SINFONIE DER SCHMERZEN

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4

»Schönen Feierabend, Herr Heitzer.«

Er erwiderte den Abschiedsgruß der Dame am Empfang, deren Namen er nicht kannte, und verließ das Gebäude, in dem die Zentralverwaltung des Versicherungskonzerns ihren Sitz hatte, in dem er arbeitete, durch die Drehtür. Vor dem eindrucksvollen, turmhohen Gebäude wandte er sich nach links und ging mit flotten, energischen Schritten zum Parkplatz.

»Schönen Feierabend, Christian.«

Er wandte den Kopf und sah einen Kollegen aus dem Aktuariat, wo er als Mathematiker finanzielle Risiken und Unsicherheiten des Versicherungsgeschäfts analysierte und zu minimieren versuchte. Er konnte sich gerade nicht an den Vornamen des Mannes erinnern, deshalb hob er nur die Hand und rief: »Wünsch ich dir auch. Bis morgen dann.«

Der andere nickte und stieg in einen silbernen BMW, während er selbst noch ein paar Meter zu gehen hatte, bevor er den schwarzen Audi erreichte. Er entriegelte die Türen, öffnete die Fahrertür, legte nach dem Einsteigen seine Aktentasche auf den Beifahrersitz und schob den Schlüssel ins Schloss. Er wollte gerade die Tür schließen, als sein Blick durch die Windschutzscheibe auf ein Stück Papier fiel, das jemand hinter das Scheibenwischerblatt geklemmt hatte. Er brummte verärgert, weil er jetzt noch einmal aussteigen und den Fetzen entfernen musste. Vermutlich war es ohnehin nur die Karte eines ausländischen Gebrauchtwagenkäufers, der versprach, er würde jedes Auto kaufen.

Er stieg aus, umrundete die Fahrertür und griff nach dem Papier. Eigentlich hatte er es sofort zerknüllen und zu Boden werfen wollen, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, doch dann sah er es sich doch an und bemerkte, dass er sich getäuscht hatte. Es war gar nicht die Karte eines Autohändlers, sondern ein dünnes, viereckiges Stück Papier, wie man es von Notizzettelblocks kannte, das einmal in der Mitte gefaltet war. Nun wurde er doch neugierig, was auf dem Zettel stand. Schickte ihm etwa jemand einen Liebesbrief? Das hielt er eher für unwahrscheinlich. Aber vielleicht teilte ihm ja jemand auf diese Weise mit, dass er beim Ein- oder Ausparken versehentlich den Audi gerammt und keine Zeit gehabt hatte, auf den Fahrer zu warten.

Während er das Papier entfaltete, ließ er seinen Blick rasch über den Teil seines Autos wandern, den er sehen konnte. Er konnte allerdings keine Delle und keinen Kratzer entdecken. Vielleicht auf der anderen Seite.

Dann sah er wieder auf den Zettel, las, was dort geschrieben stand, und erbleichte.

WIR WISSEN ALLES!

Komm um 22:00 Uhr ins Parkhaus in der Innenstadt!

Stell deinen Wagen in der Parkebene 3 ab und begib dich zum Treppenhaus am Ausgang Ost!

Wir warten auf dich!

Marie, Sabrina, Antonia, Melanie & Ella.

5

Selbst jetzt, als er die Namen nur in seiner Erinnerung vor sich sieht, jagen sie ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Dabei weiß er noch nicht einmal, woher er die Namen kennt und welche Bedeutung sie für ihn haben. Sie klingen allerdings vertraut und erzeugen tief in ihm einen Widerhall, der ein angenehmes Gefühl in ihm hervorruft, so wie die verblasste Erinnerung an ein schönes Erlebnis.

Er versucht, diesem Widerspruch zwischen seiner Reaktion auf die Namen auf dem Papier und seinen innersten Empfindungen auf den Grund zu gehen, doch dazu reichen die Informationen, über die er momentan verfügt, nicht aus. Noch sind seine Erinnerungen zu spärlich, als dass er daraus Rückschlüsse ziehen könnte, die über die beiden Erinnerungsfetzen hinausgehen, die er bislang zurückerlangt hat.

Zumindest kennt er jetzt wieder seinen Namen und seinen Beruf und weiß, wo er arbeitet. Christian Heitzer. Der Name klingt vertraut, allerdings nicht in einer Weise, die er von seinem ureigenen Namen erwartet hat. Und irgendwie ist er wohl auch davon ausgegangen, dass die Erinnerung an seinen Namen ein Feuerwerk weiterer Reminiszenzen auslösen wird. Doch weit gefehlt. Neben der Vertrautheit, die zumindest auf einen ständigen Gebrauch schließen lässt, enthält der Name gleichzeitig auch eine vage Fremdheit, die vermutlich auch die Ursache dafür ist, dass ihm sein Name überhaupt entfallen konnte. Aber wieso? Handelt es sich etwa gar nicht um seinen Namen? Und ist dann etwa auch die Erinnerung fehlerhaft, in der er von der Empfangsmitarbeiterin und dem Arbeitskollegen angesprochen wurde? Aber wie ist es dann überhaupt möglich, dass er sich dennoch daran erinnert, als wäre es seine eigene Erinnerung?

Während der letzten Minuten war er so auf sich selbst und seine Erinnerung konzentriert, dass er gar nicht mehr bewusst auf seine Umgebung und die anderen Leute geachtet hat, die sich in seiner Nähe aufhalten. Das ändert sich jedoch, als er plötzlich Schritte hört, die von links kommen, wo sich die Tür befindet, und sich ihm nähern. Die Person, die die Geräusche verursacht, bemüht sich im Gegensatz zu den anderen Leuten auch nicht, sich möglichst leise und verstohlen zu bewegen.

Unmittelbar hinter ihm verstummen die Schritte. Wer auch immer sich ihm genähert hat, steht nun direkt hinter dem Stuhl. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Das Gefühl, beobachtet und von mehreren Augenpaaren gemustert zu werden, wird überwältigend und macht ihm Angst.

»Mmmhhh! Mmh mmmhh mmh mh?«

Noch immer keine Reaktion. Stattdessen herrscht wieder Stille. Da ihm das eigene hektische Schnaufen durch die Nase und der Schlag seines Herzens unnatürlich laut vorkommen, kann er die leisen Geräusche, die die anderen Personen unter Umständen verursachen, nicht hören. Ihm kommt es vor, als würden die Leute auf etwas warten, so wie die Zuschauer einer Theateraufführung darauf warten, dass sich endlich der Vorhang hebt und das Schauspiel beginnt.

Aber worauf warten sie? Und – um zur entscheidenden Frage zurückzukehren, die er sich schon vorher gestellt hat – warum haben sie ihn überhaupt niedergeschlagen, hierher gebracht, gefesselt und geknebelt? Was wollen Sie von ihm? Lösegeld etwa? Da er nun wieder weiß – sofern er seinen Erinnerungen trauen kann –, dass er als Mathematiker bei einer Versicherung arbeitet, wird ihm klar, dass er vermutlich ganz gut verdient. Allerdings ist er deshalb noch lange nicht reich. Und wen wollen sie dazu erpressen, das Lösegeld für ihn zu bezahlen? Die Versicherung? Unwahrscheinlich, denn er ist nur ein kleines Rädchen im Getriebe, jederzeit ersetzbar und kennt keine wichtigen Firmengeheimnisse. Dann schon eher die Familie. Aber hat er überhaupt eine Familie?

Der Gedanke führt dazu, dass sein Verstand wie ein fingerfertiger Zauberkünstler die nächste Erinnerung aus dem bodenlosen Zylinder seines Bewusstseins holt.

6

Es war am Morgen des Tages, an dem er die merkwürdige Nachricht an seinem Scheibenwischer finden und im Treppenhaus des Parkhauses niedergeschlagen werden sollte. Doch noch ahnte er nicht, was ihm dieser Tag bringen würde. Und so saß er wie an jedem Werktag am Frühstückstisch, aß ein mit Erdbeermarmelade bestrichenes Brot, trank ungesüßten Kaffee mit Milch und las die Tageszeitung.

Marius, sein dreizehnjähriger Sohn, lümmelte auf seinem Stuhl, schlang sein Müsli hinunter, nachdem er den Kakao in wenigen Schlucken hinuntergeschüttet hatte, und hatte die Nase in seinem Physikbuch vergraben.

Seine Tochter Mara, die vor drei Wochen fünfzehn geworden war, hielt sich noch immer im Bad oben auf. Sie würde erst später, nur wenige Augenblicke, bevor sie aus dem Haus musste, herunterkommen und sich eine Scheibe Knäckebrot für unterwegs schnappen. Werktags morgens begegneten sich Vater und Tochter eigentlich nie, da er schon aus dem Haus war, wenn sie auf der Bildfläche erschien.

»Schatz, du musst los!«, sagte seine Frau Monika, die neben dem offenen Kühlschrank stand und die Pausenbrote für die Kinder zubereitete, so wie sie es jeden Morgen tat.

Er faltete die Zeitung ordentlich zusammen und legte sie neben seinen Teller, ehe er einen raschen Blick auf seine Armbanduhr warf. »Du hast recht, Liebling«, sagte er dann ebenfalls wie immer und trank die Tasse leer. Er erhob sich vom Tisch und drückte seiner Frau im Vorbeigehen einen Kuss in den Nacken, worauf sie unwillkürlich erschauderte, den Kopf einzog und leise kicherte. Im Flur zog er sich Schuhe und Jacke an und schnappte sich seine Aktentasche, die neben dem Schuhschrank an der Wand lehnte.

»Tschüss«, rief er laut, damit auch seine Tochter oben im Bad ihn hörte und wusste, dass sie sich beeilen musste, und verließ dann das Einfamilienhaus, um zur Arbeit zu fahren.

7

Also hat er tatsächlich eine Familie. Er beschwört ihre Abbilder noch einmal in seinem Kopf herauf und betrachtet sie der Reihe nach liebevoll. Und obwohl er seine Tochter heute Morgen gar nicht gesehen hat, kann er ihr Bild jetzt dennoch ebenso leicht abrufen wie das seiner Frau und seines Sohnes. Der Anblick seiner Lieben spendet ihm ein wenig Trost. Außerdem weiß er auch, dass Monika alles dafür tun wird, dass die Bedingungen der Entführer erfüllt werden, damit er wieder wohlbehalten freigelassen wird.

Bei den tröstenden Gedanken an seine Familie hat er beinahe vergessen, dass noch immer einer der Entführer hinter ihm steht und sich wie die anderen Anwesenden mucksmäuschenstill verhält. Doch in diesem Augenblick ruft sich ihm dieser von sich aus in Erinnerung, indem er nach dem Stoffsack greift und ihn ruckartig von seinem Kopf reißt.

»Mmmmmhhhhh …«

Das grelle Licht, das ihm jetzt ungehindert direkt in die Augen scheint, blendet ihn so stark, dass seine Augen zu tränen beginnen. Er senkt den Kopf, kneift die Augen zusammen und öffnet sie dann vorsichtig wieder, um sie an die Helligkeit zu gewöhnen. Die Tränen verschleiern allerdings seinen Blick.

 

»Na, Heitzer, wie geht es Ihnen jetzt?«

Er wendet den Kopf so abrupt nach links, als ihn von dort unvermittelt eine männliche Stimme anspricht, dass ein stechender Schmerz, ausgehend von der kaum verheilten Kopfwunde, wie ein glühender Kugelblitz durch jede einzelne Gehirnzelle saust.

»Mmhh!«

Er stöhnt vor Schmerz, schließt kurz die Augen, öffnet sie aber rasch wieder, um sie auf das Gesicht des Mannes zu richten, der ihn angesprochen hat. Der Mann kommt ihm vage bekannt vor, allerdings kann er nicht sagen, woher. Außerdem liefert sein Namensgedächtnis keinen passenden Namen zu dem Gesicht, weil seine Erinnerung noch immer zum größten Teil wie leergefegt ist. Der Mann ist schätzungsweise Mitte bis Ende fünfzig, hat mausgraues, kurz geschorenes Haar und trägt eine Brille mit dünner, silberner Fassung.

Als der Mann ihn gerade eben ansprach, glaubte er, Mitgefühl oder Sorge in seiner Stimme zu hören, und schöpfte Hoffnung, doch als er jetzt den feindseligen Blick und das böse Grinsen des anderen sieht, erkennt er seinen Irrtum. Es war gar kein Mitleid, sondern Häme, die er gehört hat.

»Wissen Sie, wo wir hier sind, Heitzer?«

»Mmh.« Der Laut, der ein Nein werden sollte, entschlüpft ihm automatisch, ehe er sich entsinnt, dass man ihn ohnehin nicht verstehen kann. Also schüttelt er zusätzlich den Kopf.

»Woher auch?«, fragt der Mann. »Aber ich will es Ihnen verraten: Wir sind im Keller meines Hauses. Sie sind also gewissermaßen mein Gast.«

»Mmh mmhh mhh?«

»Tut mir leid, aber ich kann Sie wegen des Knebels nicht verstehen«, sagt der Mann und verzieht das Gesicht zu einem eisigen Lächeln, das ohne jede Spur von Fröhlichkeit ist. »Aber vermutlich fragen Sie sich, wer ich bin und warum Sie hier sind. Habe ich recht?«

»Mh!« Er nickte vorsichtig, um keine neue Schmerzwelle auszulösen.

»Na gut. Wenn Sie nicht von allein draufkommen, will ich es Ihnen verraten. Mein Name ist Klaus Schmidt. Ich bin Maries Vater!«

Marie …

Der Name hallt wie der Schlag einer riesigen Glocke durch seinen Verstand, wird von den Innenwänden seiner Schädeldecke zurückgeworfen und dabei tausendfach verstärkt, bis er kaum noch einen anderen vernünftigen Gedanken fassen kann.

Marie – Marie – Marie – Marie – Ma rie – Ma rie – rie

Er erinnert sich daran, dass das auch der erste Name auf dem Zettel war, der ihn ins Parkhaus lockte.

WIR WISSEN ALLES!

Was meinten Sie damit? Wer ist Marie? Und wieso löst ihr Name eine so starke Reaktion in ihm aus?

Die Antworten auf seine Fragen erhält er postwendend, als eine weitere Welle von Erinnerungen über ihn hinwegrauscht wie ein mentaler Tsunami und ihn aus der Gegenwart in die Vergangenheit spült.

8

Für einen kleinen Moment hielt er inne und betrachtete liebevoll das große Jagdmesser in seiner Hand. Die 21 Zentimeter lange Klinge bestand aus 440er Edelstahl, und die Griffschalen waren aus braunem Pakkaholz. In der frisch geschliffenen und polierten Klinge konnte er sein eigenes lächelndes Gesicht widergespiegelt sehen. Die Vorfreude ließ ihn erzittern, und so senkte er das Messer und wandte sich um.

Die Jagdhütte befand sich in einem entlegenen Waldstück, das zu dieser Jahreszeit und um diese Uhrzeit verlassen war. Der Eigentümer würde vermutlich erst zu Beginn der Jagdsaison hierherkommen. Also würde ihn bei dem, was er vorhatte, auch niemand stören. Und auch sonst war kein Mensch weit und breit, der die Schreie der jungen Frau hören konnte.

Sein Blick fiel auf das alte Bett mit dem metallenen Rahmen, auf dem nur eine fleckige Matratze lag. Die junge Frau auf der Matratze war nackt. Ihre Arme und Beine waren abgespreizt und an den Rahmen gebunden. Sie war noch immer bewusstlos. Nach seiner Berechnung musste sie jedoch demnächst erwachen. Er konnte sehen, dass sie im Schlaf leicht die Stirn runzelte, als würde sie im Traum über eine komplizierte Frage nachdenken.

Marie!, erinnerte er sich an ihren Vornamen. Was für ein schöner Name.

Er hatte sie vor drei Wochen beim Einkaufen in einem Supermarkt gesehen und sofort gewusst, dass sie die Nächste war. Sie erinnerte ihn an seine Tochter Mara, so wie sie das Haar trug und sich bewegte. Sobald er sie sah, war der eigentliche Grund, weswegen er in den Supermarkt gegangen war, vergessen. Stattdessen beobachtete er die junge Frau unauffällig, wie sie ihre Einkäufe in den Wagen legte, zur Kasse ging und bezahlte. Er folgte ihr nach draußen und sah ihr aus den Augenwinkeln dabei zu, wie sie die Einkäufe in den Korb ihres Fahrrads lud. Dann fuhr er ihr mit seinem Wagen bis zu ihr nach Hause hinterher.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte er damit, mehr über sie, ihre Gewohnheiten und ihr Umfeld in Erfahrung zu bringen. Da er wegen seiner Arbeit und seiner Familie nur gelegentlich nach Feierabend und am Wochenende Zeit erübrigen konnte, dauerte es eine Weile, bis er alles über sie erfahren hatte, was er wissen wollte: Sie hieß Marie Schmidt, war 22 Jahre alt, lebte noch bei ihren Eltern – Klaus, 48 Jahre alt und bei einem Sicherheitsunternehmen tätig, und Astrid, 44 Jahre –, hatte eine jüngere Schwester – Ivonne, 17 Jahre – und studierte an der Universität Jura. Er besorgte sich ihren Vorlesungsplan und nahm sich schließlich sogar zwei Tage Urlaub, ohne seiner Frau davon zu erzählen, um sie zwei ganze Tage lang verfolgen und ihren Tagesablauf studieren zu können.

Als er schließlich genug Informationen gesammelt hatte, konnte er zu Phase 2 seines Vorhabens übergehen. Diese bestand im Wesentlichen darin, ihre Entführung minutiös zu planen und einen geeigneten Ort zu finden und vorzubereiten, an den er sie anschließend bringen konnte. Da ihm bereits vor ein paar Monaten bei einem sonntäglichen Familienausflug die abgeschiedene Jagdhütte aufgefallen war, war er vor drei Tagen nach Feierabend unter dem Vorwand einer Fortbildungsveranstaltung hierher gefahren, hatte die Umgebung ausgekundschaftet und, nachdem er den Ort für geeignet befunden hatte, alles vorbereitet.

Die Entführung selbst war dann dank seiner hervorragenden Planung problemlos und ohne Zeugen vonstattengegangen. Da Marie jeden Mittwochabend ihren Zumba-Kurs besuchte, fuhr sie mit dem Auto ihrer Mutter zum Fitnessstudio, das in einem Industriegebiet lag. Da sie zudem meistens zu spät dran war, gab es keine freien Parkplätze mehr in unmittelbarer Nähe des Studios. Sie musste den Wagen etwas weiter weg abstellen und etwa 200 Meter zu Fuß gehen, was sie auch an einer finsteren Stelle im Schatten eines dichten Gehölzes vorbeiführte. Und genau dort lauerte er ihr auf. Neben seiner guten Planung hatte er auch Glück, dass gerade niemand anderes in der Nähe war. Die angrenzenden Betriebe hatten um diese Zeit allerdings längst geschlossen, und die anderen Teilnehmer des Zumba-Kurses waren schon im Studio. Als Marie nichtsahnend das Gehölz passierte, so wie sie es immer tat, sprang er hinter ihr auf den Weg, packte sie hinterrücks und presste ihr seine Handfläche auf den Mund, in der sich ein mit Chloroform getränktes Tuch befand. Sie versteifte sich in seinem Griff und begann sich zu wehren, doch sobald sie die betäubenden Chloroformdämpfe eingeatmet hatte, erlahmten ihre Bewegungen, bis sie das Bewusstsein verlor. Er sah sich rasch um, ob nicht doch jemand aus einem benachbarten Gebäude gekommen oder um eine Ecke gebogen war. Dann hätte er den Zustand des Mädchens irgendwie erklären und sich ohne Beute aus dem Staub machen müssen. Doch das Glück blieb ihm weiterhin treu, denn es war niemand zu sehen. Er warf sich das leblose Bündel Mensch über die linke Schulter und lief zu seinem unverschlossenen Wagen, den er frühzeitig ganz in der Nähe geparkt hatte. Er öffnete den Kofferraum und ließ die junge Frau hineinplumpsen. Eilig schob er auch noch ihre Füße hinein, sodass sie verkrümmt auf der Plastikfolie lag, die er dort ausgebreitet hatte, und schloss dann den Kofferraumdeckel. Ein letzter Blick in die Runde überzeugte ihn davon, dass er auch dabei unbeobachtet geblieben war. Er grinste zufrieden, als er ins Auto stieg und losfuhr, um sein jüngstes Opfer zur Jagdhütte zu bringen.

Und nun lag sie hier, und alles war für den letzten Akt vorbereitet. Jetzt musste sie nur noch aufwachen, um auch ja mitzubekommen, was mit ihr geschah, und es ebenso genießen zu können wie er. Er trat näher ans Bett und sah auf sie hinunter. Wie sie so dalag, das haselnussbraune, lange Haar ausgebreitet auf der Matratze, sah sie seiner Tochter Mara noch ähnlicher.

Und natürlich Caroline!, dachte er grimmig und lächelte kalt.

Er hob die rechte Hand, die das Heft des Jagdmessers so fest umklammert hielt, dass die Knöchel ganz weiß waren. Er konnte es kaum noch erwarten. Eine Schweißperle löste sich von seiner verschwitzten Stirn und lief an seinem nervös zuckenden Auge vorbei über seine Wange. Er hob die freie Hand und wischte den Schweiß weg.

Im gleichen Moment sah er, dass ihre Augenlider zuckten. Sie erwachte! Endlich!

Erst zuckten nur ihre Lider, dann bewegten sich die Augäpfel dahinter hektisch hin und her, als würde sie träumen. Doch dies war kein Traum, sondern bitterer Ernst. Sie öffnete die Augen, schloss sie sofort wieder, als das Licht sie blendete, und öffnete sie erneut. Ihr Blick war noch ein wenig umnebelt. Kein Wunder nach der stundenlangen Bewusstlosigkeit. Wahrscheinlich hatte sie auch Kopfschmerzen vom Chloroform. Diese Schmerzen waren allerdings nichts gegen das, was noch kommen würde, und sie würde sie deshalb schnell vergessen.

Ihr Blick war anfangs noch nach oben zur Decke gerichtet und unfokussiert. Dann sah er, wie sich ihre Pupillen verengten und zur Seite bewegten, wo er stand und auf sie heruntersah.

»Hallo Caroline«, sagte er mit einem Lächeln, das sich allerdings nicht in seinen eiskalten, berechnenden Augen widerspiegelte. »Wir werden viel Spaß miteinander haben. Und diesmal wirst du mich nicht bei Mama verpetzen!«

Ihre Augen weiteten sich, als ihr Blick auf das Messer in seiner Hand fiel. Dann riss sie den Mund auf und schrie schrill und markerschütternd. Doch das störte ihn nicht, denn niemand würde sie hören. Ganz im Gegenteil, ihr Schreien gehörte dazu und war wie Musik in seinen Ohren. Und er liebte diese Sinfonie der Schmerzen, mit der seine Opfer seine Arbeit akustisch begleiteten.

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