hindurch der Gesellschaft ferngeblieben war, brachte nun keine Wendung zum Bessern.

»Das Schlimmste an dem Beruf eines Staatsanwaltes ist wohl«, warf er in die mühsame Unterhaltung bei Tisch ein, »daß er diesen Beruf nie abzustreifen vermag. Vermutlich vermerken auch Sie die belanglosesten Gespräche für später in Ihrem Gedächtnis.«

Dick legte gemächlich ein dünnes Butterbrot zusammen, bevor er antwortete.

»Ich habe sicherlich ein gutes Gedächtnis. Es hilft mir auch, mich in schwierigen und unangenehmen Situationen ruhig zu verhalten.«

Plötzlich wendet Ray sich um. »Seht nur«, rief er triumphierend, »dort steht das Oberhaupt seiner Spione. Sein getreuer Elk.« Dick war verblüfft. Er hatte Elk auf einer neuen Froschspur verlassen, der jener nach dem Norden zu folgen im Begriffe war. Und nun stand Elk hier, die Hände um die Stäbe des Gartentores gelegt, das Kinn auf die Brust gesenkt und blickte über seine Augengläser hinweg traurig nach der Gruppe.

»Darf ich hereinkommen, Herr Bennett?« fragte er. Bennett nickte.

»Ich bin ganz zufällig hier in die Nähe gekommen, und es fiel mir ein, Sie zu besuchen. Guten Abend.«

»Gib Sergeant Elk deinen Stuhl«, sagte John Bennett mürrisch zu Ray.

»Inspektor!« verbesserte der Detektiv. »Es ist merkwürdig, wie viele Leute sich einbilden, daß ich Sergeant bin. Nein, danke, ich möchte lieber stehenbleiben.«

»Ihre Beförderung hat wohl eine ganze Menge von Gaunern in Angst versetzt, Elk?« spottete Ray.

»Ach ja, besonders die Amateure«, sagte Elk. »Sonst«, gestand er bescheiden, »hat die Neuigkeit keinerlei Sensation hervorgerufen, denn London ist gerade jetzt so voll wie noch nie von Geschichtenerzählern, die Millionen unter die Armen ausstreuen wollen, wenn man ihnen nur zuerst hundert Pfund leihen wollte, um ihnen sein Vertrauen zu beweisen. Es gibt auch viele lumpige Preisboxer, die von Erpressungen und Räubereien leben, und fast ebenso viele schöne junge Damen gibt es, die Spielsalons und Tanzlokale leiten.«

 

Rays Gesicht wurde tiefrot, und wenn Blicke töten könnten, so würden Inspektor Elks Freunde an diesem Abend wohl nur mehr im Flüsterton von ihm gesprochen haben. Aber Elk wendete seine Aufmerksamkeit nun Dick zu.

»Herr Hauptmann, ich hätte gern gewußt, ob ich nächste Woche einen Tag freibekommen könnte? Ich habe eine kleine Familienunannehmlichkeit.«

Dick, der nicht gewußt hatte, daß sein Freund überhaupt eine Familie hatte, war überrascht. »Das tut mir leid«, sagte er.

Elk seufzte. »Ja, es ist etwas sehr Schweres für mich«, sagte er. »Ich möchte es Ihnen gerne erzählen. Wollen Sie uns für einen Augenblick entschuldigen, Fräulein Bennett?«

Dick erhob sich und folgte dem Detektiv an das Tor. Und dann sagte Elk hastig und leise: »Um ein Uhr morgens ist in Lord Farmleys Haus eingebrochen worden, und die Frösche sind mit der Kopie des Vertrages auf und davon gegangen.«

Ella beobachtete verstohlen Dicks Gesicht, aber es hatte nicht den Anschein, als habe Elks Geheimnis irgendwelchen Eindruck auf ihn gemacht. Er kam langsam zum Tisch zurück.

»Ich fürchte, ich werde nun gehen müssen«, sagte er. »Elks Angelegenheiten erfordern meine Anwesenheit in der Stadt.«

Ihn traf ein Blick des Bedauerns aus Ellas Augen, der ihn für den Verlust vieler Stunden entschädigte. Sie beschleunigten Abschied und Abfahrt. Im Auto begann Elk zu erzählen.

»Lord Farmley hat das Wochenende in seinem Stadthaus verbracht. Er hat an zwei neuen Klauseln gearbeitet, die auf die privaten Vorstellungen des amerikanischen Gesandten hin eingeschaltet worden waren. Dieser hatte, wie gewöhnlich, eine beobachtende Haltung eingenommen, und es war ihm, gleichfalls wie gewöhnlich, gelungen, sich die für sein Land wünschenswerte Verbesserung einer Klausel zu sichern, die von Schiffstransporten handelte. Lord Farmley hatte das Dokument in den Safe gelegt, der ein ›Cham‹-Fabrikat der letzten Erfindung und in die Wand seines Arbeitszimmers eingebaut ist. Er hat die Stahltüren zweimal versperrt, die Alarmanlage eingeschaltet und ist dann zu Bett gegangen. Erst nach dem Mittagessen hatte er wieder Gelegenheit gehabt, den Safe zu öffnen. Allem Anschein nach waren dessen Türen nicht berührt worden. Der Minister steckte, als er nach dem Essen wieder an dem Vertrag arbeiten wollte, den Schlüssel ins Schloß und entdeckte, während er ihn umdrehte, daß die Schlüsselbärte keinen Widerstand fanden. Er berührte den Handgriff, und dieser ließ sich leicht herausziehen. Der Safe war offen, und der Vertrag fehlte.«

»Wie sind sie in das Haus gekommen?«

»Durch das Speisekammerfenster. Die Speisekammern der Haushofmeister sind gerade von einem Einbrecherarchitekten erfunden worden«, meinte Elk. »Es war eine saubere Arbeit. Die feinste, die ich seit zwanzig Jahren gesehen habe, und nur zwei Männer auf der ganzen Welt gibt es, die dergleichen machen können. Keine Fingerabdrücke, keine in den Safe gesprengten häßlichen Löcher, alles nett und wunderbar schön gemacht.«

»Ich hoffe, daß Lord Farmley ebenso viel Befriedigung über diese Handfertigkeit empfunden hat wie Sie«, antwortete Dick grimmig. Und Elk schnupfte. »Er war nicht zum Lachen aufgelegt«, sagte er. »Wenigstens nicht, als ich wegging.«

Seine Lordschaft war auch um nichts heiterer, als Elk zurückkehrte.

»Das ist doch schrecklich, schrecklich, Gordon! Wir halten heute Abend eine Kabinettssitzung über den Fall ab. Der Ministerpräsident ist nur deshalb in die Stadt zurückgekommen. Es bedeutet ja den politischen Ruin für mich.«

»Glauben Sie, daß die Frösche dafür verantwortlich gemacht werden können?« fragte Dick.

Lord Farmleys Antwort bestand darin, daß er die Tür des Safes öffnete. Auf der Innenwand war ein weißer Abdruck zu sehen, genau der gleiche Abdruck, den Elk am Türpaneel von Herrn Broads Wohnung gefunden hatte. Es war für einen Nicht-Experten fast unmöglich, zu entdecken, wie der Safe geöffnet worden war. Elk erklärte die Arbeit. Sie hatten zuerst den Handgriff herausgenommen und waren so imstande gewesen, das Schloß durch einen wirksamen Sprengstoff zu zerstören, den niemand im ganzen Haus gehört hatte.

»Sie haben einen Schalldämpfer benutzt«, meinte Elk. »Ich sage Ihnen, nur zwei Männer auf der Welt können das gemacht haben.«

»Und wer sind die?«

»Der junge Harry Lyme ist der eine. Er ist seit Jahren tot. Und Saul Morris ist der andere. Und Saul ist auch tot.«

»Da aber die Arbeit offensichtlich nicht von zwei Toten herstammt, so wäre es doch wohl ratsam, an einen Dritten zu denken«, sagte Seine Lordschaft mit verzeihlicher Erregung. Elk schüttelte langsam den Kopf.

»Es muß wohl ein Dritter sein und der Klügste der ganzen Bande«, ließ er seine Gedanken laut werden. »Ich kenne die ganze Kompanie. Wal Cormon, Georg, die Ratte, Billy Harp, Ike Velleco, Pheeny Moore, und ich möchte einen Eid leisten, daß es keiner von ihnen war. Das ist Meisterarbeit, Exzellenz. Die Arbeit eines großen Künstlers, wie wir ihr heutzutage nur selten begegnen.«

Lord Farmley, der so geduldig wie möglich dieser Rhapsodie zugehört hatte, schritt aus dem Arbeitszimmer und ließ die beiden Männer allein.

»Herr Hauptmann«, sagte Elk, als er die Tür hinter dem Lord geschlossen hatte, »wissen Sie vielleicht, wo der alte Bennett in der letzten Nacht war?« Elks Ton war leicht, aber Dick fühlte die Bedeutung der Frage, die dahinter lag, und im Augenblick wußte er, daß Ella ihm viel teurer geworden war, als er je geahnt hatte.

»Er war fast die ganze Nacht hindurch auswärts«, antwortete er. »Fräulein Bennett sagte mir, daß er am Freitag wegging. Und er ist heute morgen bei Tagesgrauen wieder zurückgekehrt. Warum fragen Sie danach?« Dick räusperte sich erwartungsvoll.

Elk entnahm seiner Tasche ein Papier, entfaltete es langsam und setzte seine Brille auf. »Ich habe von einem meiner Leute Notizen über Bennetts Abwesenheit von seinem Haus machen lassen«, sagte er. »Es war ein leichtes, denn die Frau, die jeden Morgen hingeht, um im Haushalt zu helfen, hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er ist im vergangenen Jähr fünfzehnmal ausgeblieben, und jedesmal, sooft er fortblieb, ist irgendwo ein ganz großer Einbruch verübt worden.«

Dick atmete tief. »Und was ist Ihre Meinung darüber?« fragte er.

»Ich meine«, sagte Elk entschieden, »daß, wenn Bennett für sein Wegbleiben am Samstagabend keine Erklärung findet, ich ihn verhaften lassen werde. Ich habe weder Saul Morris noch den jungen Harry Lyme kennengelernt, sie lebten, bevor ich große Arbeiten zugewiesen bekam. Aber wenn nicht alles trügt, so ist Saul Morris nicht so tot, wie er es von Rechts wegen sein sollte. Ich fahre jetzt zurück, um Bruder Bennett zu besuchen, und vielleicht werden wir ein bißchen Auferstehung spielen.«

9

John Bennett arbeitete frühmorgens in seinem Garten, als Elk erschien und sofort auf den wichtigsten Punkt zu sprechen kam. »In der Wohnung Lord Farmleys ist zwischen Samstag nacht und Sonntag morgen ein Einbruch verübt worden, dem Anschein nach zwischen zwölf und drei Uhr. Der Safe war aufgesprengt und ein wichtiges Dokument gestohlen. Ich frage Sie, ob Sie Ihr Ausbleiben von Samstag auf Sonntag rechtfertigen können?«

Bennett sah dem Detektiv gerade in die Augen. »Ich kam aus der Stadt. Um zwei Uhr sprach ich mit einem Polizisten in Dorking. Um Mitternacht war ich in Kingsbridge, wo ich wieder mit einem Polizisten sprach. Der Mann in Dorking ist Amateurfotograf wie ich selbst.«

Elk überlegte. »Mein Auto ist hier, möchten Sie vielleicht mit mir kommen und mit den beiden sprechen?« schlug er vor. Und zu seiner Überraschung war Bennett sofort damit einverstanden. In Dorking entdeckten sie ihren Mann. Er wollte gerade aus dem Dienst gehen.

»Ja freilich, Herr Inspektor, ich erinnere mich genau, mit Herrn Bennett gesprochen zu haben. Wir haben über Tierfotos diskutiert.«

»Wissen Sie genau, um welche Zeit es war?«

»Absolut genau! Um zwei Uhr visitiert mich der Patrouillensergeant, und er kam gerade herauf, als wir miteinander plauderten.«

Der Patrouillensergeant, den Elk aus dem Morgenschlaf weckte, bestätigte die Aussage. Das Resultat der Nachforschung in Kingsbridge war das gleiche. Elk ließ das Auto nach Horsham zurückfahren.

»Ich entschuldige mich nicht bei Ihnen, Herr Bennett«, sagte er. »Sie kennen meine Arbeit genug, um meine Stellung zu würdigen.«

»Ich beklage mich nicht«, sagte Bennett mürrisch. »Pflicht ist Pflicht. Aber ich habe doch das Recht zu erfahren, warum Sie von allen Menschen in der Welt gerade mich verdächtigen?« Elk brachte das Auto zum Halten.

»Gehen wir auf der Straße weiter«, sagte er. »Ich kann so besser reden.«

Sie stiegen aus und gingen eine Weile, ohne zu sprechen.

»Bennett, Sie stehen aus zwei Gründen unter Verdacht. Sie sind ein geheimnisvoller Mann, denn niemand weiß, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie haben kein eigenes Einkommen. Sie haben keine Beschäftigung, und in ungleichen Zwischenräumen verschwinden Sie vom Hause, und niemand weiß, wohin Sie gehen. Wären Sie ein jüngerer Mann, so würde ich Sie verdächtigen, daß Sie ein Doppelleben im gewöhnlichen Sinn führen. Aber Sie sind nicht von dieser Art. Das ist der verdächtige Umstand Nummer eins. Nummer zwei ist folgendes: Sooft Sie verschwinden, geschieht irgendwo ein großer Einbruch, und ich bin der Meinung, daß es Froscheinbrüche sind. Ich will Ihnen meine Theorie klarlegen. Die Frösche sind doch gewöhnlich letzte Klasse. Es ist nicht genug Hirn in der ganzen Bande, um eine mittelgroße Nuss auszufüllen. Aber ich garantiere Ihnen, höher oben sitzen die Gescheiten. Dazu gehören aber nicht die regulären Kerle, die von Verbrechen leben. Solche Jungen haben keine Zeit für so etwas. Sie machen den Plan und führen ihn aus, oder sie werden erwischt. Wenn sie eine Beute machen, so teilen sie sie. Und sitzen dann in Cafés mit Mädels herum, bis alles zerronnen ist und sie wieder von neuem anfangen müssen. Aber die Frösche unterhalten sicher gern ein paar gute Leute, die außerhalb der Organisation stehen und Extradienste leisten.«

»Und Sie meinen, ich wäre einer von diesen guten Leuten?«

»Genau das habe ich gemeint. Der Einbruch im Haus des Lord Farmley ist von einem Experten ausgeführt worden. – Es sieht ganz nach Saul Morris aus.«

Elks scharfe Augen durchforschten Bennetts Gesicht, aber kein Zucken verriet dessen Gedanken.

»Ich erinnere mich an Saul Morris«, sagte Bennett langsam. »Ich habe ihn nie gesehen, aber von ihm gehört. Sah er mir ähnlich?«

Elk schürzte die Lippen, und sein Kinn sank auf die Brust herab. »Wenn Sie überhaupt etwas über Saul Morris wissen«, sagte er langsam, »so wissen Sie auch, daß er niemals der Polizei in die Hände geraten ist, daß ihn niemals jemand gesehen hat, außer seiner eigenen Bande, und ihn also niemand je wiedererkennen kann.«

Es herrschte ein langes Schweigen. Auf ihrem Weg zum Auto sprach Bennett wieder.

»Ich trage Ihnen nichts nach, meine Handlungsweise ist verdächtig. Aber ich habe guten Grund dafür. Was die Einbrüche betrifft, so weiß ich nichts darüber. Das würde ich zwar auf jeden Fall sagen, ob ich es nun wüßte oder nicht. Ich bitte Sie nur, meiner Tochter nichts von dieser Angelegenheit zu sagen.«

Ella stand an der Gartentür, als das Auto herankam, und bei Elks Anblick schwand das Lächeln von ihrem Gesicht. Elk fühlte instinktiv, daß der Gedanke an ihren Bruder und die Schwierigkeiten, in die jener geraten sein mochte, den Grund ihrer Befürchtungen bildeten.

»Herr Elk ist herübergekommen, um ein paar Fragen wegen des Überfalls auf Herrn Gordon zu stellen«, sagte ihr Vater kurz. Elk dachte, daß er ein schlechter Lügner sei.

Sowie sie allein waren, fragte Ella ihn: »Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Elk?«

»Nicht im geringsten, Fräulein. Ich bin nur hierhergekommen, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Ist Ihr Bruder wieder in der Stadt?«

»Er ist gestern Abend zurückgefahren«, sagte sie und fügte fast trotzig hinzu: »Er ist jetzt wirklich in einer sehr guten Stellung.«

»Das habe ich schon mehrfach gehört«, sagte Elk. »Ich hoffe nur, daß er nicht in demselben Geschäft arbeitet wie die andern, die mit ihm sind; Aber Sie können ganz ruhig sein, ich lasse ihn nicht aus den Augen, Fräulein Bennett«, sagte er.

 

Am Abend gestand der Detektiv Dick in höchster Niedergeschlagenheit seinen Irrtum. »Ich weiß nicht, wieso ich auf Bennett verfiel«, sagte er. »Mir scheint, meine Jugendeseleien beginnen wieder. Ich sehe, daß die Abendzeitungen den Diebstahl schon gebracht haben.«

»Aber sie wissen nicht, was gestohlen wurde«, sagte Dick. »Das muß geheimgehalten werden.«

Sie befanden sich im inneren Büro, das Dick nur zeitweilig benützte. In seinem nebenanliegenden Arbeitsraum waren zwei Tischler beschäftigt. Sie erneuerten die Wandtäfelung, die bei dem Attentat auf Dick von der durchs Fenster eindringenden Kugel beschädigt worden war. Es war symptomatisch für die Wirkung, die die Frösche auf die Polizeidirektion ausübten, daß beide Männer mechanisch nach einer Tätowierung auf dem linken Arm der Arbeiter ausgespäht hatten. Der Anblick des beschädigten Paneels brachte Elks Gedanken auf einen Vorfall, der ihn schon lange beschäftigte. Trotz der steten Beobachtung, unter der der Landstreicher Carlo gestanden hatte, und trotz aller angewandten Vorsichtsmaßregeln war er verschwunden, und den gemeinsamen Anstrengungen der Polizeidirektion und der Landpolizei war es nicht gelungen, seine Identität festzustellen. Das war Gordons wunder Punkt, wie Elk mit Recht äußerte. Denn Carlo schien die berühmte Nummer Sieben zu sein, nach dem Frosch selbst der wichtigste Mann der Organisation.

»Es nützt nicht viel, wenn wir einen anderen Mann hinausschicken, um Genters Rolle weiterzuspielen. Das System funktioniert nicht zweimal. Ob wohl Lola etwas darüber wüßte?«

»Ich glaube nicht, daß die Frösche einer Frau trauen«, sagte Dick.

Sie verbrachten den Rest des Tages mit fruchtlosen Untersuchungen. In sein Zimmer in der Polizeidirektion zurückgekehrt, saß Elk lange reglos und zusammengekauert in einem Sessel, die Hände in den Hosentaschen vergraben, geistesabwesend auf seinen Schreibblock starrend. Dann rief er seinen Assistenten Balder herein.

»Gehen Sie zum statistischen Büro und bringen Sie mir alles über jeden Safe-Einbrecher, der im Land bekannt ist. Sie brauchen sich nicht um die französischen oder deutschen zu kümmern, aber es gibt ein oder zwei Schweden, die höchst geschickt mit der Lampe umgehen können. Und dann sind natürlich noch die Amerikaner da.«

Nach einer langen Pause kam Balder mit einem beträchtlichen Stoß von Papieren, Fotografien und Fingerabdrücken wieder.

»Sie können gehen, Balder. Der Mann, der den Nachtdienst hat, kann das wieder zurücktragen.«

Elk machte es sich bei seiner angenehmen Nachtlektüre gemütlich. Er hatte fast den ganzen Stoß durchgeprüft, als er auf das Bild eines jungen Mannes mit herabfallendem Schnurrbart und lockigem Haar stieß. Es war eine jener scharfen Aufnahmen, wie sie die unromantischen Polizeibeamten aufnehmen, und zeigte jegliche Unebenheit der Haut. Unter der Fotografie war der Name sorgfältig gedruckt: »Henry John Lyme R. V.«

»R. V.« war der Gefängniskodex. Jedes Jahr von 1894 bis 1919 war mit einem Großbuchstaben des Alphabets bezeichnet. Dann kamen die Kleinbuchstaben. Das große R bedeutete, daß Henry John Lyme im Jahre 1911 zu Zuchthaus verurteilt worden war, das V, daß er eine weitere Zeit im Jahre 1915 im Gefängnis verbracht hatte. Elk las den schrecklichen und kurzen Bericht.

Im Jahre 1893 in Guernsey geboren, war der Mann sechsmal verurteilt worden, bevor er noch sein zwanzigstes Jahr vollendet hatte. Die geringeren Haftjahre werden nicht mit Buchstaben im Kodex bezeichnet. In dem Raum am Fuß des Abschnittes, wo besondere Einzelheiten des Verbrechers angemerkt werden, standen die Worte: »Gefährlich, führt Schießwaffen mit sich.« In einer anderen Schrift und mit roter Tinte, mit der man gewöhnlich die Karriere eines Verbrechers abschließt, stand darunter: »Zur See gestorben, Channel Queen, 1. Februar 1918.« Elk erinnerte sich an den Schiffbruch des Guernsey-Postpaketbootes auf den Black Rocks. Er wendete die Seite um, um Genaueres über die Verbrechen des Toten zu lesen und die Erklärungen derjenigen, die zeitweilig in amtlichem Verkehr mit ihm standen. In diesen Abschnitten war die wahre Biographie zu lesen. »Arbeitet allein«, war die eine Anmerkung. Und dann: »Ist nie mit Frauen gesehen worden.« Eine dritte Anmerkung war schwer zu entziffern, aber als Elk die schlechte Schrift gemeistert hatte, erhob er sich in seiner Aufregung halb vom Sessel: »Zu den körperlichen Kennzeichen im allgemeinen hinzuzufügen: D. C. P. 14 Frosch tätowiert linkes Gelenk, neu I. I. M.«

Das Datum, an dem dies geschrieben war, war das der letzten Haft des Verbrechers. Elk drehte das Gedruckte D. C. P. 14 um und fand, daß es ein Formular war, betitelt: »Beschreibung des Häftlings.« Die Zahl war die Klassifikation. Von tätowierten Fröschen war nichts erwähnt. Der Schreiber war nachlässig gewesen. Wort für Wort las er die Beschreibung.

»Harry John Lyme, a. Jung Harry, a. Thomas Martin, a. Boy Piece, a. Boy Harry. (Es standen da fünf Zeilen solcher »Alias«.) Einbrecher, gefährlich, trägt Schusswaffen, Höhe fünf Fuß, sechs Zoll, Brustumfang 38. Teint frisch. Augen grau. Zähne gut. Mund regelmäßig. Grübchen im Kinn. Nase gerade. Haare braun, wellig, sehr lang. Gesicht rund. Schnurrbart herabfallend, trägt Koteletten. Hände und Füße normal, am linken Fuß das erste Glied der kleinen Zehe infolge eines Unfalls amputiert, königliches Gefängnis Portland. Spricht gut, schöne Handschrift, keinerlei Steckenpferd. Raucht Zigaretten, gibt sich für einen öffentlichen Beamten aus. Steuereinnehmer, Sanitätsinspektor, Gasmann oder Installateur. Sprich fließend Französisch und Italienisch. Trinkt nie, spielt Karten, ist aber kein Spieler. Lieblingsverstecke Rom oder Mailand. Keine Verurteilungen außer Landes. Keine Verwandten. Ausgezeichneter Organisator. Unmittelbar nach einem Verbrechen suche man ihn in einem guten Hotel in Mittelengland oder auf dem Weg nach Hüll zu holländischen oder skandinavischen Schiffen. Man weiß, daß er Guernsey besucht hat. . .«

Hierauf folgten nur noch die genauen Maße und körperlichen Merkmale, denn es war in den Tagen, bevor das Fingerabdrucksystem eingeführt worden war. Des Frosches auf dem linken Handgelenk ward keinerlei Erwähnung mehr getan. Elk tauchte die Feder ein und fügte die fehlenden Daten hinzu. Dann schrieb er: »Dieser Mann mag noch am Leben sein«, und unterzeichnete dies mit seinen Initialen.

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