DER ABGRUND JENSEITS DES TODES

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Aus der Reihe: Anja Spangenberg #1
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»Spangenberg.«

Sie musterte sich im Spiegel, der neben der Garderobe an der Wand hing, und begegnete dem kritischen Blick ihrer grünen Augen. Ihr herzförmiges Gesicht mit den hohen, markanten Wangenknochen und der schmalen, geraden Nase war gerötet und verschwitzt. Aber das war normal, nachdem sie wie fast an jedem Tag, an dem kein Unwetter herrschte oder Schneesturm tobte, durch den Westpark gelaufen war. Obwohl das Zwielicht im Flur ihrem Äußeren schmeichelte und die eine oder andere Unzulänglichkeit kaschierte, war Anja nicht unzufrieden mit ihrem Äußeren. Sie hätte es beileibe schlechter treffen können. Lediglich ihr Mund gefiel ihr ganz und gar nicht. Er war ihrer Meinung nach zu breit und besaß zu schmale Lippen, sodass er einen maskulinen Eindruck erweckte. Und auch ihr dunkelblondes Haar bereitete ihr fortwährend Kummer. Da es ständig zerzaust war, egal, was sie damit anstellte, hatte sie es auf Anraten ihrer Friseurin zu einer praktischen Kurzhaarfrisur schneiden lassen, die man Garçon-Schnitt nannte. Dennoch sah sie immerzu so aus, als wäre sie in einen heftigen Sturm geraten.

»Wunderschönen guten Morgen, liebste Frau Kollegin«, sagte der Anrufer.

Anja erkannte die Stimme sofort, obwohl sie mit ihrem Besitzer zum Glück nur selten zu tun hatte. Man traf sich allenfalls sporadisch, wenn sich ihre Aufgabenbereiche überschnitten, weil eine ihrer Vermissten ermordet worden war. Glücklicherweise kam das nicht allzu oft vor. Und manchmal begegnete man sich auch im Aufzug oder in der Kantine. Allerdings war seine Stimme äußerst charakteristisch. Sie klang stets etwas anbiedernd und einschleimend, vor allem, wenn er mit Vorgesetzten oder Frauen sprach.

Sie verzog missmutig das Gesicht und beobachtete sich weiterhin im Spiegel. Wenn ein Kollege vom Kommissariat 11, das für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig war und meistens nur als Mordkommission bezeichnet wurde, um sieben Uhr in der Früh anrief, konnte das nichts Gutes bedeuten.

»Morgen, Krieger. Was verschafft mir die seltene Ehre deines Anrufs?«

»Habe ich dich etwa aufgeweckt?« Er hörte sich nicht so an, als würde er das auch nur im Mindesten bedauern. Eher so, als hätte er dabei Bilder im Kopf, die ihm Freude bereiteten.

»Nein. Ich komme gerade vom Joggen.«

»Schade.« Er seufzte. »Dabei hab ich mir schon vorgestellt, dass du noch im Bett liegst, vollkommen nackt, und dich räkelst und streckst, während wir miteinander sprechen.«

»Und dabei ist dir vermutlich auch noch einer abgegangen«, versetzte Anja und schüttelte den Kopf. »Träum weiter, Krieger! Aber wie wär’s, wenn du endlich zur Sache kommst. Du rufst mich doch nicht vor der Arbeit an, um mich mit deinen sexuellen Fantasien zu belästigen. Oder bist du neuerdings unter die Stöhnanrufer gegangen?«

Anton Krieger lachte anzüglich. »Ich liebe es, wenn du mir schmutzige Kosenamen gibst, Baby.«

Anja verdrehte die Augen, während sie in die Küche ging, um die Kaffeemaschine anzuschalten, die sie schon vor dem Joggen vorbereitet hatte. »Komm endlich zur Sache, Anton!«

Krieger verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Die Benutzung seines Vornamens war ein deutliches Zeichen, dass es Anja allmählich zu bunt wurde. Er legte den Schalter um und wurde augenblicklich ernst und professionell.

»Wir haben eine weibliche Leiche.«

»Ist das etwas Neues? Ich dachte, ihr zwei seid bei der Mordkommission. Da dürfte das doch öfter vorkommen.«

Mit ihr zwei meinte Anja Kriminaloberkommissar Anton Krieger und seinen Kollegen, Kriminalhauptkommissar Peter Englmair. Die beiden waren unzertrennlich. Da einer selten ohne den anderen auftauchte, wurden sie in der Dienststelle die siamesischen Zwillinge genannt.

»Sehr witzig«, sagte Krieger, der jetzt, als es um berufliche Dinge ging, plötzlich keinen Spaß mehr verstand.

Auch Anja wurde ernst, während sie sich Kaffee in einen großen Henkelbecher goss. »Glaubt ihr etwa, dass es sich um eine meiner Vermissten handelt?«

Anja war Kriminalhauptkommissarin bei der Kripo. Sie arbeitete allerdings im Kommissariat 14, auch K14 genannt. Die sogenannte Vermisstenstelle war für Vermisste und unbekannte Tote zuständig. Wobei sich Anjas Zuständigkeit zu ihrer grenzenlosen Erleichterung auf Vermisstenfälle beschränkte, denn mit Leichen hatte sie nur äußerst ungern zu tun.

»Ja.«

»Und wer?«

»Eine Frau namens Nadine Weinhart.«

Anja hatte nach der Nennung des Namens sofort das dazugehörige Foto im Kopf. Die Mutter der Vermissten hatte es ihr gegeben. Obwohl sie mehr offene Fälle bearbeitete, als ihr lieb sein konnte, hatte sie viele Daten und Fakten im Kopf abgespeichert, um nicht ständig in den Akten blättern zu müssen. Und das Verschwinden von Nadine Weinhart war ihr aufgrund der Begleitumstände besonders zu Herzen gegangen.

Die 33-jährige Krankenschwester mit den kurzen weißblonden Haaren war vor drei Monaten verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Weder die Mutter, die sie als vermisst gemeldet hatte, noch die beste Freundin konnten sich ihr Verschwinden erklären. Sie hatten übereinstimmend erzählt, dass Nadine in den Wochen vor ihrem Verschwinden über heftige Kopfschmerzen und Übelkeit geklagt hatte. Anja hatte daraufhin mit dem Hausarzt gesprochen, der sie wiederum an den Neurologen verwiesen hatte, zu dem er seine Patientin geschickt hatte. Am Ende hatte sich Anja mit dem zuständigen Facharzt in einer radiologischen Praxis unterhalten. Er hatte bei Nadine am Tag ihres Verschwindens eine inoperable Geschwulst im Gehirn diagnostiziert. Es gab zwar die Möglichkeit, dem Tumor mit einer Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie zu Leibe zu rücken, doch die Erfolgschancen waren in Nadines Fall eher gering gewesen. Deshalb war Anja, nachdem Nadine auch nach zwei Wochen nicht wieder aufgetaucht war, insgeheim davon ausgegangen, dass sie sich das Leben genommen hatte, bislang aber noch nicht gefunden worden war. Bis heute!

»Was ist passiert? Suizid?«

Krieger lachte, allerdings absolut humorlos. »Wenn das ein Selbstmord war, dann ist es der bizarrste, der mir jemals untergekommen ist.«

»Was soll das heißen?« Anja stellte den Kaffeebecher ab, aus dem sie erst wenige Schlucke getrunken hatte.

»Es ist … kompliziert. Komm einfach her. Dann kannst du es dir mit eigenen Augen ansehen.«

»Gut. Aber ich muss erst noch unter die Dusche.«

Krieger stöhnte auf obszöne Weise. »Du glaubst ja nicht, welche Bilder mir jetzt durch den Kopf gehen.« Nachdem er ihr mitgeteilt hatte, was er hatte loswerden wollen, war er in seinen üblichen Arschloch-Modus zurückgefallen.

»So genau will ich das gar nicht wissen.« Anja war bereits auf dem Weg ins Bad, um dort die Laufschuhe abzustreifen und die Jogginghose, das Shirt, den Sport-BH und den Slip auszuziehen. »Wo finde ich dich und Englmair? Seid ihr am Tatort?«

»Ja, aber nicht mehr lange. Die Leiche wird gerade weggebracht. Deshalb treffen wir uns am besten in einer halben Stunde in der Gerichtsmedizin.«

IV

Sie duschte in Rekordzeit. Anschließend kämpfte sie fünf Minuten lang mit ihren widerspenstigen Haaren, bevor sie wie immer aufseufzend kapitulierte. Sie zog frische Unterwäsche, eine enge, graue Jeans und ein langärmliges, weißes Shirt an. Dann schlüpfte sie in schwarze Stiefeletten mit hohen, schmalen Absätzen. Zum Glück musste sie in ihrem Aufgabenbereich keine flüchtigen Verbrecher verfolgen; so etwas wäre in diesen Schuhen unmöglich gewesen. Obwohl sie das Schulterholster mit ihrer Dienstwaffe nicht trug, weil beides wie so oft in der Schublade ihres Büroschreibtischs lag, zog sie eine Blousonjacke aus schwarzer Seide über. Bevor sie ging, trank sie ihren Kaffee aus, der nur noch lauwarm war. Dann schaltete sie die Kaffeemaschine aus, schnappte sich ihren Schlüsselbund und verließ die Wohnung.

Anja bewohnte eine 78,5 Quadratmeter große 3-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock eines Hauses in der Hansapark-Wohnsiedlung, die nördlich des Westparks lag. Auf dem Weg nach unten begegnete sie ihrem Wohnungsnachbarn. Er ging wie ein Schlafwandler mit gesenktem Kopf die Stufen nach oben und bemerkte sie erst, als sie ihn ansprach.

»Guten Morgen, Raphael.«

Er blickte auf und lächelte, sobald er sie sah. Allerdings sah er müde und erschöpft aus.

Raphael Guthmann war wenige Zentimeter größer als Anja, aber ebenso schlank. Er hatte braune Augen, dunkelbraune Haare und war wie immer unrasiert. Obwohl Anja nicht auf dunkelhaarige Männer mit Dreitagebart, sondern eher auf den großen und breitschultrigen blonden Wikingertyp stand, musste sie zugeben, dass Raphael nicht schlecht aussah. Gleichwohl hatte es zwischen ihnen nie gefunkt. Sie waren lediglich Nachbarn und gute Freunde. Und das war nach Anjas Ansicht auch gut so. Erstens passte er nicht in ihr Beuteschema, und zweitens hatte sie nach der Trennung von ihrem Mann Fabian, die erst wenige Monate zurücklag, dringend eine Auszeit in Sachen Beziehung gebraucht. Und auch Raphael hatte nie erkennen lassen, dass er sich von ihr mehr als nur Freundschaft und gute Nachbarschaft erhoffte, obwohl er, seit Anja ihn kannte, Single war. Aber er war dennoch immer für sie da, wenn sie ihn brauchte. Sofern er nicht gerade in seinem Taxi saß und Leute durch die Landeshauptstadt kutschierte. Er war zuverlässig und hilfsbereit und lieh Anja ein Ohr, wenn sie kurzerhand jemanden brauchte, dem sie ihre Sorgen und Nöte anvertrauen konnte. Außerdem gingen sie oft zusammen im Westpark joggen oder gelegentlich zu einem Spiel des FC Bayern Basketball, da Anja eine Vorliebe für große Männer hatte.

»Nachtschicht?«, fragte sie. Obwohl sie es eilig hatte, nahm sie sich die Zeit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Sie hatte schon in weltrekordverdächtiger Zeit geduscht und benötigte bis zum Institut für Rechtsmedizin um diese Uhrzeit mit dem Wagen gerade einmal zehn Minuten.

 

Er nickte. Dann, als hätte ihn erst ihre Frage wieder daran erinnert, wie müde er war, riss er den Mund auf und gähnte. Schnell hob er die Hand vor den Mund. »Tschuldigung«, sagte er und zuckte mit den Schultern.

Anja winkte ab.

Raphael war Taxifahrer und wechselte sich regelmäßig mit einem Kollegen ab. Mal hatte der eine die Tagschicht und der andere die ungeliebte Nachtschicht. In der Woche darauf war es dann umgekehrt. Allerdings machte es der ständige Wechsel schwer, sich vor allem an die nächtlichen Arbeitszeiten zu gewöhnen.

Als Polizistin hatte sich Anja auch schon so manche Nacht um die Ohren schlagen müssen. Zum Glück gehörte das größtenteils der Vergangenheit an, seit sie in der Vermisstenstelle arbeitete. Dennoch wusste sie noch genau, wie es sich anfühlte, wenn man am nächsten Morgen müde und zerschlagen nach Hause kam, während alle anderen gerade aufgestanden und ekelerregend munter und fröhlich waren.

»Und was ist mit dir?«, fragte Raphael und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »So früh schon auf dem Weg zur Arbeit?«

»Sozusagen. Allerdings geht es nicht ins Büro, sondern direkt in die Rechtsmedizin.«

Er verzog angewidert das Gesicht. Er teilte diese Reaktion mit vielen anderen Menschen, sobald Anja das Wort Rechtsmedizin aussprach. Allerdings freute auch sie sich nicht darauf, den Ort aufsuchen und eine Leiche identifizieren zu müssen. Im Gegenteil, sie hasste es geradezu! Aber manchmal – zum Glück nicht allzu oft – gehörte das eben zu ihrem Job.

»Was ist passiert? Hat sich einer deiner Vermissten umgebracht?«

Anja war vor gut fünf Monaten nach der abrupten Trennung von ihrem Mann und einem vierwöchigen Aufenthalt bei ihrer Mutter in dieses Haus gezogen. Sie hatte sich schnell mit ihrem unmittelbaren Wohnungsnachbarn angefreundet. Zu den anderen Bewohnern hatte sie allerdings außer einem gelegentlichen »Grüß Gott« im Treppenhaus noch immer kaum Kontakt. Da sie nach dem endgültigen Scheitern ihrer Ehe emotional angeschlagen gewesen war, hatte sie sich anfangs mehr als einmal im übertragenen Sinne an Raphaels Schulter ausgeweint und ihm ihr Leid geklagt. Und er hatte stets ein offenes Ohr für sie gehabt, ihr aufmerksam und geduldig zugehört oder Ratschläge erteilt. Darüber hinaus hatte er versucht, sie anschließend wieder aufzurichten und ihr erschüttertes Selbstwertgefühl zu stärken. Ohne seine Hilfe hätte sie vermutlich viel länger gebraucht, die unausweichliche Trennung zu verarbeiten. Vor allem, weil sie Fabian trotz allem noch immer liebte. Außerdem hatte ihr Noch-Ehemann lange Zeit mit allen Mitteln versucht, sie dazu zu bringen, zu ihm zurückzukehren. Doch Anja wollte seine wiederholten Seitensprünge nicht länger hinnehmen und war hart geblieben. Mittlerweile war sie halbwegs darüber hinweg. Dennoch trafen Raphael und sie sich noch immer mehr oder weniger regelmäßig in einer ihrer Wohnungen und erzählten sich Anekdoten von ihrer jeweiligen Arbeit.

Anja schüttelte den Kopf. »Der Kollege von der Mordkommission, der mich anrief, meinte, dass es dann der bizarrste Selbstmord sei, den er je gesehen habe.«

»Was dann? Mord?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Aber Genaueres weiß ich erst, sobald ich die Leiche gesehen und die Todesumstände erfahren habe.«

Raphael verzog erneut das Gesicht und schüttelte sich, als würde er am ganzen Körper erschaudern. »Da kann ich mir wirklich Schöneres vorstellen, als den Tag mit einem Leichnam in der Pathologie zu beginnen. Und ich dachte, du magst keine Leichen. Deshalb bist du ja auch nicht zur Mordkommission gegangen, oder?«

»Ich mag tatsächlich keine Leichen«, sagte Anja, die während des Duschens jeden Gedanken daran verdrängt hatte, wo sie danach hinmusste und was sie dort erwartete. »Aber manchmal lässt es sich eben nicht vermeiden, dass ich dennoch mit ihnen in Berührung komme. Das bringt die Arbeit bei der Vermisstenstelle eben so mit sich. Wenigstens habe ich nicht ständig und ausschließlich damit zu tun wie die Kollegen von der Mordkommission oder die Todesermittler.«

»Na dann viel Spaß.« Raphael gähnte erneut.

Diesmal war es Anja, die missmutig das Gesicht verzog. »Von Spaß kann keine Rede sein. Vor allem, wenn es sich tatsächlich um eine meiner Vermissten handelt. Trotzdem danke. Aber jetzt muss ich los, sonst komme ich zu spät. Und für dich wird es höchste Zeit, dass du endlich ins Bett kommst. Ich wünsche dir einen erholsamen Schlaf.«

Sie verabschiedeten sich voneinander. Anschließend setzte Anja mit eiligen Schritten ihren Weg nach unten fort, während Raphael mit langsamen, müden Bewegungen nach oben stieg.

Sie machte einen kurzen Abstecher zu den Briefkästen. Dort sah sie, dass die Ecke eines beigefarbenen Umschlags aus der Klappe ihres Briefkastens herausschaute. Also öffnete sie den Kasten, entnahm ihm das Kuvert und setzte ihren Weg in die Tiefgarage fort. Sie warf einen kurzen Blick auf den Umschlag. In großen schwarzen Druckbuchstaben stand lediglich ihr Name darauf. Ein Absender war nicht angegeben. Sie war neugierig, was der Umschlag enthielt und wer ihn eingeworfen hatte. Allerdings hatte sie jetzt keine Zeit, ihn zu öffnen und sich den Inhalt anzusehen. Deshalb warf sie ihn ungeöffnet auf den Beifahrersitz, sobald sie hinterm Steuer saß, und fuhr los.

Nachdem sie die Tiefgarage hinter sich gelassen hatte, nahm sie den kürzesten Weg über die Hansastraße, den Bavariaring und die Lindwurmstraße. In der Nähe des Goetheplatzes musste sie scharf bremsen, weil ein rücksichtsloser Porsche-Cayenne-Fahrer sich unvermittelt vor ihr in ihre Spur drängte und sie schnitt. Dabei rutschte der Umschlag vom Beifahrersitz und fiel in den Fußraum. Aber das bemerkte sie in ihrer Empörung nicht. Sie hupte mehrmals und schimpfte laut, doch das beeindruckte den anderen Fahrer nicht. Er fuhr einfach weiter und bog bei nächster Gelegenheit rechts ab.

Als Anja wenige Minuten später ihr Ziel erreichte, hatte sie sowohl den Vorfall als auch den Umschlag schon wieder vergessen. Schließlich gab es momentan Wichtigeres, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste.

V

Das Institut für Rechtsmedizin der Universität München befindet sich in der Nußbaumstraße. Es besteht aus einem Altbau mit rotem Spitzdach und einem Neubau mit Flachdach, die miteinander verbunden sind. Neben dem Lehrbetrieb werden hier an drei Seziertischen jeden Nachmittag von jeweils zwei Ärzten bis zu zehn Leichen obduziert.

Anja hatte einen Parkplatz in der Nähe gefunden. Sie betrat das Institut mit einem mulmigen Gefühl im Magen und einem dicken Kloß im Hals durch den Haupteingang des Neubaus. Sie war schon ein paar Mal hier gewesen, allerdings nie freiwillig. Aber das war vermutlich bei den wenigsten Menschen der Fall, die hier landeten. Immerhin kannte sie den Weg zu dem weiß gekachelten Sezierraum im Keller, in dem außer den beiden Kollegen von der Mordkommission eine weibliche Leiche auf sie wartete.

Der Geruch, der sie im Kellergeschoss empfing, war eine Mischung aus Formaldehyd und süßlich-bitterer Verwesung. Er verursachte bei ihr augenblicklich Übelkeit. Und je näher sie der Quelle der Gerüche kam, desto intensiver wurde sie. Ihre Schritte hallten von den grauen Wänden wider, als sie im kalten Licht der Neonröhren dem Gang folgte. Sie begegnete auf ihrem Weg niemanden, als wäre das Institut ausgestorben. Allerdings hörte sie Geräusche hinter den geschlossenen Türen, die sie passierte. Da es hier unten kühl war, fröstelte sie trotz ihrer Blousonjacke; aber vermutlich nicht nur deshalb.

Die Tür des Sezierraums stand offen. Anja trat zögerlich ein, ohne anzuklopfen. Sie war erleichtert, dass die siamesischen Zwillinge Krieger und Englmair schon da waren und auf sie warteten. Die Aussicht, an diesem Ort mit einer Leiche als einziger Gesellschaft auf das Eintreffen der Kollegen warten zu müssen, hatte ihr auf dem ganzen Weg hierher Unbehagen bereitet.

Die beiden Männer sahen auf, als sie den Raum betrat. Englmair lehnte an der gekachelten Wand. Er hielt ein Handy in der Hand, als hätte er eine SMS geschrieben oder seine Mails gecheckt. Krieger hingegen hatte den Seziertisch mit der Leiche umrundet, als wäre er ein ruheloser Tiger und der Leichnam darauf seine Beute, die er bewachen musste.

»Da ist unsere frisch geduschte Joggerin ja endlich«, sagte er in seiner anzüglichen Art und musterte sie aufmerksam von oben bis unten. Anja fühlte sich sofort unbehaglich. »Schöne Schuhe. Sind die neu?«

Anja schüttelte den Kopf. Sie war in der Nähe der Tür stehen geblieben und vermied es bislang krampfhaft, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen. Diese war mit einem weißen Tuch abgedeckt, unter dem sich lediglich ihre Konturen abzeichneten. »Wieso willst du das wissen, Krieger? Hast du vor, dir die Gleichen zu kaufen?«

Krieger verzog missmutig das Gesicht. Er verspottete andere für sein Leben gern, war aber ungern Ziel des Spotts anderer. Englmair lachte amüsiert, während er sein Handy wegsteckte.

»Morgen, Englmair«, begrüßte Anja ihn.

»Morgen, Kollegin.«

Die beiden Beamten der Mordkommission arbeiteten schon seit mehreren Jahren zusammen und waren ein eingespieltes Team. Obwohl sie charakterlich nicht unterschiedlicher hätten sein können, waren sie sich äußerlich im Laufe der Zeit wie Hund und Herrchen immer ähnlicher geworden. Wobei Anja nicht wusste, wer in ihrem Fall der Hund und wer das Herrchen war.

Beide hatten eine ähnliche Statur und waren leicht übergewichtig. Bei Anton Krieger war das von Anfang an der Fall gewesen. Peter Englmair hatte hingegen anfangs mindestens zehn Kilo weniger gewogen und erst ganz allmählich Gewicht zugelegt. Krieger war mit seinen eins siebzig allerdings zehn Zentimeter kleiner als sein Kollege. Gemeinsam hatten sie auch die Frisur, denn sie rasierten sich ihre Schädel. Krieger tat es aus Notwendigkeit, da er allmählich immer kahler geworden war, bis von seinem haselnussbraunen Haupthaar nur noch ein erbärmlich dünner Kranz übrig geblieben war. Warum Englmair es tat, der noch immer volles dunkelblondes Haar besaß, wusste hingegen niemand.

»Ist das die Tote?«, fragte sie, ohne auf den zugedeckten Leichnam zu deuten. Das war auch nicht nötig, schließlich war es die einzige Leiche im Raum.

»Nein.« Krieger grinste ölig. »Das ist der Gerichtsmediziner, den Peter und ich vor fünf Minuten um die Ecke gebracht haben.« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich ist sie das! Oder siehst du hier noch eine andere Leiche herumliegen.«

Anja ließ sich von ihm weder irritieren noch provozieren. Je weniger sie auf seine Boshaftigkeiten einging, desto weniger Spaß hatte er daran. Und desto eher würde er auch damit aufhören. Krieger war eindeutig der aggressivere und angriffslustigere Teil des Mordermittler-Duos. Englmair war hingegen eher der väterliche und verständnisvolle Kumpeltyp. Die beiden ergänzten sich hervorragend und bildeten ein gutes Team. Sie mussten nicht einmal schauspielern, um mit einem Tatverdächtigen Guter-Polizist-böser-Polizist zu spielen.

»Wo habt ihr sie gefunden?«

»Wir haben sie überhaupt nicht gefunden«, entgegnete Krieger. »Das hat ein netter, älterer Herr für uns erledigt. Er ging mit seinem Zamperl Gassi und erlitt den Schock seines Lebens. Ein Wunder, dass er dabei nicht aus seinen Haferlschuhen gekippt ist und einen Herzkasperl erlitten hat.«

»Bevor wir dir Näheres über den Auffindeort und die Todesumstände erzählen, sollten wir zunächst klären, ob es sich tatsächlich um deine Vermisste handelt.« Englmair stieß sich von der Wand ab und trat an den Edelstahltisch heran.

»Wie habt ihr sie überhaupt identifiziert?«

»Vor allem anhand einer Tätowierung am linken Fußknöchel und eines Muttermals in der rechten Achselhöhle.« Englmair nahm mehrere zusammengefaltete Blätter aus der Innentasche seiner Lederjacke. Er entfaltete sie und hielt sie Anja entgegen. »Als wir die beiden Merkmale zusammen mit ihrer Körpergröße sowie der Haar- und Augenfarbe in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen eingaben, erzielten wir sofort einen Treffer. Auf diese Weise bekamen wir den Namen deiner Vermissten.«

Die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen, kurz Vermi/Utot, wird beim Bundeskriminalamt geführt. Sie soll die Ermittlungsbehörden dabei unterstützen, anhand detaillierter Personenbeschreibungen und anderer Identifizierungshilfen Zusammenhänge zwischen vermissten Personen und unbekannten Leichen oder unbekannten hilflosen Personen herzustellen. Die Datei wird täglich aktualisiert, indem neue Vermisstenfälle aufgenommen, Veränderungen übernommen und erledigte Vermisstenfälle gelöscht werden. Dadurch ist sie immer auf dem aktuellsten Stand. Sie bietet die Möglichkeit, die komplette Personenbeschreibung einer vermissten Person aufzunehmen oder zu recherchieren. Die Datei enthält momentan annähernd 11.500 Fälle, darunter etwa 9.600 über vermisste Personen. Manche von ihnen klären sich innerhalb weniger Tage wieder auf. Andere Vermisste bleiben für immer verschwunden. Täglich werden etwa 250 bis 300 Fälle aufgenommen oder entfernt.

 

Trotz ihres Widerwillens wegen der Leiche auf dem Seziertisch musste Anja näherkommen, um die Papiere entgegenzunehmen. Wenigstens zitterte ihre Hand nicht allzu stark, als sie danach griff.

Es handelte sich um Computerausdrucke der Vermisstenanzeige. Sie enthielt unter anderem die Personalien der Vermissten. Daneben eine detaillierte und umfassende Personenbeschreibung einschließlich aller individuellen körperlichen Besonderheiten. Außerdem die Beziehung der anzeigenden Person zur Vermissten sowie die konkreten Umstände und möglichen Ursachen und Beweggründe des Verschwindens.

Anja blätterte zum dreiseitigen Folgeblatt der Vermisstenanzeige mit der ausführlichen Personenbeschreibung. Der Bereich »Tätowierungen« auf der zweiten Seite, in dem die Lage und das Motiv der Tätowierung vermerkt waren, die Englmair erwähnt hatte, war mit gelbem Textmarker hervorgehoben worden. Auf der nächsten Seite befand sich ein Körperschema, das Front- und Rückenansicht zeigte. Dort waren die exakten Positionen der Tätowierung und des Muttermals eingezeichnet.

Anja ließ die Blätter sinken. Sie sah zuerst Englmair und dann Krieger mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wenn die Tätowierung, das Muttermal, die Haar- und Augenfarbe sowie die Größe mit der Vermisstenmeldung übereinstimmen, habt ihr sie ja praktisch schon eindeutig identifiziert. Wozu braucht ihr mich dann eigentlich noch?«

»Es ist dein Vermisstenfall«, erinnerte Englmair sie. »Du hast dich intensiv mit der Vermissten beschäftigt, Fotos von ihr gesehen, ihre Wohnung durchsucht und mit ihren Angehörigen und Freunden gesprochen. Du kennst sie von uns dreien am besten. Wenn sie außer ihrer Mutter jemand identifizieren kann, dann du.«

Er hatte recht. Wurde bei einer Anfrage in der Datei Vermi/Utot eine Übereinstimmung zwischen einer unbekannten Leiche und einer vermissten Person festgestellt, wurden umgehend die beteiligten Dienststellen informiert. Sie mussten dann einen Abgleich der Merkmale der unbekannten Leiche mit der Personenbeschreibung der vermissten Person durchführen. Deshalb riefen die Kollegen von der Mordkommission oder die Todesermittler in einem derartigen Fall das K14 zu Hilfe. Und sie war nun einmal die zuständige Ermittlerin der Vermisstenstelle, auch wenn sie sich den Anblick des Leichnams liebend gern erspart hätte. Doch wie es schien, kam sie nicht darum herum.

»Außerdem …«, begann Krieger, verstummte aber sofort wieder, als wüsste er nicht weiter. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sah zu Boden.

»Was?« Anja sah Englmair alarmiert an.

Der schürzte die Lippen, bevor er sagte: »Am besten, du siehst es dir selbst an.« Anschließend griff er nach dem Tuch, das die Leiche bislang verhüllt hatte. Er zog es so ruckartig zur Seite, als wäre er ein Bühnenmagier, der dem Publikum beweisen wollte, dass er die regungslose Person unter dem Tuch durch Zauberei hatte verschwinden lassen.

VI

Tu’s bitte nicht!, hätte Anja beinahe gerufen und nach der Hand des Kollegen gegriffen, um ihn daran zu hindern. Sie unterließ es. Stattdessen schloss sie die Augen, um sich innerlich gegen den Anblick zu wappnen, bevor sie sich ihm aussetzte.

Als Raphael vor der Fahrt hierher im Treppenhaus erwähnt hatte, dass sie keine Leichen mochte, hatte er recht gehabt. Es war allerdings nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit verabscheute sie menschliche Leichname und konnte ihren Anblick kaum ertragen. Dennoch war sie in ihrem Job gelegentlich gezwungen, den körperlichen Überresten vermisster Personen gegenüberzutreten. All denjenigen, die durch eigene oder fremde Hand oder einfach nur durch einen dummen Unglücksfall ums Leben gekommen und deshalb eine Zeitlang verschwunden waren, bis man irgendwann ihre Leichen fand. Um dem Anblick toter Menschen ganz aus dem Weg zu gehen, hätte sie sich schon in eine andere Abteilung versetzen lassen müssen. Irgendwohin, wo sie nicht das Geringste mit Leichen zu tun gehabt hätte. Oder sie hätte ihren Job bei der Polizei quittieren müssen. Aber beides wollte sie nicht, denn sie liebte ihre Arbeit in der Vermisstenstelle. Also musste sie hin und wieder in den sauren Apfel beißen und ihren extremen Widerwillen überwinden, der beinahe die Ausmaße einer Phobie hatte. Sie schwor sich ständig, es wäre das letzte Mal, dass sie sich so etwas antat. Doch hinterher war sie stets so erleichtert, es wieder einmal überstanden zu haben, dass sie ihren Schwur prompt vergaß. Bis sie, so wie heute, erneut vor einem Seziertisch stand und gegen ihre größte Angst ankämpfen musste.

Anja war klar, dass sie die Augen nicht ewig davor verschließen konnte. Außerdem wollte sie nicht, dass die Kollegen mitbekamen, was mit ihr los war. Bislang hatte sie ihr Handicap erfolgreich vor allen verheimlichen können.

Unmittelbar bevor sie die Augen öffnete, hatte sie das Bild eines aufgedunsenen, bläulich-violett verfärbten Gesichts mit heraushängender blauer Zunge im Kopf. Doch sie verdrängte es sofort wieder in die Tiefen ihrer Erinnerung, wo es sich vor Jahren eingebrannt hatte. Gleichzeitig stählte sie sich innerlich gegen den Anblick.

Normalerweise half es ihr, sich zunächst auf Einzelheiten zu konzentrieren und die Leiche nicht in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen. Erst hinterher, sobald sie den Blick abgewandt und den Leichnam nicht mehr vor Augen hatte, setzte sie die Details dann wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammen. Auf diese Weise war der Anblick für sie leichter zu ertragen.

Diese bewährte Vorgehensweise funktionierte hier und heute allerdings nicht. Denn auf das, was sie vor sich sah, war sie nicht im Mindesten vorbereitet. Dabei hätte die Reaktion der beiden Mordermittler sie vorwarnen müssen. In Filmen hatte sie zwar schon Schlimmeres gesehen, doch das hier war die Realität, das echte Leben. Anja schnappte daher erschrocken nach Luft, obwohl sie das bei den vorherrschenden Gerüchen an diesem Ort besser gelassen hätte. Zugleich trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück.

Die Leiche auf dem stählernen Seziertisch war auf den ersten Blick kaum noch als menschliches Wesen zu identifizieren. Sie war bis aufs Skelett abgemagert und erinnerte unwillkürlich an eine Mumie. Die Haut wirkte extrem dünn, als würde sie jeden Moment reißen. Sie spannte sich über den Knochen, von denen sich jeder einzelne so deutlich abzeichnete, als handelte es sich um ein Anschauungsmodell für den Anatomieunterricht. Die einzige Ausnahme hiervon bildeten zahlreiche dunkle Beulen, hauptsächlich unter den Armen und in der Leistengegend.

»Was … was ist mit ihr geschehen?«

»Das wissen wir noch nicht.« Krieger starrte mit einem Ausdruck des Abscheus auf die Tote. »Sie wird erst heute Nachmittag obduziert.«

»Der Gerichtsmediziner, der sie am Tatort untersucht hat, meinte, dass sie längere Zeit gehungert haben muss«, erläuterte Englmair. »Vielleicht ist sie am Ende sogar verhungert. Anzeichen für einen gewaltsamen Tod oder Spuren, die auf heftige Gegenwehr oder einen Kampf hindeuten, gibt es bislang nicht. Sie hatte lediglich eine schlecht verheilte Schramme am Knie und wunde, teilweise entzündete Hand- und Fußgelenke. Außerdem zahlreiche Wundmale am Rücken. All das deutet darauf hin, dass sie lange Zeit gefesselt gewesen sein und auf dem Rücken gelegen haben muss.«