INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Eins

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Die von den veränderten Umständen unbeeindruckte Untote, die ausschließlich den zuvor erteilten Befehlen ihres Meisters gehorchte, hatte den Inquisitor fast erreicht, als dieser die Waffe hob und einen einzigen Schuss in die Stirn der wiedererweckten Toten feuerte. Wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren, fiel der Zombie in sich zusammen und blieb in einem Haufen unnatürlich verrenkter Gliedmaßen reglos liegen.

Michael behielt die Tür aufmerksam im Auge und hatte die Pistole, in der sich nur noch eine einzige Kugel befand, auf die dunkle Öffnung gerichtet. Die Flammen, die an den Knochen des Gestaltwandlers leckten, wurden beständig kleiner, sodass es im Raum allmählich finsterer wurde. Vorsichtig ging der Inquisitor auf die Tür zu, jederzeit darauf gefasst, seinen letzten Schuss abgeben zu müssen, sollte ein weiterer Angreifer in der Öffnung auftauchen. Von den Verletzten auf dem Parkettboden rührte sich nur noch eine Zauberin, deren linke Schulter er durchschossen hatte. Die Frau war jedoch mit sich selbst und ihrer schmerzhaften Verletzung beschäftigt, als dass sie eine Gefahr für den Inquisitor dargestellt hätte. Michael ließ sie dennoch nicht unbeachtet, sondern behielt sie ständig aus dem Augenwinkel heraus im Blick, während der überwiegende Teil seiner Aufmerksamkeit dem Flur galt.

Es war still geworden. Das Heulen und Kreischen, das nahezu den gesamten Angriff der Luziferianer akustisch untermalt hatte, war verstummt. Lediglich entfernt waren Schreie und hektisches Getrampel zu hören, die sich immer weiter entfernten. Nach dem infernalischen Lärm breitete sich gespenstische Stille um den Inquisitor herum aus, die nur vom gelegentlichen Stöhnen der verletzten Zauberin unterbrochen wurde.

Michael hoffte, dass nicht vielen Angreifern die Flucht gelang. Unter Umständen konnte man einige lebend fangen und zum Verhör ins Hauptquartier bringen, um mehr über die Hintergründe der heutigen Nacht und die Pläne der Luziferianer in Erfahrung zu bringen.

Darüber hinaus war es nach Michael Erfahrung eine seltene Gelegenheit, dergestalt viele unterschiedliche Arten von Luziferianern an ein und demselben Ort zu erwischen. Die verschiedenen Rassen hielten sich in der Regel an ihresgleichen und bildeten Clans, Familienverbände, Sippen oder Zirkel. Jede Clique verfolgte ihre eigenen, im Großen und Ganzen ausgesprochen unterschiedlichen Ziele, je nachdem, was ihre jeweiligen Bedürfnisse erforderten. Gemeinsam war ihnen allen nur der Kampf gegen die Kirche und die Inquisition, die sich ihre Verfolgung und Auslöschung auf die Fahnen geschrieben hatten. Es kam selten vor, dass sich unterschiedliche Arten zusammentaten, um gemeinsame Aktionen durchzuführen. Denn auch wenn sie sich gegenseitig in Ruhe ließen, um sich im Kampf mit dem gemeinsamen Gegner nicht gegenseitig zu schwächen, so standen sie dennoch oftmals in ständigem Konkurrenzkampf um Nahrung, Beute oder Opfer, bei denen es sich in den allermeisten Fällen um gewöhnliche Menschen handelte. Vereinzelt war es vorgekommen, dass sich zwei oder drei Clans für einen kurzen Zeitraum verbündet hatten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, das sie allein nicht bewältigen konnten. Aber dass so viele unterschiedliche Arten so einträchtig und vor allem ohne Rücksicht auf die eigene Existenz agierten, war in den Augen des Inquisitors ein einmaliger Vorgang und eröffnete, sollte er Schule machen und Nachahmer finden, neue und erschreckende Dimensionen und Gefahren für die Menschheit und die Mitarbeiter der Inquisition. Ein Zombie war nicht mehr als ein mit finsterer Energie erfüllter Leichnam ohne jede Spur von Verstand. Dass er den Befehlen, die sein Erzeuger ihm erteilte, ohne Rücksicht auf seine eigene erbärmliche Existenz gehorchte, war daher nicht bemerkenswert. Andere Luziferianer wie Hexen, Magier und Gestaltwandler hatten demgegenüber einen weitaus höher entwickelten Selbsterhaltungstrieb und rannten nicht blindlings ins Verderben, so wie sie es hier getan hatten. Was oder wer steckte also hinter dieser selbstmörderischen Aktion?

Die Überlegungen und Schlussfolgerungen, die Michael durch den Kopf schossen, während er sich Schritt um behutsamen Schritt dem Durchgang zum verlassen wirkenden Flur näherte, ließen ihn erschaudern, da sie in ihm den Verdacht erweckten, dass etwas hinter diesen Vorgängen stecken musste, das die unvorstellbare Macht besaß, all diese Kreaturen unter seinen Willen zu zwingen, und eventuell einen Plan verfolgte, der von existenzieller Bedeutung für die Luziferianer und damit auch für die Menschheit sein musste.

Michael dachte sofort an den Dämon, der behauptet hatte, sein Vater zu sein. Eine Behauptung, die zunächst durchaus glaubhaft wirkte. Doch der Inquisitor wäre erst dann hundertprozentig überzeugt, wenn er außer den Worten eines seinem ganzen Wesen nach zur Verlogenheit neigenden Dämons stichhaltigere Beweise in Händen hielt.

Aber war ein einzelner Dämon überhaupt stark genug, alle beteiligten Luziferianer unter Kontrolle zu halten? Insgeheim bezweifelte Michael das. Dämonen waren zwar unglaublich mächtige Wesen, in ihren Aktionen in dieser Welt jedoch beträchtlich eingeschränkt. Ansonsten hätten sie wohl längst die Herrschaft über die Menschheit angetreten. Doch unter Umständen hatten sich mehrere hohe Dämonen, die sich ansonsten eher misstrauisch beäugten und ihre eigenen teuflischen Spielchen trieben, miteinander verbündet?

Aber wozu dieser ganze Aufwand? Ging es tatsächlich darum, den Papst zu töten, wozu der Dämon ihn hatte zwingen wollen? Michael erschien dieses Ziel zu belanglos, als dass es all diesen Aufwand rechtfertigte. Der Papst war nur ein Mensch und nicht schwer zu töten, wenn man es geschickt anstellte. Darüber hinaus war der Pontifex maximus trotz seiner Unfehlbarkeit und seiner Bedeutung für die Gläubigen nicht unersetzlich. Es war trotz allem nur ein Amt, das alsbald neu besetzt würde. Auf der anderen Seite war der Papst ein mächtiges Symbol für die Kirche und die Schar der Gläubigen. Wenn er starb, war das weitaus mehr als der Tod eines einzelnen Menschen. Die katholische Kirche würde dadurch – vor allem, wenn ein Anschlag der Luziferianer dahintersteckte – in ihren Grundfesten erschüttert. Und unter Umständen kannten die Feinde eine Möglichkeit, die Zeit der Vakanz, solange der Heilige Stuhl in Rom unbesetzt war, für ihre finsteren Zwecke zu missbrauchen und der Kirche erheblichen oder gar irreparablen Schaden zuzufügen.

Michael erkannte, dass sich seine Überlegungen alsbald im Kreis drehen und die schon in Erwägung gezogenen Gedanken erneut durchwälzen würden. Einzig aufgrund der spärlichen Fakten, die er bis jetzt zur Verfügung hatte, konnte er die Fragen nach dem Sinn und den Zielen dieser Vorgänge ohnehin nicht klären. Er würde weitere Nachforschungen anstellen und mehr in Erfahrung bringen müssen, um diesem rätselhaften Geschehen auf den Grund gehen zu können. Eines wusste er jedoch mit Sicherheit: Egal, was hinter den Ereignissen dieser Nacht steckte – ob es »nur« um die Ermordung des Heiligen Vaters oder um die Vernichtung der Kirche ging –, es musste um jeden Preis verhindert werden.

Der Inquisitor schob diese Überlegungen in den Hintergrund seines Denkens, als er die Tür erreichte. Die verletzte Zauberin war verstummt. Entweder hatte sie gnädigerweise das Bewusstsein verloren oder war am Blutverlust gestorben. Die Feuerzungen hatten die Knochen des Leopardengerippes mittlerweile fast vollständig verzehrt und standen kurz vor dem Erlöschen. Es war daher nahezu totenstill und erneut relativ finster geworden.

Michael atmete flach durch den geöffneten Mund, um keinen Laut zu erzeugen, und horchte auf verdächtige Geräusche. Außer dem Rauschen seines eigenen Blutes konnte er hin und wieder das gedämpfte Krachen eines Schusses, einen lauten Schritt, einen erstickten Ruf oder das Knallen einer zuschlagenden Tür aus anderen Teilen des Hauses hören. Doch die Detonationen waren zuletzt rar geworden, was Michael zuversichtlich stimmte, dass seine Kollegen die Situation unter Kontrolle hatten. Dessen ungeachtet durfte er nicht unvorsichtig werden. Noch immer konnten sich vereinzelte Luziferianer in der Nähe aufhalten, die entweder auf Biegen und Brechen ihren Auftrag erledigen wollten oder keinen anderen Ausweg sahen, als eine sinnlose Harakiri-Aktion durchzuführen.

Aus dem Flur war ein gedämpftes Rascheln zu hören. Ein Scharren ertönte – wie von einem Fuß, der versehentlich über den Boden schleifte. Mit Sicherheit war jemand dort draußen, ganz in der Nähe, und lauerte unter Umständen darauf, dass der Inquisitor leichtsinnigerweise seinen Kopf durch den Türrahmen steckte, um ihn ihm mit derselben Leichtigkeit abzureißen, mit der man einen Apfel vom Baum pflückte.

Michael geriet ins Schwitzen. Die Ungewissheit zehrte an seinen Nerven. Was sollte er tun? Er wusste nicht, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte, und er hatte nur noch eine Kugel übrig. Nur ein einziger Fehlschuss, und er stünde dem Feind unbewaffnet und wehrlos gegenüber. Mit bloßen Händen hatte er aber gegen einen Gestaltwandler, einen Zombie oder einen Ghul keine realistische Chance.

Die mickrigen Flämmchen, die wie Elmsfeuer zaghaft über die verkohlten Knochen tanzten und kaum noch genug Helligkeit erzeugten, um im Flur vor der Tür mehr als Schatten erkennen zu lassen, erloschen plötzlich. Undurchdringliche Finsternis breitete sich aus. In der nächsten Sekunde flackerten sie noch einmal auf, heller als vorher.

Michael wusste, dass das Feuer in seinen letzten Zügen lag und das nächste Mal mangels Nahrung vermutlich nicht erneut aufflackern, sondern ihn im Dunkeln zurücklassen würde. Und unter Umständen hatte sein Gegner im Flur wesentlich weniger Probleme damit, sich in der Finsternis zurechtzufinden, weil er eine Kreatur der Nacht war und im Dunkeln ebenso gut sehen konnte wie Michael im hellen Licht der Sonne. Aus diesem Grund beschloss der Inquisitor, alles auf eine Karte zu setzen und nicht länger abzuwarten.

 

Kurz entschlossen sprang er mit einem einzigen Satz über mehrere reglose Leichen hinweg und durch den Türrahmen nach draußen, drehte sich dort blitzartig zur Seite und richtete die Glock auf die Stelle, wo er den Feind vermutete. Dieser schien eine ähnliche Idee gehabt zu haben, da auch er einen Sprung nach vorn gemacht hatte, sodass sie beinahe gegeneinanderprallten und sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Die Pistolenmündung des anderen kam wenige Millimeter vor Michaels schweißnassem Gesicht zum Stillstand.

Voller Erleichterung atmete der Inquisitor auf und lockerte den verkrampften Finger am Abzug seiner Waffe, als er jenseits der dunklen, todbringenden Öffnung das vertraute, wenn auch ebenfalls nervlich angespannte Gesicht des Kollegen erkannte.

In diesem Moment erloschen im Zimmer hinter ihm lautlos und endgültig die letzten Flammenzungen.

Michael stand inmitten des Raumes, in dem er beinahe den Tod gefunden hätte, und sah sich im trüben Licht der Deckenlampe entsetzt um. Er konnte noch immer nicht richtig begreifen, wie er all das – die Begegnung mit dem Dämon und die Auseinandersetzung mit einer Horde rasender Luziferianer – lebend überstanden hatte.

Unterhalb des Türrahmens und in einem Halbkreis davor lagen zahlreiche Leichname – Hexen, Magier, Zombies und nackte Gestaltwandler. Die Hexe mit der durchschossenen Schulter war ihren Verletzungen am Ende erlegen. In einer Ecke des Zimmers stiegen noch immer feine Rauchfäden von dem verkohlten Skeletthaufen auf, obwohl die Flammen lange erloschen waren. Und inmitten dieses Gestalt gewordenen Albtraums aus Chaos, Tod und Vergänglichkeit stand Michael Institoris am Rand des auf den Boden gemalten Kreises aus schwarzer Farbe und starrte auf die beiden Männer hinunter, die an diesem Ort als Erste ihr Leben verloren hatten.

Ein weiterer Inquisitor, der für diesen Job viel zu jung wirkte, ging mit bleichem Gesicht von Leichnam zu Leichnam und begutachtete sie mit vor Abscheu verzerrtem Gesicht und zweifellos kurz davor, sich zu übergeben. Dessen ungeachtet untersuchte er sie gewissenhaft nach Lebenszeichen. Michael konnte dem jungen Kollegen das Unwohlsein nicht verdenken. Der Anblick all dieser Leichen, manch einer grausam zugerichtet, konnte sogar weniger zartbesaiteten Gemütern Albträume bereiten. Geradezu unerträglich machte die Sache allerdings der furchtbare Gestank, der jeden Atemzug zur Qual werden ließ und nur langsam durch das offene Fenster abzog. Als allererste Maßnahme hatte man eilig die Bretter abgerissen, mit denen das Fenster zugenagelt worden war, auch wenn das bislang nicht viel bewirkt hatte. Zu dem ursprünglichen Miasma aus frischem Blut, heißem Wachs, Schwefel und Verwesung, das bei Michaels Ankunft vorherrschend gewesen war, waren später die Gerüche nach Schießpulver, verbranntem Fleisch und verkohlten Tierhaaren hinzugekommen, was eine Mischung ergab, die ein lebender und atmender Mensch schwer ertragen konnte, ohne zu ersticken oder sich zu übergeben. Während des Kampfes hatte Michael nicht auf den Gestank geachtet, da seine Aufmerksamkeit von wichtigeren Dingen – beispielsweise das eigene Überleben – gefangen genommen worden war. Doch nun musste auch er ständig krampfhaft schlucken, um Schlimmeres zu verhindern. Er hätte den Schauplatz des Gefechts längst verlassen können, aber er wollte die Gelegenheit nutzen, unmittelbar am Tatort noch ein paar letzte Details zu klären.

Michaels Blick ruhte auf dem nackten Leichnam seines ehemaligen Informanten, der inmitten des Pentagramms in seinem eigenen Blut lag. Michael bedauerte erneut den sinnlosen Tod des jungen Mannes, den er seit Jahren gekannt und dem er in gewissen Grenzen vertraut hatte, auch wenn die Worte des Dämons einen Schatten auf Kais Arbeit warfen und seine Informationen insgesamt zweifelhaft erscheinen ließen. Da der Dämon von einem Plan gesprochen hatte, der noch vor Michaels Geburt ersonnen worden war, drängte sich ihm der Verdacht auf, dass Kai auf ihn angesetzt worden war und von Anfang an mit Billigung der Luziferianer gehandelt hatte, um ihm Erfolge und damit einen raschen Aufstieg im Dienste der Inquisition zu ermöglichen. Schließlich sollte Michael nach dem Willen des Dämons dem Papst gegenübertreten, um ihn bei dieser Gelegenheit zu töten – und das hätte die bevorstehende Beförderung ermöglicht. Die Tipps, die Kai ihm gegeben hatte, hatten zwar in aller Regel zur Verhaftung oder Vernichtung einzelner Luziferianer, teilweise sogar zur Auslöschung ganzer Gruppen geführt, aber eventuell waren all das nur Bauernopfer gewesen, die zur Erreichung des Planziels notwendig und entbehrlich gewesen waren. Dessen ungeachtet konnte Michael dem jungen Mann nicht böse sein, auch wenn dieser ihn tatsächlich jahrelang hinters Licht geführt hatte. Denn trotz allem war Kai zeitlebens ebenfalls nur ein Opfer gewesen – zunächst ein Opfer der Drogen und nun ein weiteres Opfer der Luziferianer.

Nachdem der Inquisitor auf diese Weise stumm Abschied von seinem ehemaligen Informanten genommen und ihm verziehen hatte, ging er zu der zweiten Leiche und neben ihr in die Hocke.

Der Mann, der bis vor Kurzem noch von einem dämonischen Wesen erfüllt gewesen war, wirkte im Tod noch kleiner und schmächtiger, als wäre er geschrumpft, nachdem der Dämon seinen Körper verlassen hatte. Er trug eine hellblaue Jeans und ein graues Polo-Shirt. Michael tastete systematisch alle Hosentaschen ab und legte seine Funde neben dem Leichnam auf den Boden. Er fand einen Schlüsselbund, ein Einweg-Feuerzeug und ein kleines Schweizer Taschenmesser. Diese Dinge interessierten ihn nicht. Darum konnten sich die Kollegen kümmern, die das Haus methodisch durchsuchten und alle Habseligkeiten der Toten einsammeln und ins Hauptquartier bringen würden, wo sie auf weiterführende Spuren und Hinweise untersucht werden würden.

In der rechten Gesäßtasche steckte ein Portemonnaie aus schwarzem, deutlich abgewetztem Leder. Michael klappte es auf und sah sich den Inhalt an. Aus dem Personalausweis des Toten erfuhr der Inquisitor, dass dieser Alexander Friedrich hieß und vor vier Monaten 28 Jahre alt geworden war. Der Mitgliedskarte eines Fitnessstudios entnahm er die Information, dass Alexander Friedrich nicht aus München stammte, sondern in Nürnberg wohnte. Darüber hinaus fand er eine Bahnfahrkarte für die einfache Strecke von Nürnberg nach München in der zweiten Klasse vom gestrigen Tag und einen ansehnlichen Geldbetrag. Als Letztes, verborgen in einer unscheinbaren, seitlichen Lasche, entdeckte er eine außergewöhnliche Visitenkarte.

Michael legte den Geldbeutel zu den anderen Funden auf den Boden. Er hielt die kleine rechteckige Karte zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand und nahm sie genauer in Augenschein. Die Vorderseite war mattschwarz. Eine Reihe weißer Linien bildete die vagen, aber identifizierbaren Umrisse eines Grabsteins. In zentimetergroßen, blutroten Buchstaben, die aussahen, als wären sie mit brutalen Krallenhieben in die Pappe gerissen worden, war anstelle des Namens eines Verstorbenen der englische Begriff SEPULCHRE zu lesen. Darunter standen wie Geburts- und Sterbedaten in kleineren ebenfalls roten, wenngleich normalen Druckbuchstaben eine Anschrift und die Öffnungszeiten.

Der Name SEPULCHRE war Michael ein Begriff. Es war nicht nur der US-amerikanische Ausdruck für eine Grabstätte, sondern gleichzeitig der Name einer Münchener In-Diskothek. Obwohl der Inquisitor die Lokalität noch nie besucht hatte, kannte er ihren Standort und wusste, dass sie bei der bayerischen Inquisition als relativ sauber galt. Der Ausdruck bezog sich nicht auf die hygienischen Zustände der Toiletten, sondern bedeutete, dass die Diskothek kein geheimer Treffpunkt der Luziferianer war und von diesen nicht übermäßig frequentiert wurde. Wie alle derartigen Einrichtungen wurde das SEPULCHRE regelmäßig überprüft, aller Voraussicht nach sogar öfter als andere, da bereits der Name in den Ohren der Inquisition nach finsteren Machenschaften roch und eine Nähe zu den Luziferianern nahe legte, die es aber offensichtlich nicht gab.

Michael drehte die Karte um und las den handschriftlichen Vermerk auf der Rückseite. Mit dunkelblauem Kugelschreiber hatte jemand in großen, deutlich lesbaren Druckbuchstaben das Wort GHOST, das gestrige Datum und die Zeit 20.30 Uhr vermerkt.

War Alexander Friedrich demnach gestern mit dem Zug von Nürnberg nach München gefahren, um sich abends um halb neun im SEPULCHRE mit jemandem zu treffen, der auf den Namen Ghost hörte? Wer war dieser Ghost? Hatte Friedrich von ihm das viele Geld erhalten? Und wenn ja, wofür? Gehörte Ghost ebenfalls zu den Luziferianern, die dem Dämon gehorchten? Hatte er Friedrich nach dem Treffen in der Disco hierhergebracht, damit durch die Beschwörung, bei der Michaels Informant getötet worden war, der Dämon in den jungen Mann aus Nürnberg fahren konnte? Die zeitliche Abfolge, die sich aus den Indizien ergab, erschien plausibel. Michael beschloss, dieser Spur schnellstmöglich nachzugehen, da es derzeit der einzige Anhaltspunkt war, an dem er ansetzen konnte, um Nachforschungen über die Pläne des Dämons und die Hintergründe all dessen anzustellen.

Als im Flur energische Schritte laut wurden, richtete sich Michael rasch auf. Die Visitenkarte hielt er noch immer in der Hand. Aus einem Impuls heraus, den er sich selbst nicht hätte erklären können, steckte er die Karte eilig in die Hosentasche. Erst dann wandte er sich zur Tür um.

Der diensthabende Inquisitor des Bereitschaftsdienstes in dieser Nacht, Peter König, kam wie ein Wirbelsturm ins Zimmer gefegt und verzog angewidert das Gesicht: »Hier stinkt’s ja noch schlimmer als in einer beschissenen Ghul-Brutstätte. Wie soll man bei dem Gestank vernünftig arbeiten?«

Peter König war ein Mensch, der nicht lange still und regungslos an einem Fleck stehen oder sitzen konnte. Ständig bewegte er sich mit gefühlten 100 km/h durch die Welt und verbreitete überall, wohin er kam, hektische Betriebsamkeit, wozu nicht zuletzt auch seine physische Erscheinung ihren Beitrag leistete. Er war schätzungsweise ein Meter achtzig groß und verfügte über die eindrucksvolle Muskulatur eines professionellen Bodybuilders, stellte diese jedoch nicht demonstrativ zur Schau, sondern versteckte sie unter maßgeschneiderten Anzügen in allen denkbaren Pastelltönen. Diese trug er ständig, sodass sie zu seinem Markenzeichen geworden waren, auch wenn er damit hin und wieder spöttische Bemerkungen seiner Kollegen provozierte, auf die er entgegen seinem bedrohlich wirkenden Äußeren mit erstaunlicher Gelassenheit und Gleichmut reagierte. Er hatte ein kantiges Gesicht mit einem ausgeprägten, grübchenverzierten Kinn, das viele Leute an die Comic-Superhelden ihrer Kindheit erinnerte, und trug sein kurzes, weißblondes Haar im Stil eines amerikanischen Marine-Soldaten.

Der diensthabende Inquisitor ließ den Blick aufmerksam durch den Raum schweifen und richtete ihn auf seinen jungen Mitarbeiter, der bei seinem Erscheinen in die Höhe geschossen war, so etwas wie militärische Haltung angenommen hatte und darauf wartete, seinem Vorgesetzten Bericht erstatten zu können.

»Nun, Inquisitor Steiner, wie ist die Lage? Haben Sie noch Überlebende gefunden?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf und schluckte deutlich sichtbar, bevor er antwortete: »Negativ, Inquisitor König, keine Überlebenden in diesem Raum …« Ihm schien jäh etwas einzufallen, denn er verstummte verunsichert. Seine Augen huschten zu Michael, der abwartend dastand und die Szene beobachtete, bevor er stockend fortfuhr: »Ich meine, … keine Überlebenden mit Ausnahme … von äh … von Inquisitor Institoris.«

In den Augen des diensthabenden Inquisitors war ein belustigtes Aufblitzen zu erkennen, doch er blieb todernst, das kantige Gesicht ausdruckslos und wie in Stein gemeißelt. »Das sehe ich, Inquisitor Steiner. Gut gemacht! Es besteht kein Grund, Sie noch länger diesem erbärmlichen Gestank auszusetzen. Gehen Sie in den Speicher des Hauses und helfen Sie den Kollegen dort bei der Suche nach Flüchtigen!«

»Verstanden, Inquisitor König. Bin schon auf dem Weg.«

Michael konnte sehen, dass sich die Miene des jungen Mannes vor Erleichterung aufhellte, bevor er so schnell aus dem Raum eilte, als befürchtete er, der Diensthabende könnte es sich anders überlegen und ihn zurückrufen. Unbestreitbar war er froh, dem Grauen und dem Gestank dieses Ortes zu entkommen.

»Na, Michael, etwas Interessantes herausgefunden?«, wandte König sich, als sie allein waren, an seinen Kollegen. »Ich kann gar nicht verstehen, wie du es so lange in diesem Schweinestall aushältst. Geh doch endlich an die frische Luft, Mann!«

 

Michael lächelte. »Du hast recht, Peter, hier ist es wirklich kaum auszuhalten. Ich werde deinen Rat auch gleich beherzigen. Vorher möchte ich dir aber noch erzählen, was ich bislang über diesen Mann herausgefunden habe, indem ich seine Taschen durchsuchte.« Er wies auf den Leichnam des Besessenen und die Gegenstände, die er danebengelegt hatte. »Sein Name lautet Alexander Friedrich, und er ist erst gestern mit dem Zug aus Nürnberg gekommen.«

»Nicht gerade der kürzeste Weg, um als Gastkörper für einen Dämon zu enden. Sonst noch etwas Interessantes?«

Michael überlegte kurz, bevor er den Kopf schüttelte. »Nein, das war im Grunde schon alles. Die Kollegen in Nürnberg sollen die Anschrift des Mannes überprüfen, vielleicht finden sie ja dort noch was heraus.«

Michael hatte ein schlechtes Gewissen, als er einen Teil seiner Erkenntnisse für sich behielt. Schon als König ihn nach ihrem Aufeinandertreffen im Flur – jeder mit der Pistolenmündung des anderen unmittelbar vor Augen – über die Ereignisse befragt hatte, hatte er seinem Kollegen nicht die ganze Wahrheit erzählt, sondern ein paar Details verschwiegen.

Er hatte zwar sämtliche Ereignisse dieser Nacht – angefangen beim Anruf seines Informanten bis zum Eintreffen der Verstärkung – detailliert und ausführlich geschildert, aber die Behauptungen des Dämons, er habe Michael bei einem Sabbat mit einer Hexe gezeugt und werde seinen Sohn notfalls zwingen, Anfang kommender Woche im Vatikan anlässlich seiner Beförderung den Papst zu töten, hatte er verschwiegen. Michael sagte sich, dass diese Informationen für die Ermittlungen ohnehin ohne Belang waren. Darüber hinaus war der Plan des Dämons fehlgeschlagen. Wozu sollte er also schlafende Hunde wecken?

In Wahrheit fürchtete er aber auch die Folgen, wenn bekannt werden sollte, dass er eventuell der Abkömmling eines Dämons und einer Luziferianerin war. In den Augen seiner Vorgesetzten und der Kirchenoberen war ein solcher Mann als Inquisitor mit Sicherheit weder tragbar noch vertrauenswürdig. Noch dazu, wo der Dämon die Macht besaß, Michaels Körper zu bestimmten Handlungen zu zwingen, was seine kleine Demonstration bewiesen hatte. Und so hatte Michael beschlossen, diese Informationen für sich zu behalten. Und soeben hatte er dem diensthabenden Inquisitor den Fund der Visitenkarte verschwiegen und damit ein Beweisstück unterschlagen.

Michael kannte König, der annähernd ebenso lang für die bayerische Inquisition tätig war wie Michael und als pflichtbewusster und zuverlässiger Inquisitor galt, nicht besonders gut. Im Gegensatz zu Michael arbeitete Peter mit Vorliebe nachts im Bereitschaftsdienst und war mittlerweile diensthabender Inquisitor, der mit zwei bis drei jüngeren Kollegen zusammenarbeitete, sie anwies und beaufsichtigte. Aus diesem Grund war es bisher eher selten vorgekommen, dass Michael und König enger zusammengearbeitet hatten.

Nachdem Michael beim Bereitschaftsdienst angerufen und dem Kollegen in knappen Worten die Sachlage erläutert hatte, hatte König umgehend den Ernst der Situation erfasst und weitere Mitarbeiter – sowohl kampferprobte Inquisitoren als auch Techniker zur Sicherung der Spuren und Beweise – aus ihren Betten gescheucht und angewiesen, unverzüglich zu der von Michael genannten Anschrift zu kommen. Dieser Weitsicht war es zu verdanken, dass am Ende außer den Männern des Bereitschaftsdienstes noch vier weitere Inquisitoren und ein halbes Dutzend Techniker vor Ort waren und es mit der großen Menge an Luziferianern aufnehmen konnten.

»Und wie ist die Lage im Haus?«, fragte Michael, um nicht nur seine eigenen Überlegungen zu beenden, sondern die Aufmerksamkeit des Diensthabenden von der Leiche des Besessenen auf andere Dinge zu lenken. »Gab es bei unseren Leuten … Verluste?«

König schüttelte den Kopf und erlaubte sich ein angedeutetes Lächeln, das seine kantige Miene kaum in Unordnung brachte. »Keine Verluste auf unserer Seite, und zum Glück nur wenig ernsthafte Verletzungen. Ein paar Kollegen haben leichtere Schürfwunden oder Prellungen davongetragen. Das lässt sich bei so einer Aktion nie vermeiden. Aber nur ein Inquisitor wurde ernsthafter verletzt, als er von einem Gestaltwandler angefallen wurde. Das Monster hat ihm das halbe Gesicht weggerissen. Er befindet sich im Krankenhaus und wird momentan operiert. Wie’s aussieht, kommt er durch. Einen Schönheitspreis wird er aber wohl nicht mehr gewinnen.«

Die Sache war zu ernst, als dass einer der beiden Männer über diesen lahmen Witz gelacht hätte, der ohnehin nur dazu gedient hatte, das eigene Unbehagen zu überspielen.

»Da hatten wir wohl noch Glück«, sagte Michael. »Wenn ich an die Größe dieser Meute denke, hätte die Geschichte auch leicht anders ausgehen können.«

»Das stimmt! Aber wir hatten das Überraschungsmoment auf unserer Seite und haben die Gegner auf dem falschen Fuß erwischt. Außerdem ist dein Beitrag zu unserem Sieg ebenfalls nicht zu verachten.« König vollführte mit der rechten Hand eine ausholende, halbkreisförmige Bewegung, um möglichst alle toten Luziferianer zu erfassen. »Beachtliche Leistung, Kollege. Ich kann mich nicht erinnern, bei einem Einsatz je so viele Luzis eigenhändig zurück in die Hölle geschickt zu haben. Wie viele Kugeln hattest du eigentlich am Ende noch übrig?«

Anstatt etwas zu sagen, reckte Michael seinen Daumen in die Höhe.

»Ist nicht wahr, oder? Nur noch eine Kugel im Lauf?«

Michael nickte.

»Verdammt noch eins. Eine einzige Kugel! Aber die hätte locker für mich gereicht. Bin echt froh, dass du nicht abgedrückt hast. Ich hätte mir beinahe in die Hose geschissen, als du wie ein irrer Kastenteufel in den Flur gesprungen und vor mir aufgetaucht bist. Du hast aber auch verdammtes Glück gehabt, dass ich vor Schreck vergessen habe abzudrücken, sonst müsste die Beförderung nächste Woche posthum erfolgen.«

Also hatte sich die Nachricht von Michael bevorstehender Ernennung zum Oberinquisitor schon bei den Kollegen herumgesprochen.

»Gratuliere, Mann. Du hast es echt verdient! Das mein ich ernst! Und da bin ich nicht der Einzige.«

Michael fühlte sich unbehaglich und winkte verlegen ab. Nachdem der diensthabende Inquisitor ihm gratuliert hatte, fühlte er sich noch schlechter, ihn hinters Licht geführt zu haben. Allerdings tröstete er sich mit dem Gedanken, dass dies nichts mit König persönlich zu tun hatte und aus gutem Grund geschah.

»Und die Luziferianer?«, fragte Michael und lenkte das Gespräch von seiner Person wieder auf den eigentlichen Grund ihres Aufenthalts in diesem Haus. »Konnten viele entkommen? Und was noch wichtiger ist: Konntet ihr Gefangene machen?«

König nickte und trat ruhelos von einem Fuß auf den anderen. Anscheinend dauerte ihm die Unterhaltung schon viel zu lang. Seine innere Unruhe ließ ihn zappelig werden, weil sie nach Bewegung und Aktion verlangte. »Ein paar konnten wohl tatsächlich entkommen. Dieses Gebäude ist ein wahrer Fuchsbau. Es gibt mindestens ein Dutzend geheime Ausgänge, und wir haben noch gar nicht alle gefunden. Die Kollegen gehen systematisch vor und durchsuchen Stockwerk für Stockwerk. Unter Umständen stöbern wir noch ein paar Luzis in ihren Verstecken auf. Bisher konnten wir ein halbes Dutzend Gefangene machen, mehrheitlich Gestaltwandler, wie mir berichtet wurde. Ich habe bereits den Gefangenentransporter angefordert. Sobald die Schwarze Lucy da ist, werden die Überlebenden ins Hauptquartier gebracht, inhaftiert und vernommen.«

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