DAS BUCH ANDRAS II

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Aus der Reihe: DAS BUCH ANDRAS #2
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»Dürfte ich mit Ihrem Handy einen kurzen Anruf machen? Ich verspreche Ihnen auch, dass es nicht lange dauern wird und wirklich nur ein Ortsgespräch ist. Ich möchte einen Bekannten anrufen, damit er mich abholt. Ich bin nämlich fremd hier und kenne mich überhaupt nicht aus.«

Er benötigte nur einen Moment, um über meine Bitte nachzudenken. Meine Erklärung schien ihn von der Harmlosigkeit meiner Bitte überzeugt zu haben, denn in der kurzen Zeitspanne wurde die misstrauische Miene durch einen verständnisvolleren Gesichtsausdruck ersetzt. Schließlich nickte er erneut zum Zeichen seines Einverständnisses. »Na gut.« Er holte ein Smartphone aus der linken Hosentasche seiner weiten Jeans. »Ich wähle für Sie. Wie ist denn die Nummer?«

Vielleicht traute er mir doch nicht so ganz, was meine Behauptung anging, dass ich nur ein Ortsgespräch führen wollte, und wollte sich auf diese Weise davon überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Ich nahm es ihm unter den gegebenen Umständen allerdings nicht übel. Außerdem war es mir egal, wer von uns die Nummer wählte, solange ich nur mit Michael sprechen konnte.

Ich hob den Zettel, den Michael mir gegeben hatte und den ich noch immer in der Hand hielt, und las ihm die Nummer vor. Die Zahlen waren an diesem Ort zwar nur schlecht zu erkennen, da wir nicht in unmittelbarer Nähe einer Straßenlaterne standen, aber ich kannte die Nummer ja schon, weil ich sie erst vor wenigen Augenblicken gelesen hatte, was mir nun das Entziffern erleichterte.

Der junge Mann wählte mit einem hoch konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht und reichte mir anschließend das Gerät.

Ich hob es ans Ohr und hörte es am anderen Ende der Leitung mehrmals klingeln. Ich stellte mir vor, dass Michael in diesem Moment aus tiefstem Schlaf geweckt wurde, aus dem Bett kroch und laut fluchend zu seinem Handy stolperte, das vermutlich unter einem Stapel Klamotten lag, die er gestern getragen und vor dem Zubettgehen achtlos auf den Fußboden geworfen hatte. Schlief er möglicherweise sogar nackt und lief nun so, wie Gott ihn erschaffen hatte, durch sein Schlafzimmer?

Der junge Mann, dem das Handy gehörte, hatte sich zwei, drei Schritte zurückgezogen, um mir für das Gespräch ein wenig Privatsphäre zu gönnen, war aber noch immer nah genug, um mich rasch ergreifen zu können, falls ich doch keine harmlose nächtliche Spaziergängerin war, sondern mich in Wahrheit als gemeingefährliche Handyräuberin entpuppen sollte. Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, wenn er erfahren hätte, dass ich wie ein fünftklassiger amerikanischer Kinogangster eine geladene Pistole mit Schalldämpfer im Hosenbund stecken hatte. Doch da ich meinen Helfer in der Not nicht erschrecken wollte und außerdem gerade der denkbar schlechteste Moment für derartigen Blödsinn war, ließ ich die Waffe an Ort und Stelle stecken.

Ich warf dem jungen Mann einen entschuldigenden Blick zu und drehte mich weg, sodass ich seinen ungeduldigen Blick nicht länger erwidern musste und mich ungestörter fühlte.

Woher willst du überhaupt wissen, dass Michael tatsächlich allein in seinem Bett schläft, dachte ich und führte damit unwillkürlich meinen zuvor begonnenen Gedankengang über seine Schlafgewohnheiten fort. Dabei handelt es sich doch nur um reines Wunschdenken! Missmutig musste ich meiner besserwisserischen inneren Stimme recht geben. Eigentlich wusste ich so gut wie nichts über Michaels Privatleben. Allerdings war ich wegen der Art und Gefährlichkeit seiner Arbeit stillschweigend davon ausgegangen, dass er keine Frau hatte, die zu Hause auf ihn wartete, während er unter falschem Namen Satanistengruppen infiltrierte. Aber vielleicht war er unter seiner wahren Identität glücklich verheiratet und hatte zwölf Kinder.

Bevor ich diesen ernüchternden Gedanken in selbstquälerischer Weise weiterverfolgen konnte, ging am anderen Ende der Leitung endlich jemand an den Apparat, sodass die Verbindung doch noch zustande kam.

Michaels Stimme war für mich sogar über die Telefonverbindung unverkennbar, klang aber relativ verschlafen und undeutlich. Er gähnte laut, nachdem er sich durch die Nennung seines Nachnamens zu erkennen gegeben hatte.

»Hallo, Michael. Ich bin’s, Sandra … Sandra Dorn.« Ich glaubte zwar nicht, dass es allzu viele Sandras gab, die er kannte und die ihn mitten in der Nacht anrufen würden, hatte mich aber nach kurzem Zögern dazu entschlossen, meinen vollen Namen anzugeben, um Missverständnisse oder Nachfragen à la »Sandra wer?« zu vermeiden. »Können Sie kommen und mich abholen?«

Ich ersparte es mir, ihn ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass er mir freiwillig seine Nummer gegeben und gesagt hatte, ich sollte ihn anrufen, wenn ich wieder mal seine Hilfe benötigte. Wer so etwas tat, musste schließlich damit rechnen, dass der andere davon Gebrauch machte, auch wenn Michael dabei unter Umständen an eine etwas angenehmere Uhrzeit gedacht hatte. Aber was konnte ich dafür, dass ich mitten in der Nacht seine Hilfe benötigte?

Trotz der Tatsache, dass ich ihn soeben aufgeweckt hatte, war Michael so freundlich, nicht auf die Tageszeit hinzuweisen, sondern kam erfreulicherweise sofort zur Sache: »Was ist passiert?«

»Das lässt sich nicht in zwei Sätzen erklären. Ich sag’s Ihnen, sobald Sie mich abgeholt haben.«

»Gut! Wo sind Sie? Im Sanatorium?«

»Nein, nicht im Sanatorium. Einen Augenblick, bitte.«

Da ich selbst keinen blassen Schimmer hatte, wo ich mich befand, fragte ich meinen freundlichen Helfer, der mittlerweile von einem Fuß auf den anderen trat, als müsste er dringend auf die Toilette. Wahrscheinlich bereute er seine Freundlichkeit schon längst und wartete ungeduldig darauf, dass ich das Gespräch wie versprochen kurz hielt und rasch beendete, damit er endlich gehen konnte. Dennoch gab er mir ohne Umschweife die benötigten Auskünfte, die ich wortwörtlich an Michael weiterleitete. Was sich der junge Mann allerdings dabei dachte, dass ich, auch wenn ich hier fremd war, absolut keine Ahnung hatte, wo ich mich befand, wusste ich nicht. Seine hochgezogenen Augenbrauen und sein verwirrter Gesichtsausdruck ließen zumindest darauf schließen, dass er sich Gedanken darüber machte, auch wenn diese allem Anschein nach in keine bestimmte Richtung führten.

»Wer befindet sich bei Ihnen?«, fragte Michael, und der Tonfall seiner Stimme klang nicht länger verschlafen, sondern ausgesprochen aufgeweckt und vor allem misstrauisch.

»Ein freundlicher Mensch, der mir sein Handy geliehen hat. Alles Weitere erzähle ich Ihnen später.« Bevor er noch andere in meinen Augen überflüssige Fragen stellen konnte, trennte ich die Verbindung kurzerhand durch einen entschlossenen Knopfdruck. Dann gab ich dem jungen Mann das Mobiltelefon zurück, damit er endlich nach Hause und aufs Klo gehen konnte.

»Danke. Möglicherweise haben Sie mir damit das Leben gerettet!«

Wahrscheinlich hielt er meine Worte für einen Scherz oder eine bloße Redewendung, denn er winkte ab und lächelte nun wieder, allem Anschein nach erleichtert, dass er endlich gehen konnte. »Keine Ursache, jederzeit wieder.« Er steckte das Handy in die Tasche, hob lässig die Hand zum Abschied und marschierte dann an mir vorbei und zielstrebig davon.

Ich konnte ihm nicht verdenken, dass er meine Äußerung nicht ernst genommen hatte. Mir wäre es an seiner Stelle vermutlich nicht anders ergangen. Mir war jedoch klar, dass es sich dabei durchaus um die Wahrheit handeln konnte. Unter Umständen waren Klapp und seine Kollegen nämlich noch immer auf den Straßen unterwegs und auf der Suche nach mir, auch wenn ich dafür bislang zum Glück keine Anzeichen entdeckt hatte. Aber sobald ich sie zu Gesicht bekäme, wäre es vermutlich ohnehin zu spät. Und falls die Entfernung zu dem Attentäter, der mich entdeckt hatte, groß genug wäre, würde ich ihn möglicherweise nicht einmal sehen oder auch nur das Geräusch der schallgedämpften Waffe hören, bevor die Kugel mich traf und meinem Leben ein rasches Ende bereitete.

Um mein Glück nicht über Gebühr herauszufordern, und weil ich mich, als ich hier mitten auf dem Bürgersteig stand, wie auf dem Präsentierteller und allem, das zufälligerweise um die nächste Ecke biegen mochte, schutzlos und hilflos ausgeliefert fühlte, suchte ich nach einem Versteck, in dem ich die Zeit bis zu Michaels Ankunft wesentlich geschützter hinter mich bringen konnte. Nicht weit von mir, nur wenige Schritte entfernt, befand sich eine größere Wohnanlage. Vor der Anlage stand ein selbst im schwachen Mondlicht extrem hässlicher Holzverschlag, in dem die Mülltonnen der Hausbewohner gelagert wurden. In einer finsteren Ecke unmittelbar hinter diesem Verschlag wollte ich mich verborgen halten. Dort konnte ich von der Straße aus nicht entdeckt werden und in Ruhe und relativer Sicherheit auf Michael warten.

Dennoch galt weiterhin die Devise: Je früher er hier auftauchte und mich abholte, desto eher konnte ich mich auch wieder wirklich sicher fühlen.

Kapitel 6

Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis ich dieses Ziel erreichte und das erste Mal, seit der Schrei der Nachtschwester mich aus meinem Albtraum geweckt hatte, wieder das Gefühl hatte, in Sicherheit zu sein. Und das lag bestimmt nicht nur daran, dass ich in einem die ganze Nacht geöffneten Café in ausreichender Entfernung zum Sanatorium saß, einen riesigen Cappuccino vor mir stehen hatte, der bereits zur Hälfte geleert war, und ein cremiger Bart aus aufgeschäumter Milch meine Oberlippe zierte.

Ich leckte den Milchschaum genüsslich mit der Zunge ab und gab mich dem seltenen Luxus hin, die Augen zu schließen und den Geschmack, der meinen Mund ausfüllte, noch einen Moment länger zu genießen. Zumindest für diese wenigen kostbaren Sekunden wurden all meine Probleme und sämtliche Feinde und Gegner in den Hintergrund meines Denkens verdrängt, die außerhalb dieser Räumlichkeiten weiterhin darauf lauerten, sofort wieder über mich herzufallen, sollten sie mich auch nur zu Gesicht bekommen. Dabei handelte es sich um wesentlich mehr Probleme, Feinde und Gegner, als eine Frau in meinem Alter haben sollte. Frauen meines Alters sollten prinzipiell keine Feinde haben, deren größtes Bestreben es war, sie zu opfern oder möglichst rasch um die Ecke zu bringen. Und sie sollten sich auch keine Gedanken darüber machen müssen, wie sie ihren Zwillingsbruder aus den Händen finsterer Dämonenanbeter befreien konnten. Frauen in meinem Alter sollten sich stattdessen allenfalls den Kopf darüber zerbrechen, was sie zu ihrem nächsten Date anziehen und wie sie den gut aussehenden Kerl, auf den sie ein Auge geworfen hatten, an Land ziehen konnten, bevor eine andere ihnen zuvorkam.

 

Apropos gut aussehender Kerl! Ich öffnete die Augen wieder und sah Michael an, der mir an unserem Tisch unmittelbar gegenübersaß, ebenfalls in Gedanken versunken zu sein schien und gelegentlich an seinem Milchkaffee nippte.

Ich entließ die tröstende Leere, mit der ich meinen Verstand in dem verzweifelten Bemühen gefüllt hatte, alle bedrückenden Gedanken über meine gegenwärtige verzweifelte Situation für den Augenblick zu verdrängen, schluckte den mittlerweile geschmacklos gewordenen Rest des Milchschaums hinunter und richtete meine ganze Konzentration wieder auf das Hier und Heute, statt mich irgendwelchen albernen Träumereien vom sogenannten »normalen Leben« hinzugeben, das vermutlich ohnehin nur eine Illusion war. Schließlich wurden meine Probleme nicht dadurch gelöst, dass ich krampfhaft versuchte, die Realität zu verleugnen. Sie ließen sich auch nicht durch Wunschträume vertreiben oder zum Besseren verändern, sondern lauerten selbst dann noch hartnäckig hinter der nächsten Ecke auf mich.

Michaels gedankenverlorener Blick war in die Kaffeetasse gerichtet, die er zwischen seinen Händen hielt, als wollte er sich daran aufwärmen, doch ich bezweifelte, dass er deren Inhalt tatsächlich wahrnahm. Seine ganze Aufmerksamkeit war viel eher auf die Gedanken und Bilder fixiert, die gerade in seinem Kopf abliefen. So hatte ich zumindest die Gelegenheit, ihn ein paar Augenblicke ungeniert zu beobachten.

Er machte noch immer einen ebenso übermüdeten Eindruck wie in dem Moment, als ich zu ihm ins Auto gestiegen war. Ich hatte etwa fünfundzwanzig Minuten warten müssen, bis ein Wagen aufgetaucht war und zielsicher an der Stelle gehalten hatte, die ich Michael zuvor mit der Hilfe des jungen Mannes am Telefon beschrieben hatte. Allerdings war ich zu vorsichtig und vor allem zu verängstigt, um sofort aus meinem Versteck zu kommen. Erst als Michael ausstieg, sich neben das leise im Leerlauf brummende Fahrzeug stellte und suchend umsah, fiel mir eine riesige Last von den Schultern und gleichzeitig ein Teil der Anspannung von mir ab. Ich lief zu seinem Wagen, einem unauffälligen, silbermetallicfarbenen Golf 7, in den wir nach einer knappen Begrüßung rasch einstiegen.

Doch bevor wir losfuhren, zog ich Gehrmanns Pistole aus dem Hosenbund, da sie sich im Sitzen in meinen Unterleib bohrte, und das war alles andere als bequem. Michael beäugte die Waffe sichtlich überrascht, sagte jedoch nichts, sondern nahm sie mit spitzen Fingern entgegen. Anschließend wischte er sie mit einem Lappen, den er aus einem Fach der Fahrertür geholt hatte, und raschen, geübt erscheinenden Bewegungen sorgfältig ab. Vermutlich wollte er dadurch unsere Fingerabdrücke entfernen. Anschließend ließ er die Pistole im Handschuhfach verschwinden. Erst nachdem er all das erledigt hatte, fuhr er zu meiner Erleichterung los.

Bis auf den knappen Gruß hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt kein Wort gewechselt. Erst dann, während der Fahrt durch die nächtlichen Straßen, erzählte ich ihm in geraffter Form, aber gleichzeitig möglichst detailliert, was die wesentlichen Merkmale der Geschehnisse anging, alles, was ich in den letzten teilweise hochdramatischen Stunden erlebt hatte. Zu meiner eigenen Überraschung konnte ich mich auf Michaels entsprechende Frage nach kurzem Nachdenken sogar an das Kennzeichen des vorderen der beiden Fahrzeuge vor dem Sanatorium erinnern. Michael rief daraufhin mit seinem Handy jemanden an, für den die unchristliche Tageszeit anscheinend keine Rolle spielte. Möglicherweise handelte es sich um einen Kollegen beim LKA, der in dieser Nacht Bereitschaftsdienst hatte. Michael meldete sich mit seinem Namen und seiner Dienstnummer, gab das Kennzeichen durch, das ich ihm genannt hatte, und bat um Überprüfung und Feststellung des Fahrzeughalters.

Nachdem ich ihm alles berichtet hatte, was in meinen Augen relevant erschien, schlug er vor, dieses Café aufzusuchen, von dem er wusste, dass es die ganze Nacht offen war. Außerdem lag es beruhigend weit vom Sanatorium entfernt. Wir wollten uns nämlich erst einmal möglichst weit vom Sanatorium und damit auch von den Eindringlingen, die vielleicht noch immer nach mir suchten, entfernen und ein paar Stunden verstreichen lassen, bevor Michael mich wieder ins Sanatorium zurückbrachte. Er war ebenfalls der Ansicht, dass die Angreifer längst die Flucht ergriffen hatten, nachdem ich ihnen entkommen war, da sie damit rechnen mussten, dass ich die Polizei alarmierte. Wir kamen dennoch überein, vorerst lieber auf Nummer sicher zu gehen. Und bei der einen oder anderen Tasse Kaffee und vielleicht auch einem Happen zu essen würde uns die Zeit vermutlich nicht allzu lang werden. Immerhin gab es das eine oder andere wichtige Thema, über das wir uns unterhalten konnten. Dass ich mich in Michaels Gegenwart ausgesprochen wohl und sicher aufgehoben fühlte, spielte bei meinen Überlegungen bestimmt auch eine Rolle, aber beileibe nicht die entscheidende.

Nachdem wir unser weiteres Vorgehen abgesprochen hatten, erzählte mir Michael, wie er die Stunden vor meinem Anruf verbracht hatte, während er den Wagen durch die nächtlichen Straßen Münchens zu unserem Ziel lenkte. Er hatte den Rest des gestrigen Tages bis spät in die Nacht damit zugebracht, für seine Vorgesetzten beim Landeskriminalamt einen möglichst detaillierten Bericht über seine letzten Undercover-Tätigkeiten, die Umstände und Gründe meiner Befreiung und die daran anschließende Flucht und Verfolgungsjagd durch den Wald verfassen müssen. Sein unmittelbarer Vorgesetzter im Dezernat Operative Spezialeinheiten, Bereich Verdeckte Ermittlungen, hatte ihn wegen des Auffliegens seiner Tarnung zwar nicht unbedingt die Hölle heiß gemacht, aber so richtig glücklich war beim LKA auch niemand darüber gewesen. Vor allem die Tatsache, dass die Satanisten im Anschluss untergetaucht und seitdem spurlos verschwunden waren, ließ die Ermittler nicht gerade gut aussehen und beunruhigte sie auch ein wenig. Dennoch war Michael glimpflich und vor allem ohne disziplinarische Strafmaßnahmen davongekommen. Allerdings war er, bis er den umfassenden Bericht schließlich fertiggestellt hatte, erst spät ins Bett gekommen und nur kurze Zeit später von mir wieder aufgeweckt worden. Insofern war es verständlich, dass er aufgrund des Schlafdefizits noch immer müde war und dementsprechend erschöpft und verdrossen aus der Wäsche guckte. Allerdings war es mir auch nicht viel besser ergangen, und ich hatte darüber hinaus wieder einmal um mein Leben rennen müssen, sodass sich mein Mitleid mit ihm in Grenzen hielt.

»Haben Sie keinen Hunger?«

Die Worte rissen mich aus meinen Überlegungen. Ich konzentrierte mich wieder auf das Gesicht meines Gegenübers und sah, dass Michael seine eigenen Gedankengänge abgeschlossen hatte und mich mit fragendem Gesichtsausdruck ansah. Auf der Fahrt hierher hatte ich noch einen äußerst heftigen Anfall von Heißhunger verspürt und das Gefühl gehabt, ich könnte mehrere Gänge eines Menüs gleichzeitig verputzen. Allerdings war diese Anwandlung ebenso rasch wieder verschwunden. Insgeheim führte ich das kurzzeitige und überwältigende Hungergefühl darauf zurück, dass ich erneut nur knapp einer gefährlichen Situation entgangen und gerade noch mit dem Leben davongekommen war. Als Folge überreagierten die Systeme meines Körpers nun wohl ein bisschen und lieferten fehlerhafte Informationen an die Schaltzentrale in meinem Gehirn.

»Der Cappuccino genügt mir vollkommen!«, gab ich Michael zur Antwort, weil ich auch jetzt keinen Hunger verspürte. Ich leerte die Tasse, bevor der Inhalt noch mehr abkühlte. Danach löffelte ich den Schaum heraus und aß ihn. Während ich damit beschäftigt war, hatte ich plötzlich einen anderen Einfall. Der mit aufgeschäumter Milch gefüllte Kaffeelöffel erstarrte auf dem Weg von der Tasse zu meinem Mund, während ich meinen Blick abrupt wieder auf Michael richtete, der mich die ganze Zeit über schweigend beobachtet haben musste. »Wissen Sie eigentlich, wo Dr. Schwarzer seine Kanzleiräume hat?«

Michael nickte langsam. Dass ich die Sprache ohne einen für ihn nachvollziehbaren Grund so plötzlich auf Dr. Schwarzers Büro gebracht hatte, überraschte ihn ersichtlich. Er sah mich misstrauisch an. Seine Augen, die er aufgrund der Müdigkeit ohnehin kaum richtig aufbekam, verengten sich noch mehr. »Dr. Schwarzers Kanzlei befindet sich zufälligerweise nicht weit vom Hauptgebäude des LKA entfernt, das in der Maillingerstraße im Stadtteil Maxvorstadt liegt. Aber aus welchem Grund wollen Sie das wissen, wenn ich fragen darf?«

Ich überlegte erst ein paar Sekunden, bevor ich ihm antwortete. Mir war nämlich schon im Voraus bewusst, dass ihn die Bitte, die ich an ihn richten wollte, vermutlich zunächst abschrecken würde. Dennoch war ich verzweifelt genug, das Wagnis einzugehen und zu versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass es momentan der einzig gangbare und beste Weg war, um an Informationen zu gelangen. Ich bemühte mich allerdings, meine Worte möglichst sorgfältig und behutsam zu formulieren, weil ich die Befürchtung hegte, er würde mich ansonsten gar nicht ausreden lassen, sondern schon gleich am Anfang abwinken und mich gar nicht zu Ende anhören.

»Wie Sie sicherlich wissen, war Dr. Schwarzer der Anwalt meiner Adoptiveltern«, begann ich und klärte ihn dann über ein paar Einzelheiten auf, die ich selbst erst wenige Stunden zuvor in der geheimen Bibliothek von Direktor Engel und Karl Augstein erfahren hatte. Ich erzählte ihm, dass ich gar nicht die leibliche Tochter der Dorns, sondern von diesen zusammen mit meinem Zwillingsbruder vor der Beschwörungszeremonie adoptiert worden war, und dass sämtliche Unterlagen über die Adoption bei einem rätselhaften Brand vernichtet worden waren. »Als Hausanwalt der Familie war Dr. Schwarzer mit ziemlicher Sicherheit über die Einzelheiten der Adoption informiert. Vermutlich war er sogar als rechtlicher Vertreter der Dorns persönlich an dem Verfahren beteiligt und bewahrt daher in seinen Kanzleiräumen möglicherweise Unterlagen darüber auf. Dokumente also, die ansonsten, wenn überhaupt, nur unter immensen Schwierigkeiten aufzutreiben sein dürften, für mich, meine unbekannte Vergangenheit und mein weiteres Leben aber von enormer Bedeutung sind. Diese Papiere können mir unter Umständen Auskunft darüber erteilen, wer ich in Wahrheit bin und woher – aus welchem Ort und aus welcher Familie – ich ursprünglich stamme. Sofern sie existieren, muss ich diese Unterlagen unbedingt haben, Michael! Und zu diesem Zweck muss ich irgendwie in Dr. Schwarzers Kanzlei kommen!«

Während der letzten Sätze war meine Stimme, ohne dass ich es gewollt hatte oder es mir überhaupt bewusst geworden war, beständig lauter geworden und hatte gleichzeitig einen immer verzweifelteren Unterton angenommen. Im Café herrschte um diese Zeit nur wenig Betrieb. Im Hintergrund war leise Musik zu hören. Es war also so ruhig, dass eine der beiden Servicekräfte hinter der Theke durch meine erhobene Stimme aus uns aufmerksam wurde und alarmiert zu uns herübersah. Sie musterte mich misstrauisch, als befürchtete sie, ich wäre betrunken und könnte ihr Arbeit und Ärger verursachen. Ich schenkte ihr ein betont übertriebenes Lächeln, um ihr zu demonstrieren, dass alles in Ordnung war und sie sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern sollte. Ob mein Blick sie eher beruhigte oder einschüchterte, wusste ich nicht. Allerdings sah sie rasch weg und widmete sich wieder ihrer augenblicklichen Tätigkeit, worin auch immer diese bestand.

Ich bemühte mich daraufhin, meine Stimme zu dämpfen und einen wesentlich ruhigeren Tonfall anzuschlagen, als ich rasch weitersprach. Ich ahnte, dass ich Michael noch nicht davon überzeugt hatte, dass mein Vorhaben sowohl gut als auch richtig war, und wollte ihm keine Zeit lassen, in Ruhe darüber nachzudenken und möglicherweise die unzähligen Haare in der Suppe zu finden. »Vielleicht entdecken wir in der Kanzlei auch Unterlagen über den Ort, an dem mein Zwillingsbruder sich momentan aufhält. Dr. Schwarzer und seine Gruppe müssen ihn irgendwo gefangen halten. Er ist möglicherweise schwer verletzt und braucht dringend ärztliche Hilfe. Unter Umständen können wir also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und auf diese Weise auch seinen Aufenthaltsort herausfinden. Denn wir müssen ihn unbedingt aus den Klauen dieser sogenannten Satanisten befreien, da diese Leute nicht zögern werden, ihn bedenkenlos für ihre wahnwitzigen Zwecke zu opfern.«

 

Anstatt erneut beständig lauter zu werden, war meine Stimme am Ende meines Vortrags zu einem Flüstern geworden, bevor sie schließlich ganz verstummte. Ich forschte in Michaels Gesicht nach einem Anhaltspunkt dafür, was in diesem Augenblick in seinem Kopf vorging. Doch er sah mich noch immer völlig ausdruckslos an, und seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er von meinem Ansinnen hielt. Hätten wir Poker gespielt, hätte ich gegen ihn wohl im wahrsten Sinne des Wortes schlechte Karten gehabt.

Verzweifelt suchte ich in meinem Verstand nach weiteren Argumenten, mit denen ich ihn überzeugen konnte, doch ich hatte bereits alle angeführt, die mir in meiner augenblicklichen Erregung eingefallen waren. Würde ich jetzt fortfahren, so würde ich mich nur wiederholen und womöglich sogar zu stottern anfangen. Das wollte ich nach Möglichkeit vermeiden, weshalb ich es für ratsam hielt, vorerst lieber die Klappe zu halten und gar nichts zu sagen, auch wenn es mir schwerfiel.

Auch Michael schwieg, ließ sich meine Worte augenscheinlich noch einmal gründlich durch den Kopf gehen und sah mich solang mit einem Gesichtsausdruck an, aus dem nicht das Geringste zu lesen war, dass ich beinahe die Geduld verlor und trotz meines Vorsatzes, ruhig und abgeklärt zu wirken, aus der Haut fahren wollte. Mir wäre es sogar egal gewesen, was die Bedienung hinter der Theke von mir gehalten hätte, wenn ich erneut laut geworden wäre. Doch bevor das geschehen konnte, erkannte ich, dass die Ausdruckslosigkeit in seinen Augen nicht bedeutete, dass ihn meine Worte nicht erreicht hatten, sondern nur den Kampf verbergen sollte, der sich in diesen Sekunden in seinem Innersten abspielte.

Ich wusste nicht, ob es schon immer Michaels Charakter entsprochen hatte, seine Gefühle so geschickt zu verstecken, oder ob dies eine Folge seiner Tätigkeit als Undercover-Ermittler des LKA war. Auf jeden Fall hätte er mit dieser Fähigkeit genauso gut Profi-Pokerspieler und rasch sehr reich werden können.

Als Michael endlich das Wort ergriff und meiner ungeduldigen Warterei damit ein Ende bereitete, machte er äußerlich weiterhin einen vollkommen gelassenen Eindruck: »Sie wissen schon, dass Sie mich gerade dazu anstiften wollen, eine ganze Reihe von Straftaten zu begehen, Sandra?«

Ich nickte nur und schluckte beklommen, denn dieser Ansatz klang nicht sehr vielversprechend.

»Und dann auch noch ausgerechnet ein Einbruch in eine Anwaltskanzlei«, fuhr Michael ebenso ruhig fort und schüttelte über die schiere Ungeheuerlichkeit meiner Bitte den Kopf. »Sie wissen natürlich schon noch, dass ich Polizeibeamter bin?« Es war natürlich nur eine rhetorische Frage, und so ersparte ich mir jede Antwort darauf. »Ich kann nicht einfach irgendwo einbrechen, wenn mir danach ist. Wahrscheinlich haben Sie zu viele schlechte Filme gesehen, in denen Polizisten ständig in fremde Häuser und Wohnungen einbrechen. Aber in der Realität gelten die Gesetze auch für uns. Sogar und gerade für Beamte, die verdeckt ermitteln. Noch dazu wären alle Beweise, die wir dort finden – falls es sie überhaupt gibt –, vor Gericht überhaupt nicht verwertbar, weil sie auf illegale Weise beschafft …«

»Es geht hier doch nicht um Beweise für ein Gerichtsverfahren«, unterbrach ich ihn wesentlich erregter und lauter, als ich geplant hatte. Ich warf einen raschen Blick auf die Servicekraft, die erneut hinter einer monströsen Kaffeemaschine hervorlugte. Als sie meinen Blick auf sich gerichtet sah, zog sie aber so schnell und gekonnt wie eine Schildkröte den Kopf wieder ein. Ein weiteres Mal bemühte ich mich, meine Stimme zu dämpfen, als ich einen letzten Versuch unternahm, doch noch zu retten, was scheinbar gar nicht mehr zu retten war. »Es geht nicht um irgendwelche Beweise«, wiederholte ich leise, »es geht hier um mich.« Beim letzten Wort legte ich beide Handflächen auf meine Brust, auch wenn es vermutlich etwas melodramatisch aussah, und sah meinen Gesprächspartner eindringlich und bittend zugleich an. »Verstehen Sie denn nicht, Michael? Wenn es in Dr. Schwarzers Büro irgendwelche Unterlagen über mich gibt, dann muss ich sie haben. Es zerreißt mich nämlich jedes Mal innerlich, wenn mir wieder einmal bewusst wird, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wer ich bin und woher ich komme. Die Dorns und Dr. Schwarzer mit seinem verfluchten Satanisten-Verein haben mir meine Vergangenheit gestohlen. Und ich will sie – verdammt noch mal – endlich wiederhaben, damit diese schreckliche Leere in mir wieder mit Erinnerungen an mein Leben gefüllt werden kann …«

Ich verstummte, weil mir die Stimme versagte. Tränen liefen mir warm und feucht über das Gesicht. Ich vergrub es in beiden Händen und schluchzte unterdrückt.

Als Nächstes spürte ich seine Hand, die in einer eher unbeholfenen als tröstenden Geste, aber dennoch sehr zärtlich über mein Haar strich.

»Nun hören Sie schon auf zu weinen, Sandra«, sagte Michael und zog die Hand so rasch wieder weg, als hätte er sich verbrannt. »Sie haben ja schon gewonnen!«

Ich nahm die Hände vom Gesicht, mit denen ich die Tränen, diese verräterischen Beweise meiner Schwäche und Verletzlichkeit, vor ihm hatte verbergen wollen, und sah ihn mit skeptischer Miene an. Ich konnte kaum glauben, dass ich seine Worte gerade richtig verstanden hatte, und wartete insgeheim auf eine Bestätigung.

Er reichte mir eine Papierserviette, damit ich mir die Tränen abwischen konnte. »Sie haben schon richtig gehört. Ich setze meinen unkündbaren Beamtenstatus und meine Pension aufs Spiel, um für eine verzweifelte junge Frau in die Kanzleiräume eines erfolgreichen und bekannten Rechtsanwalts einzubrechen. Es klingt sogar noch wesentlich verrückter, wenn man es laut ausspricht, als nur darüber nachzudenken. Aber was soll’s? Lassen Sie uns also lieber sofort aufbrechen, bevor ich wieder zu Verstand komme und es mir doch wieder anders überlege!«