DER ABGRUND JENSEITS DES TODES

Text
Aus der Reihe: Anja Spangenberg #1
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sie wusste, dass er sie töten würde. Das hatte er ihr bereits an jenem ersten Abend im Auto gesagt. Bislang hatte er ihr aber nicht verraten, wie er sie umbringen würde. Eine Zeitlang hatte sie gedacht, er wollte sie verhungern lassen, da er ihr am Anfang nur Wasser gebracht hatte. Doch nach einer Weile hatte es gelegentlich auch ein bisschen Zwieback gegeben. Nie genug, um satt zu werden und das knurrende Loch, in das sich ihr Magen schon nach kurzer Zeit verwandelt hatte, zu stopfen. Aber dennoch ausreichend, damit sie nicht verhungert war. Allerdings war sie im Laufe ihrer Gefangenschaft immer mehr abgemagert. Mittlerweile glich sie eher einem mit dünner Haut überzogenen Skelett als einem lebenden Menschen. Sie hatte keinen Spiegel, um sich darin zu betrachten; und insgeheim war sie froh darüber. Doch was sie von ihrem nackten, ausgemergelten Körper sehen konnte, genügte ihr, um davon auf den Rest zu schließen.

Hinzu kamen die Schmerzen. Anfangs waren es nur die peinigenden Kopfschmerzen gewesen, die sie bereits vor ihrer Bekanntschaft mit Johannes geplagt hatten. Ihr Arzt hatte ihr ein Schmerzmittel verschrieben, mit dem sie die Beschwerden einigermaßen in den Griff bekommen hatte. Doch nachdem sie an diesem Ort gelandet war, hatte Johannes ihr nicht erlaubt, etwas gegen die Schmerzen einzunehmen. Sie kämen von Gott, hatte er behauptet, und deshalb müsste Nadine sie ertragen. Außerdem wären sie ein Teil ihres Leidensweges und würden ihr Opfer nur umso wertvoller machen.

»Welches Opfer?«, hatte Nadine ihn gefragt. Obwohl sie geahnt hatte, dass er damit ihren Tod meinte. Doch er hatte nicht geantwortet, sondern nur milde gelächelt und ohne ein weiteres Wort ihr Verlies verlassen.

Sie wusste nicht viel über Gott, da sie in einem atheistischen Haushalt aufgewachsen war. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Gott, der die Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hatte, seine Schöpfung mit derartig intensiven Schmerzen bestrafen würde. Und wofür wurde sie überhaupt bestraft? Sie hatte doch nichts getan! Und wieso sollte sie sich opfern?

Doch auf all diese Fragen war Johannes ihr bislang eine Antwort schuldig geblieben. Nur am ersten Abend im Auto war er gesprächig gewesen. Danach hatte er sich, sofern er ihr überhaupt geantwortet hatte, auf knappe, einsilbige Aussagen beschränkt.

An die stechenden Kopfschmerzen hatte sie sich allmählich gewöhnt. Und das, obwohl sie von Tag zu Tag intensiver wurden. Kaum zu glauben, woran sich der Mensch gewöhnen konnte, wenn er keine andere Wahl hatte. Aber es blieb nicht bei den Schmerzen im Kopf. Mittlerweile tat ihr ganzer Körper weh und fühlte sich überall wund an. Nach dem Aufwachen hatte sie meistens das Gefühl, sie hätte auf dem Rost eines Grills über glühenden Kohlen geschlafen und wäre dabei auf kleiner Flamme langsam durchgebraten worden. Sämtliche Muskeln schmerzten, auch wenn sie in letzter Zeit kaum noch benutzt wurden. Und wenn sie sich doch einmal bewegte, um eine andere, weniger schmerzhafte Liegeposition zu finden, wurde der stetige Schmerz zu einem intensiven Stechen, als hätte sie einen Muskelkrampf. Deshalb rührte sie sich inzwischen kaum noch. Außerdem hatte sie von Tag zu Tag immer weniger Kraft dafür übrig.

Wenigstens hatte sie keine Hungergefühle mehr. Darunter hatte sie am Anfang am meisten gelitten. Zuerst hatte ihr Magen nur geknurrt. Dann war die Leere in ihm konstant größer geworden, bis er sich verkrampft und sie sich unter heftigen Schmerzen auf der Matratze gekrümmt hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, ihr Magen wäre ein schwarzes Loch, das sich immer weiter ausdehnte und dabei allmählich den Rest ihres Körpers in sich hineinsaugte und verschlang. Aber irgendwann waren diese Schmerzen vergangen. Und seitdem hatte sie auch keinen Hunger mehr.

Obwohl sie gerade erst erwacht war, war Nadine dennoch todmüde. Wie stets war die Schlafperiode zu kurz und wenig erholsam gewesen. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie geträumt hatte. Sie hatte ohnehin das Gefühl, schon lange nicht mehr geträumt zu haben. Wovon sollte sie auch träumen? Von einem besseren Leben? Von einem Ende ihrer Gefangenschaft und ihrer Qualen?

Wäre es nicht so kräftezehrend und schmerzhaft gewesen, hätte sie über diese Gedanken gelacht.

Manchmal erwachte sie dennoch in der Hoffnung, dies alles – das kistenartige Verlies, ihr Peiniger und die Schmerzen – wäre nur ein böser Traum. Doch sobald der Schmerz, ihr treuer Begleiter, sich zurückmeldete, zerbrach die Hoffnung wie ein Spiegel in hunderttausend Scherben.

Anfangs hatte sie sich noch gegen ihr Schicksal aufgelehnt. Sie hatte an ihren Fesseln gezerrt, bis ihre Hand- und Fußgelenke geblutet hatten. Und sie hatte geschrien, bis sie vor Heiserkeit keinen Ton mehr herausbrachte. Aber irgendwann hatte sie einsehen müssen, dass sie damit nur ihre Kraft verschwendete, und sich in ihr Schicksal ergeben. Inzwischen war sie zu kraftlos, um etwas anderes zu tun, als auf den Tod zu warten. In welcher Form auch immer er zu ihr kam.

Sie war sogar schon so weit, dass sie sich beim Einschlafen jedes Mal wünschte, sie würde nicht mehr aufwachen. Dann hätte diese Tortur endlich ein Ende. Ein Dasein ohne Schmerzen konnte sie sich schon gar nicht mehr vorstellen. Deshalb begrüßte sie alles, was ihnen ein Ende bereiten würde. Und wie schön wäre es, Johannes am Schluss ein Schnippchen zu schlagen, weil die Geschwulst in ihrem Kopf, die für ihre Kopfschmerzen verantwortlich war, sie tötete, bevor er sie umbringen konnte. Besser könnte sie sich nicht an ihm rächen.

Doch zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung wachte sie, so wie heute, jedes Mal erneut auf, um einen weiteren Tag voller Schmerzen und Qualen zu erdulden, bis Johannes sich endlich ihrer erbarmte und sie tötete.

III

Wie lange sie schon hier war, wusste Nadine nicht. Sie hatte schon frühzeitig jegliches Zeitgefühl verloren. Sogar Mr. Tumor schien verwirrt zu sein. Vor ihrer Gefangenschaft hatte er sie vor allem nachts und am frühen Morgen am heftigsten geplagt. Jetzt wütete er vierundzwanzig Stunden am Tag, als wollte er damit seinen eigenen Unmut über die Situation zum Ausdruck bringen.

Nadine war sich darüber bewusst, dass sie der Geschwulst zu viele menschliche Eigenschaften und Charaktermerkmale verlieh. Nach einer Weile hatte sie sogar angefangen, sich mit ihr zu unterhalten. Inzwischen behandelte sie den Tumor beinahe wie einen Mitgefangenen. Aber schließlich war er die einzige verlässliche Gesellschaft, die sie an diesem furchtbaren Ort hatte.

Sie stellte sich vor, dass die Geschwulst in ihrem Kopf ebenfalls Hunger litt. Immerhin ernährte sie sich wie ein Parasit von ihrem Wirt. Und wenn Nadine kaum noch zu essen bekam, musste auch der Tumor sich einschränken und fasten. Das einzig Positive daran war, dass er nicht mehr so schnell wachsen konnte wie früher. Vielleicht war sie nur deshalb noch immer am Leben.

Doch was genau hatte Johannes mit ihr vor? Er hatte gesagt, er wollte sie für die Rettung der Menschheit opfern. Aber wie das vonstattengehen sollte, hatte er ihr nicht verraten. Anfangs hatte sie noch vermutet, er wollte sie verhungern lassen. Doch bevor sie tatsächlich vor Hunger sterben konnte, gab er ihr zu essen. Wenn auch nur so viel, dass sie nicht verhungerte.

Aber was plante er dann?

Der Verschlag, in dem sie sich schon seit einer gefühlten Ewigkeit befand, wurde von einem Nachtlicht erhellt. Es brannte Tag und Nacht, sodass sie nie wusste, welche Tageszeit gerade herrschte. Außerdem gab es eine Lüftung, deren stetiges Summen sie kaum noch wahrnahm. Der Raum schien darüber hinaus schallgedämpft zu sein, denn von draußen drang kein Geräusch durch die Wände. Daher hatte sie manchmal den Eindruck, um sie herum existierte nichts mehr und die Holzkiste, in der sie steckte, schwebte wie eine winzige Raumstation einsam im Weltall.

Wenn Johannes zu ihr kam, bemerkte sie es erst, sobald er den Riegel an der Tür zur Seite schob, denn sie hörte vorher nie seine Schritte. Deshalb konnte sie auch nicht sagen, wo sich der Verschlag befand. Sie mutmaßte allerdings, dass er in einem der Gebäude des einsamen Gehöfts stand. Entweder im Keller des Bauernhauses, im Stall oder in der windschiefen Scheune.

Selbst wenn die Kiste nicht schallisoliert gewesen wäre, hätte in dieser gottverlassenen Gegend niemand ihre Schreie gehört, mit denen sie anfangs noch versucht hatte, jemanden auf sich aufmerksam zu machen. In den ersten Tagen hatte sie sich regelmäßig heiser geschrien. Bis ihr aufgefallen war, dass auch keinerlei Geräusche von draußen an ihr Ohr drangen. Gleichwohl hatte sie noch eine Weile trotzig damit weitergemacht. Bis sie sich schließlich eingestehen musste, dass es sinnlos war. Aber da wurde sie ohnehin allmählich zu schwach, um ihre wenige Energie noch länger mit Schreien zu vergeuden.

Nadine erschrak nicht, als urplötzlich der Riegel zurückgeschoben und damit Johannes’ Ankunft angekündigt wurde. Sogar dafür fehlte ihr die Kraft. Da sie weder die Tages- noch die Uhrzeit kannte, wusste sie nicht, ob er kam, um den Eimer auszuleeren oder ihr Wasser und Zwieback zu bringen. Dennoch kam ihr sein Auftauchen aus irgendeinem Grund merkwürdig vor.

Sie hob mühsam die Augenlider, die sich anfühlten, als wären schwere Gewichte daran befestigt, bis sie aus schmalen Schlitzen dabei zusehen konnte, wie sich die niedrige Tür nach außen öffnete. Johannes kam gebückt herein und kauerte sich weniger als einen halben Meter von ihr entfernt nieder. Sie hätte aufspringen und die Hände um seinen Hals legen können, wenn sie die Kraft dazu besessen hätte. Die Ketten ließen ihr genug Spielraum. Doch ihr ausgemergelter, kraftloser Körper war dazu nicht länger in der Lage.

Wie immer lächelte Johannes gütig. Als wäre er tatsächlich der Geistliche, der er gern geworden wäre, und sie eins seiner Schäfchen, das von ihm den priesterlichen Segen erhoffte. Seine sanften Augen sahen sie voller Anteilnahme an. Dann wanderte sein Blick an ihrem nackten Körper entlang. Allerdings nicht begehrend oder lüstern. Was er sah, schien ihm Unbehagen zu bereiten, denn er verzog das Gesicht. Aber nicht vor Ekel, sondern so, als würde er ihr Leid und ihre Qualen nachempfinden können.

 

Nadine hatte geahnt, dass sein heutiger Besuch etwas Besonderes war und aus dem Rahmen des Üblichen fiel. Und als sie jetzt sah, was er in der Hand hielt, wurde ihre Ahnung bestätigt.

Sie hatte sich während ihrer Gefangenschaft unzählige Male gefragt, auf welche Art und Weise er sie töten würde. Dabei hatte sie zahlreiche Szenarien in Gedanken durchgespielt. So hatte sie sich unter anderem vorgestellt, dass er mit einem Messer, einer Pistole oder einem Seil in der Hand zu ihr kommen würde, um sie zu erstechen, zu erschießen oder zu erdrosseln. Keine dieser Vorstellungen war ausgesprochen angenehm gewesen.

Doch stattdessen hatte er nun eine Spritze dabei. Sie war mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt.

Das passte auch eher zu ihm. Denn obwohl er ihr angekündigt hatte, dass er sie ermorden würde, war er nicht der Typ, der zu sinnloser Grausamkeit oder Brutalität neigte. Er tötete sie nicht, um einen Trieb zu befriedigen, oder weil er es wollte. Er tat es, weil er es für seine heilige Pflicht hielt. Auch wenn sie die Gründe dafür nicht kannte und daher auch nicht nachvollziehen konnte.

»Heute ist endlich dein großer Tag gekommen.« Er klang ihrer Meinung nach mehr denn je wie ein Priester. Allerdings vermied er es weiterhin, sie beim Namen zu nennen.

Nadine hob den Kopf ein wenig und unterdrückte dabei ein Stöhnen.

Er erwiderte ihren Blick und lächelte gütig. »In wenigen Minuten ist deine Leidenszeit zu Ende. Gott, der allmächtige Herr, wird dich zu sich holen.«

Er hob die Spritze und klopfte dagegen, damit die winzigen Luftbläschen nach oben stiegen. Anschließend drückte er mit dem Daumen auf den Kolben, sodass die Luft und ein kleiner Teil des Inhalts durch die Kanüle entweichen konnten. Er kam ein Stück näher, ergriff mit der freien Hand ihren linken Arm und suchte nach einer Vene. Er musste nicht lange suchen. Sie war so abgemagert, dass die Adern und Venen an ihrem Körper deutlich hervortraten. Er setzte die Spritze an und stach die Kanüle durch die Haut.

Der Stich war schmerzhafter, als sie Derartiges in Erinnerung hatte. Aber vielleicht war sie während der Gefangenschaft und durch das Abmagern auch nur empfindlicher geworden. Sie zuckte zusammen und seufzte.

»Was ist das?« Ihre Stimme war nur ein Hauch, kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Entweder hatte sie sich durch die Schreierei am Anfang ihrer Gefangenschaft die Stimmbänder ruiniert, oder sie waren geschrumpft wie nahezu alles andere an ihr außer ihren Knochen.

Nadine befürchtete, Johannes hätte sie nicht gehört. Sie wollte ihre Frage schon wiederholen, als er ihr doch noch antwortete.

»Fünfzehn Gramm Natriumpentobarbital.«

Der Begriff kam ihr vertraut vor. Sie hatte allerdings keine konkrete Vorstellung, was sich dahinter verbarg.

»Ein Barbiturat«, erläuterte er, während er die Lösung in ihre Armvene injizierte. »Es wurde früher als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzt. Da jedoch schon eine Überdosis von zwei Gramm zu Atem- und Herzstillstand führen kann, wird es in der Humanmedizin heutzutage nicht mehr verwendet.«

Nadine glaubte bereits, spüren zu können, wie sich das Mittel über den Blutkreislauf in ihrem Körper ausbreitete. Sie hatte aber – im Gegensatz zu früher – keine Furcht vor dem Tod. Der Zeitpunkt, an dem sich ihre natürliche Angst vor dem Ende ihres körperlichen Daseins in ein Sehnen nach der Beendigung ihrer Leiden verwandelt hatte, war längst überschritten. Inzwischen hoffte sie nur noch, dass der Tod rasch kam und gnädig zu ihr war. Und wie es aussah, wurde ihr wenigstens dieser Wunsch erfüllt.

Johannes zog die Spritze aus ihrem Arm. Er machte sich nicht die Mühe, die geringfügige Blutung zu stillen. Wozu auch? Sie starb nach der tödlichen Injektion ohnehin, lange bevor sie verbluten konnte.

Anscheinend fühlte er sich bemüßigt, ihr die Wirkung des Betäubungsmittels zu erklären. Oder wollte er die ansonsten unangenehme Stille zwischen ihnen nur mit Worten füllen? »Natriumpentobarbital wird von Sterbehilfeorganisationen verwendet. Sie schenken todkranken, sterbewilligen Menschen damit einen sanften Tod. Es wirkt schlaffördernd. Schon in wenigen Minuten wirst du in einen komatösen Tiefschlaf fallen. Anschließend setzen Atmung und Herzschlag aus. Aber davon wirst du nichts mehr mitbekommen. Du wirst also keine Schmerzen oder Qualen verspüren. Stattdessen wirst du sanft aus dem Leben scheiden.«

Nadine spürte bereits die betäubende Wirkung. Sie wurde schläfrig. Auch die Schmerzen und Qualen, die infernalischen Zwillinge, wurden zum ersten Mal seit langer Zeit schwächer.

Sie hob mühsam die Augenlider und sah ihren Mörder an. Sie wusste noch immer nicht, warum sie sterben musste. Inzwischen war es ihr allerdings gleichgültig. Dennoch hasste sie Johannes aus tiefsten Herzen. Sie hasste ihn nicht nur, weil er sie ermordete. Sie hasste ihn vor allem, weil er sie getäuscht hatte, indem er ihr zuerst Hoffnung geschenkt und dann jäh wieder genommen hatte. Das konnte sie ihm nicht verzeihen. Selbst dann nicht, wenn er sich noch so sehr bemühte, ihr wie ein selbstloser Sterbehelfer einen sanften Tod zu bereiten.

»Fahr zur Hölle!« Sie hatte kaum noch genug Kraft, die drei Worte auszusprechen. Doch sie wollte nicht sterben, ehe sie sie nicht gesagt hatte. Deshalb mobilisierte sie die letzten Energiereserven, die in ihrem abgemagerten entkräfteten Körper steckten. Befriedigt sah sie, dass er zusammenzuckte und betroffen das Gesicht verzog. Dann schloss sie die Augen, da ihre Lider zu schwer waren, um sie noch länger offen halten zu können. Der Schmerz war mittlerweile nahezu vollständig abgeklungen. Immerhin dafür war sie unendlich dankbar.

»Nein!«, widersprach Johannes vehement. »Im Gegenteil. Wir werden uns im Himmelreich wiedersehen. Und sobald du erkannt hast, warum dein Tod notwendig und wichtig war, wirst du mir dankbar sein und mir verzeihen.«

Nadine bezweifelte das. Sie konnte es ihm aber nicht mehr mitteilen. Die Schläfrigkeit überrollte ihren Verstand wie eine Flutwelle den Strand und ertränkte jeden aufkeimenden Gedanken. Und hinter der Welle, das wusste sie, wartete der finstere Abgrund jenseits des Todes auf sie. Sie glaubte bereits, seinen Lockruf zu hören.

Sie sah Bilder ihrer besten Freundin Anne und ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge und verabschiedete sich von ihnen. Doch ihr letzter bewusster Gedanke galt nicht ihnen, sondern der Geschwulst in ihrem Kopf. Seit der Kopfschmerz verschwunden war, fühlte sie sich, als wären sie und der Tumor wie siamesische Zwillinge nach Jahren des Zusammenlebens durch eine aufwendige Operation voneinander getrennt worden. Beinahe empfand sie sogar so etwas wie Trennungsschmerz.

Leb wohl, Mr. Tumor!, verabschiedete sie sich von ihrem einzigen treuen Begleiter, der bis zum bitteren Ende bei ihr geblieben war. Dann übermannte sie der tödliche Schlaf und löschte alles aus, was sie jemals gewesen war.

DER ERSTE REITER

»Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donnerstimme rufen: Komm!

Da sah ich ein weißes Pferd; und der, der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben und als Sieger zog er aus, um zu siegen.«

(Offenbarung 6, 1-2)

KAPITEL 1

I

Sie stand wie festgenagelt im Erdgeschossflur des Hauses und starrte auf die Treppe, die nach oben führte. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, warum sie das tat. Sie senkte den verwirrten Blick und entdeckte das Kochmesser in ihrer Hand. Es stammte aus dem Messerblock in der Küche und war für ihre schmale Kinderhand viel zu groß. Doch statt es erschrocken fallen zu lassen, weil ihre Mutter ihr verboten hatte, die Messer in die Hand zu nehmen, schloss sie ihre Finger nur noch fester um den Griff, denn das Kochmesser vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit.

Dann fiel ihr jäh wieder ein, warum sie hier stand und die Treppe angestarrt hatte. Sie hatte von oben das Knarzen des Holzfußbodens gehört. Und das, obwohl sie allein im Haus war. Normalerweise hätte sie so etwas nicht beunruhigt. Das alte Haus, in dem sie mit ihren Eltern lebte, gab ständig irgendwelche Geräusche von sich, ohne dass jemand dafür verantwortlich war. Aber aus einem Grund, der ihr momentan nicht einfiel, hatten die Geräusche sie dennoch beunruhigt. Deshalb hatte sie das Messer an sich genommen und war von der Küche in den Flur gegangen.

Doch was jetzt?

Ohne dass sie eine bewusste Entscheidung getroffen hatte, setzte sie sich in diesem Augenblick in Bewegung. Sie ging zielstrebig auf die Treppe zu, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte.

Als hätte sie eine unheilvolle Vorahnung, wusste sie, dass sie nicht nach oben gehen, sondern besser kehrtmachen und davonlaufen sollte. Aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie trugen sie unerbittlich vorwärts. Allerdings bewegte sie sich wie in Zeitlupe und schien für die wenigen Meter, die sie von der untersten Treppenstufe trennten, eine Ewigkeit zu benötigen. Eine Ewigkeit, in der ihre Angst vor dem, was sie im Obergeschoss erwartete, immer größer wurde. Bis sie das Gefühl hatte, die Furcht würde sich in ihrem Inneren wie ein Ballon ausdehnen und sie schließlich zum Platzen bringen.

Sie wünschte sich verzweifelt, ihre Eltern kämen endlich nach Hause. Gleichzeitig wusste sie jedoch, dass das nicht so bald geschehen würde. Allerdings hatte sie keine Ahnung, woher sie diese Gewissheit nahm. Vermutlich aus derselben Quelle, aus der ihre Überzeugung stammte, dass das, was sie oben entdecken würde, schrecklich war. Es würde ihr junges Leben von einem Augenblick zum anderen verändern.

Ihr Blick war auf die Biegung der Treppe gerichtet. Beinahe als befürchtete sie, etwas könnte dahinter hervorschnellen und sich auf sie stürzen, wenn sie nicht ständig hinsah.

Dann erreichte sie schließlich die Treppe. Sie setzte ihren rechten Fuß auf die unterste Stufe, ohne einen Moment zu zögern. Während sie langsam hinaufging, starrte sie furchtsam nach oben. Ihre Füße fanden instinktiv die Stellen auf den Stufen, die sie belasten konnte, ohne dass es knarrte. Auf diese Weise verursachte sie bei ihrem Aufstieg nicht das geringste Geräusch.

Im Obergeschoss war es ebenfalls still. Was immer den Laut verursacht hatte, hatte anscheinend innegehalten.

Lauert es etwa auf mich?

Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an. Für einen Schluck Wasser hätte sie alles gegeben.

Alles bis auf das Messer in meiner Hand!

Ihr Herz klopfte schnell und heftig. Jeder Schlag erschütterte ihren schlanken Körper von Kopf bis Fuß.

Als sie die Biegung der Treppe erreichte, wurde sie noch langsamer. Sie spähte um den Bogen und sah, dass dahinter und im oberen Gang niemand auf sie lauerte. Dann ging sie vorsichtig weiter. Dabei hielt sie sich außen, wo die Stufen weniger knarrten und breiter waren. So konnte sie nicht versehentlich stolpern und in das Messer fallen. Sie hielt es so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel blutleer und weiß waren.

Sie nahm die restlichen Stufen im selben Zeitlupentempo, in dem sie sich schon die ganze Zeit bewegte, seit sie an diesem Ort zu sich gekommen war. Dabei übersprang sie die beiden obersten Stufen, denn sie knackten besonders laut, sobald sie belastet wurden. Schließlich stand sie im oberen Flur, von dem vier Türen abgingen; alle bis auf die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern waren geschlossen.

Obwohl sie wusste, dass es draußen schon längst dunkel war, konnte sie alles gut sehen, ohne Licht machen zu müssen.

Erneut widerstrebte es ihr, weiterzugehen und das zu tun, weswegen sie nach oben gekommen war. Sie wünschte sich ein weiteres Mal, ihre Eltern würden kommen. Dabei wusste sie genau, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde.

Sie hielt kurz inne, als wollten ihre Füße ihr Zeit geben, sich zu orientieren. Dann setzte sie sich gegen ihren Willen wieder in Bewegung.

Ihr Herz schlug schneller. Es wusste ebenso wie sie, dass hier oben etwas Furchtbares auf sie wartete. Die Ahnung bevorstehenden Unheils grenzte schon an konkretes Wissen und war schrecklicher, als wenn sie ahnungslos gewesen wäre. Sie hatte ständig das Gefühl, sie müsste nur konzentriert genug darüber nachdenken, um sich daran zu erinnern, um was es sich handelte. Doch sobald sie meinte, sie hätte die Erinnerung endlich erwischt, entzog sie sich ihr wieder wie ein scheuer Schmetterling.

 

Dann war dafür ohnehin keine Zeit mehr. Ihre Füße verhielten vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Die Bodendielen knarrten laut. Es war dasselbe Knarzen, das sie zuvor gehört hatte. Ohne etwas dagegen tun zu können, hob sich ihre zierliche linke Hand. Sie legte sich auf die Türklinke, die sich unter ihren Fingern warm anfühlte, so als hätte jemand sie umfasst gehabt und erst vor wenigen Sekunden losgelassen.

Tu das nicht!

Ihre innere Stimme schrie so gellend in ihrem Verstand, wie sie es ebenfalls gern getan hätte. Und sei es auch nur, um sich Erleichterung zu verschaffen. Doch es waren nicht nur ihre Beine, Füße, Arme und Hände, die ihr nicht mehr gehorchten. Ihr ganzer Körper verweigerte den Dienst.

Der Schrei in ihrem Kopf war noch nicht verhallt, da drückte ihre Hand auch schon die Klinke nach unten. Und sobald sich die Tür öffnen ließ, gab sie ihr einen Stoß, sodass sie geräuschlos aufschwang.

Sie entdeckte den Mann augenblicklich. Sein Körper bewegte sich vor ihr im Halbdunkel des Arbeitszimmers ebenfalls wie in Zeitlupe.

»Du bist ja doch zu Hause, Papa«, sagte sie.

Dann setzte die Erinnerung ein, als hätte sie schon die ganze Zeit am Rand ihres Bewusstseins auf diesen Augenblick gewartet. Sie ließ das Mädchen mit schockierender Klarheit erkennen, was sie in Wahrheit vor sich hatte.

Sie schrie noch gellender als zuvor die Stimme in ihrem Kopf. Und sie hatte nicht vor, jemals wieder damit aufzuhören.

II

Sie setzte sich ruckartig im Bett auf und atmete schwer.

Im ersten Moment wusste Anja nicht, wo sie sich befand. Sie befürchtete, sie wäre noch immer in dem schrecklichen Albtraum gefangen. Dann erkannte sie im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster fiel, dass sie sich im Schlafzimmer ihrer Wohnung befand und nicht in ihrem Elternhaus. Und sie war auch kein elfjähriges Mädchen mehr, sondern eine vierunddreißigjährige Frau.

Sie hob die Hände, die noch immer zitterten, und wischte sich damit über das Gesicht. Es war schweißnass; ebenso wie ihr restlicher Körper. Der Schlüpfer und das übergroße T-Shirt, die sie trug, klebten an ihr. Es fühlte sich unangenehm an. Allerdings war sie mittlerweile daran gewöhnt. Sie hatte diesen Albtraum in unberechenbarer Unregelmäßigkeit seit dreiundzwanzig Jahren. Dennoch war sie hinterher jedes Mal aufs Neue bis ins Mark erschüttert, nachdem sie ihr traumatischstes Kindheitserlebnis erneut so wirklichkeitsnah miterlebt hatte.

Ihr Herzschlag und ihre Atmung beruhigten sich allmählich. Gleichzeitig kühlte sich der Schweiß auf ihrer Haut ab und ließ sie frösteln. Sie machte das Licht an und sah auf die Uhr. Es war erst halb sechs. Dennoch wusste sie, dass sie an diesem Morgen keinen Schlaf mehr finden würde. Abgesehen davon musste sie sich etwas anderes anziehen. Also stand sie auf, tappte mit nackten Füßen ins Bad und machte auch dort Licht.

»Wer zum Teufel bist du denn?«, fragte sie ihr Spiegelbild. Mit dem zerknautschten, geröteten Gesicht, dem müden Blick und den teils abstehenden, teils angeklatschten Haaren hatte es nur wenig Ähnlichkeit mit ihrem üblichen Äußeren.

Anja starrte ihr Ebenbild für ein paar Sekunden mürrisch an, bis sie sich allmählich darin wiedererkannte. Auch wenn ihr noch immer nicht gefiel, was sie sah.

Sie drehte den Hahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann trank sie etwas davon aus der hohlen Hand, weil ihr Mund sich wie in ihrem Traum völlig ausgetrocknet anfühlte. Sie hätte in diesem Moment liebend gern etwas Stärkeres getrunken, ein Glas Wodka zum Beispiel. Doch das kam natürlich nicht infrage.

Anja hatte keine Ahnung, was sie mehr hasste. Den ständig wiederkehrenden Albtraum, der einem Kindheitserlebnis entsprungen war, das sie am liebsten längst vergessen hätte. Oder die Zeit unmittelbar danach, wenn sie den Lockruf besonders intensiv spürte.

Der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes!

Sie wusste nicht, wie sie es sonst nennen sollte. Anja stellte sich vor, dass auf der anderen Seite des Todes ein finsterer, bodenloser Abgrund gähnte. Dieser Abgrund lockte sie seit Langem; manchmal stärker und manchmal schwächer. Doch nie so spürbar wie in den Momenten, nachdem sie davon geträumt hatte, sie wäre wieder elf Jahre alt und allein in ihrem Elternhaus. Dann war der Sirenengesang so intensiv, dass sie ihm kaum widerstehen konnte.

Und wie immer, wenn das der Fall war, öffnete sie auch jetzt den Spiegelschrank und nahm die Schachtel mit den Schlaftabletten heraus. Ihr Hausarzt hatte sie ihr verschrieben, als sie eine Weile unter Schlaflosigkeit gelitten hatte. Sie hatte die Tabletten aber nicht benutzt. Stattdessen hatte sie versucht, ihre Eheprobleme, die eigentliche Ursache der Schlaflosigkeit, im Alkohol zu ertränken. Allerdings war ihr das nicht gelungen. Und seitdem ihre Ehe endgültig gescheitert war, war auch der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes stärker geworden. Deshalb bewahrte sie die Tabletten weiterhin auf. Um sie irgendwann vielleicht sogar zu benutzen, wenn der Sirenengesang schließlich übermächtig wurde und sie keinen Sinn mehr darin sah, ihm weiterhin zu widerstehen und ihr Leben fortzusetzen.

Anja starrte die Tablettenschachtel lange an und drehte sie dabei mehrmals in ihren Händen. Sie trank mittlerweile keinen Alkohol mehr, bewahrte jedoch im Küchenschrank eine Flasche Wodka auf. Einerseits, um damit ihre Willensstärke zu testen. Andererseits, um mit dem Alkohol die Tabletten hinunterzuspülen, sollte der Moment, an dem sie ihrem Leben ein Ende setzen würde, jemals kommen.

Doch auch heute war es noch nicht so weit, das erkannte sie schließlich. Sie würde ihr Rendezvous mit dem Sensenmann erneut auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.

Sie seufzte, zum Teil aus Erleichterung, zum Teil aber auch vor Enttäuschung. Schließlich wusste sie genau, dass sie in wenigen Tagen oder Wochen erneut an dieser Stelle und vor derselben Entscheidung stehen würde. Doch für den Moment hatte sie wieder ein paar Tage oder Wochen gewonnen. Und das war alles, was zählte. Auch wenn sie dabei das Gefühl hatte, sie würde ihr Leben nur schrittweise oder auf Abruf leben. Sie legte die Tabletten rasch in den Spiegelschrank zurück, als hätte sie Angst, sie könnte es sich doch noch anders überlegen, und schloss ihn.

Ihr Spiegelbild erwiderte ihren Blick mit einem mürrischen Gesichtsausdruck. Es schüttelte den Kopf, als wäre es enttäuscht über ihre feige Entscheidung.

»Leck mich!«, sagte sie und wandte sich ab.

Sie entschloss sich, die Zeit, bis sie ins Büro musste, sinnvoll zu nutzen. Wenn sie schon so früh wach war und nicht mehr schlafen konnte, konnte sie genauso gut eine Runde durch den Westpark joggen.

III

Ihr Handy klingelte im selben Moment, als sie vom Joggen zurückkam und die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss. Anja öffnete eilig die Tür, betrat den Wohnungsflur und schloss sie hinter sich wieder. Erst dann holte sie das Smartphone, das ein Lied von Rammstein mit dem Titel »Engel« spielte, aus der Tasche ihrer Jogginghose. Sie warf einen Blick auf die unbekannte Nummer, die im Display angezeigt wurde. Allerdings konnte sie nichts damit anfangen. Sie zuckte mit den Schultern, nahm den Anruf entgegen und hob das Gerät ans Ohr.