Tinnitus

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Störgeräusche

Ich weiß ihn nicht besser als mit einem Sturme zu vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und mir augenblicks in alle Glieder fuhr… Damit verband sich ein mächtiges Ohrensausen, und dieses Sausen war dreifach oder vielmehr vierfach, nämlich zunächst ein dumpfes, schweres Brausen, dann ein helleres Murmeln wie von fließendem Wasser, endlich ein gelles Pfeifen, und dazu trat dann noch das Klopfen…, dessen einzelne Schläge ich leicht zählen konnte … Dieses innere Geräusch war so groß, dass es mir das feine Gehör… völlig raubte und mich zwar nicht ganz taub, aber so schwerhörig gemacht hat, wie ich es seitdem geblieben bin… Ich glaubte, ich sei tot. Jean-Jacques Rousseau

Es muss Rousseau schwer getroffen haben, als der Tinnitus zuschlug. Seine Schilderung enthält Merkmale, die noch heute für die Diagnostik eine Rolle spielen: plötzliches Auftreten, unterschiedliche Geräuschphänomene, beunruhigend wahrgenommene Lautstärke, Hörminderung, Schwerhörigkeit – bis hin zu Suizidgedanken.

Tinnitus hat es schon immer gegeben. Das belegen zahlreiche Beschreibungen von Ohrgeräuschen in literarischen, künstlerischen, medizinischen und wissenschaftlichen Werken der vergangenen Jahrhunderte.

Echo der Götter

Babylonische Keilinschriften und ägyptische Papyri erwähnen den rätselhaften Ohrenklang. Wer ihn hört, der ist vom bösen Geist ergriffen, so glaubt man. Ein vom Ohrenklingeln Befallener gilt im alten Ägypten als seherisch begabt. Sprechen durch ihn doch die Götter.

Auch das antike Rom ist anfällig für solche Vorstellungen. Obwohl man durchaus erkennt, dass Ohrgeräusche ausschließlich eine subjektive Klangwahrnehmung zu sein scheinen, herrscht doch die Überzeugung, dass eine göttliche Macht, dämonische oder magische Kräfte etwas mit dem unerklärlichen Klang im Ohr zu tun haben müssen.

Auch in der Bibel wird die göttliche Macht subjektiver akustischer Phänomene beschworen: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ (Johannes, 3,8). Im alten Griechenland beschreiben die Pythagoräer den Tinnitus genauer: „Das Echo, das mitunter unsere Ohren befällt, ist die Stimme der Besseren (Mächtigen/Götter).“

Geräuschkunde

Die Medizingeschichte des Ohrensausens beginnt mit der hippokratischen Schrift Über die heilige Krankheit (d. h. Epilepsie), etwa 450 bis 350 v. Chr. In einer anderen Schrift heißt es: „Die Ohren sausen, (der Kranke) hört schwer, die Adern sind gespannt und pulsieren …“ Zu dieser Zeit erkannte man bereits das Prinzip der Tinnitus-Maskierung: „Warum hört das Summen in den Ohren auf, wenn jemand ein Geräusch macht? Doch wohl deshalb, weil das größere Geräusch das kleinere vertreibt.“

Weltliche Musik: Das gepeinigte Ohr in der Hölle bei Hieronymus Bosch, ca. 1480–1505 (Garten der Lüste)

Der römische Dichter und Philosoph Lukrez beschreibt Ohrensausen als Begleiterscheinung starker Gefühle: „Unsere Sprache wird lallend, die Stimme versagt und das Ohr saust.“

Plinius der Ältere (23–79) prägte den Begriff „Tinnitus“, sprach auch von sonitus oder stridor und empfahl allerlei abenteuerliche Heilmittel. Die nachfolgenden 1400 Jahre Tinnitus-Geschichte wurden von dem römischen Arzt Claudius Galenus (129–199) maßgeblich beeinflusst. Er behauptete, Tinnitus werde durch Dämpfe verursacht, die vom Magen aufsteigen und das Gehör sensibilisieren.

Der griechische Arzt Alexander von Tralleis bezog im 6. Jahrhundert Ohrensausen auf eine reizbare Empfindlichkeit des Gehörsinns und auf Gehirnkrankheiten. Der persisch-christliche Arzt Johannes Me sue senior brachte im 8. Jahrhundert Ohrgeräusche mit fieberhaften Erkrankungen und Schwächezuständen in Verbindung. Um 1200 erscheint ein Lehrgedicht der Medizinschule von Salerno (Regimen Sanitas Salernitanum), dort heißt es: „Art. 5 Causae tinnitus. Motus, longa fames, vomitus, percussio, casus, ebrietas, frigus tinnitum causat in aure.“ Viele Ursachen und noch mehr obskure Therapievorschläge! Im 16. Jahrhundert behandelte Paracelsus Ohrgeräusche auch chirurgisch.

Das erste Lehrbuch der Ohrenheilkunde verfasste der französische Arzt und Anatom Joseph-Guichard Duverney.

Die Aufklärung bringt die Wende: Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum). Die subjektive Wahrnehmung hat nun einen hohen Stellenwert. 1683 erscheint das erste Lehrbuch der Ohrenheilkunde, verfasst von dem französischen Arzt und Anatom Joseph-Guichard Duverney (1648–1730): Traité de l‘organe de l‘ouïe, contenant la structure, les usages et les maladies de toutes les parties de l‘oreille. Die Anatomie des Ohrs wird hier akribisch in Wort und Bild abgehandelt. Er unterscheidet auch erstmals den objektiven und subjektiven Tinnitus, der demnach eine Phantomwahrnehmung ist. 1821 veröffentlicht der französische Mediziner Jean Itard (1774–1838) ein Werk über die Krankheiten des Ohres, das eine Unterscheidung von echtem (objektivem) und falschem (subjektivem) Tinnitus enthält. Besonders anfällig für Ohrgeräusche waren Itard zufolge Hypochonder!

Seelenklänge

Im 18. Jahrhundert setzt sich die aufklärerische Verinnerlichung des Tinnitus weiter fort. Nach Ansicht des Theologen Brockes gibt der Tinnitus der Seele eine Stimme: „Dass die Töne, die wir spühren. Durch die Seel‘ in unserm Ohr, und nicht auswärts, sich formiren.“ Der Philosoph Rousseau (1712–1778) gewann seinem Tinnitus sogar positive Seiten ab: „Das Klopfen und Brausen belästigte mich zwar, aber ich litt doch nicht wirklich darunter, denn es war von keiner anderen dauernden Unbequemlichkeit als der Schlaflosigkeit in den Nächten und Tag und Nacht von einer Kurzatmigkeit begleitet … Dieses Leiden, das meinen Körper hätte töten müssen, tötete nur meine Leidenschaften, und so segne ich denn noch heute täglich den Himmel für die glückliche Wirkung, die es auf meine Seele übte. Wohl kann ich sagen, ich fing erst da zu leben an, als ich mich für einen toten Menschen hielt.“ Rousseau machte seinen Tinnitus kurzerhand zum „Freund“.

Das ist fast schon eine Empfehlung für die Tinnitus-Umprogrammierung zur Bewältigung des Hörproblems. Die Empfindsamkeit des Seelenklangs findet auch Eingang in dichterische Werke, etwa bei Adalbert Stifter („innerer Klingklang“), Jean Paul („Unsere selber klingenden Ohren“) oder E.T.A. Hoffmann („dass es Ihnen im Kopfe ganz schrecklich saust und braust“).

Der Komponist Ludwig van Beethoven litt zeitlebens unter Schwerhörigkeit und Tinnitus bis hin zur Ertaubung.

Akustisches Inferno

Schlimmer erging es Musikern und Komponisten, die von Tinnitus und Hörverlust geplagt waren. Die berühmtesten Künstler, die Tinnitus als inneres akustisches Inferno erlebten, waren Beethoven, Schumann und Smetana. Insbesondere Beethoven litt schwer an Ohrgeräuschen und seiner Ertaubung: „Mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden … Nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort. Ich kann sagen, ich bringe mein Leben elend zu, seit zwei Jahren fast meide ich alle Gesellschaften, weil‘s mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen: Ich bin taub.“

Der große Romantiker Robert Schumann wurde nicht nur vom „beständigen Singen und Brausen im Ohr“ gequält, sondern hatte häufig akustische Halluzinationen. Schumanns tragisches Schicksal hing auch mit seiner angeschlagenen Psyche zusammen.

Der böhmische Komponist Bedřich Smetana (1824-1884), gleichfalls ein Romantiker, verewigte 1876 seinen Tinnitus in einem Streichquartett mit dem Titel Aus meinem Leben in Form eines „hohen e“ der ersten Violine über heftig tremolierten Tönen der übrigen Streicher. Smetana litt stark unter Ohrgeräuschen. Tag und Nacht hörte er das „schrille Pfeifen eines As-Dur-Sextakkords in den höchsten Registern der Piccoloflöte“. Sein zweites Streichquartett komponierte er in völliger Taubheit.

Nervositäten

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts kündet das lärmende Inferno von Dampfmaschinen und Eisenbahnen von Industrialisierung und Technisierung. Das geht auch am Ohr nicht spurlos vorüber. Hörstürze, Lärmtraumen und Tinnitus-Fälle häufen sich. Lokomotivführer und Kutscher klagen über Ohrensausen, Kesselflicker, Schlosser und Schmiede über Schwerhörigkeit.

1880 befassen sich Ohrenärzte erstmals mit dem Einfluss von Berufstätigkeiten auf das Gehör. Lärm kann krank machen, das liegt auf der Hand. Als Ursache solcher subjektiven Gehörsempfindungen identifiziert man nervöse Störungen, Angst einflößende und verunsichernde Effekte. Beschreibungen von durch Lärm verursachten Missverständnissen finden sich zahlreich in Texten von Franz Kafka.

Meyers Konversationslexikon (1888/1908) definiert Ohrensausen als „eine Reihe subjektiver Gehörsempfindungen, welche, durch eine krankhafte Reizung des Hörnervs bedingt, als Sausen, Brausen, Zischen, Pfeifen, Klopfen, Brummen, Rauschen, Knacken, Zirpen etc. empfunden werden. Sie entstehen durch Reizbarkeit des Nervensystems infolge von Krankheiten, von Blut- und Säfteverlusten, bei gastrischen Zuständen, bei Hirn- und Geisteskrankheiten.“

 

Bis ins 20. Jahrhundert wurde „Nervenschwäche/Reizbarkeit“ (Neurasthenie) als mögliche Begleiterscheinung des modernen Lebensstils in der industrialisierten Gesellschaft heiß diskutiert. Als Hauptsymptome dieser „Zivilisationskrankheit“ galten erhöhte Lärm- und Schmerzempfindlichkeit. „Ohne Ohropax bei Tag und Nacht ginge es gar nicht“, schreibt Kafka 1922.

Das lärmgeplagte Ohr des modernen Menschen, dargestellt vom britischen Karikaturisten George Cruikshank (1792-1878)

Tinnitus-Prominenz

→ Martin Luther (1483–1546), Reformator (Tinnitus, Morbus Menière)

→ Francisco de Goya (1746–1828), spanischer Maler und Grafiker (Tinnitus und Ertaubung)

→ Joseph Toynbee (1815–1866), englischer Arzt und Otologe, starb bei dem Versuch, seinen Tinnitus durch Inhalation von Chloroform zu heilen

→ Vincent van Gogh (1853–1890), niederländischer Maler

→ Barbra Streisand (*1942), US-amerikanische Sängerin

→ Pete Townshend (*1945), britischer Rockmusiker (The Who)

→ Eric Clapton (*1945), britischer Sänger, Rock- und Bluesgitarrist

→ Ralph Siegel (*1945), deutscher Musiker und Schlagerkomponist

Die Nacht des Tinnitus

Letztes Jahr war gesundheitlich für mich eine Katastrophepermanente Halsentzündungen im Sommerim September bekam ich Schmerzen in den Armen und Beinen, Ursache bis heute nicht geklärtzeitgleich heftige Entzündung der oberen AtemwegeSinusitis (chronisch)immer wiederkehrende Kehlkopf- und Stimmbandentzündungich habe viele Nasenspülungen gemacht und frage mich, ob ich damit den Weg geebnet habe für das folgende…

Eines Morgens werde ich von einem Geräusch in meinem Ohr gewecktes hört sich an wie ein lautes Rauschen, wie blasender Windoder wie wenn man durch einen Strohhalm pustetGott sei Dank verschwindet das Geräusch nach einigen Sekunden wieder, nachdem ich den Kopf einige Male hin und her bewegt habe … von diesem Geräusch werde ich aber leider wieder geweckt, sodass ich nach einigen Tagen zum HNO-Arzt geheinzwischen lausche ich so fokussiert auf das Ohr, dass ich anscheinend mein eigenes Ohr- oder Kopfgeräusch permanent wahrnehmevielleicht ist es das eigene Geräusch, vielleicht ist es ein eigener Tinnitusich habe keine Ahnungich weiß nur, dass der Ton sehr hoch und wellig istdieser Ton begleitet mich den ganzen Tagauch beim Fernsehen höre ich ihn dauerndnur das Kochen unter der laufenden Dunstabzugshaube oder aber unter der Duscheda höre ich ihn nicht, ansonsten ist er immer da, wenn auch leise

Es vergeht einige Zeit, hin und wieder tut das Ohr richtig wehvor allem, wenn ich mir die Nase putze, kracht es im Ohr und ein stechender Schmerz fährt hindurchirgendwann kommen dann Schwindelanfälle hinzuich gehe erneut zum HNO-Arzt, er kann am Ohr nichts feststellen und schickt mich unbehandelt nach Hause … der Schwindel beeinträchtigt mein Leben so sehr, dass ich mein Funktionstraining im Wasser nicht mehr machen kann und ich brauche zwei Medikamente, damit ich einigermaßen über den Tag komme … ich suche einen neuen HNO-Arztauch dort nichtsalles in Ordnung mit meinem Ohr

Das Geräusch in der Nacht kommt und gehtmal habe ich es drei Nächte hintereinander, mal ist es zwei bis drei Tage weg und ich wache von allein aufin den letzten vier Nächten hat es mich gequält, diese Tage schlimmer als sonstin der einen Nacht werde ich bereits um ein Uhr wach … die andere Nacht hab ich es zwei Mal innerhalb von einer Stunde … in der letzten Nacht dauert es über eine Minute, bis ich das Geräusch „weggeschüttelt“ habe …

Inzwischen habe ich panische Angst vor dem Schlafengehen … einschlafen kann ich gut, auch wenn da noch immer der permanente hohe Ton ist … aber ich habe solche Angst vor dem Rauschen … Angst, dass es irgendwann bleibt … Angst, dass ich keine Nacht mehr durchschlafen kann … vor lauter Angst gehe ich immer später ins Bett … heute Nachmittag war ich so müde, dass ich ein Nickerchen auf der Couch gemacht habe … auch dort hat mich das Geräusch heimgesucht … nur wurde ich dieses Mal nicht wach … ich habe es in meinen Traum eingebaut und habe mir im Traum immer die Ohren zugehalten und ich habe im Traum geweint … als ich endlich aufgewacht bin, war mein Gesicht voller Tränen …

Inzwischen bin ich psychisch an meine Grenzen gestoßen aufgrund des massiven Schlafmangels und des nun aufkommenden Streits mit meiner Schwiegermutter und meinem Mann … meine Schwiegermutter glaubt wie die Ärzte, dass ich psychiatrische Hilfe brauche … mein Mann fängt das Streiten mit mir an, weil ich so langsam die Hoffnung aufgebe und kaum noch Motivation habe, etwas zu unternehmen … ich bin es einfach leid, dass man mir sagt, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank … es gibt keinen Befund, also muss es eine kranke Psyche sein … ich weiß nicht, wie ich damit leben soll … ich bekomme keinerlei Hilfe von den Ärzten und ich habe immer das Gefühl, ich müsste beweisen, dass da etwas ist…

Vor allem zerrt es an den Nerven, dass keiner der HNO-Ärzte darauf einging, dass das Rauschen nur nachts, im Schlaf auftaucht… ein einziges Mal hatte ich das Rauschen im Wachzustand, als ich mit meiner Xbox-Kinect gespielt habe … auch da verschwand es wieder, als ich den Kopf ganz schief nach rechts legte … die Ärzte reden immer nur von dem hohen Ton … auf das Rauschen in der Nacht will irgendwie keiner eingehen …

Kennt einer von Euch dieses nächtliche Rauschen, das wieder verschwindet, wenn man sich eine Weile bewegt? Hat irgendjemand eine Idee, wo ich Hilfe bekommen kann?

Ich bin so ziemlich am Ende meiner Kräfte … ich muss so dringend schlafen … Schlaf sollte etwas Erholsames sein und nichts, was einem Angst macht … aber ich habe Angst. (Quelle: forum.tinnitus-liga.de)


Ohr und Gehör

Das Ohr ist ein faszinierendes Sinnesorgan. Es verwandelt Schallwellen in komplexe Hörempfindungen. Wir können uns im Raum orientieren und verlieren nicht die Balance, weil das Ohr an das Gleichgewichtsorgan gekoppelt ist. Wir können die Richtung und Entfernung von Schallquellen bestimmen, da wir zwei Ohren haben, die den Schall mit Laufzeitdifferenz aufnehmen. Wir können hochaufgelöst Töne und Geräusche wahrnehmen, laut und leise, von sehr tiefen (20 Hz) bis zu sehr hohen Tönen (20.000 Hz). Wir können uns von Musik verzaubern lassen und in ekstatischen Gefühlen schwelgen.

Das Ohr besteht aus verschiedenen Komponenten, die Schall aufnehmen, weiterleiten und auf Nervenzellen übertragen. Nach der Umwandlung in elektrische Signale gelangen diese über den Hörnerv zum Gehirn, wo sie in der zentralen Hörbahn in Klangempfindungen verwandelt werden. Der Weg des Schalls verläuft über die Ohrmuschel, den Gehörgang, das Trommelfell, die Gehörknöchelchen, die Hörschnecke und den Hörnerv. Am Ende entsteht durch die hochgradige Vernetzung von Hirnzentren mit dem Großhirn ein gut funktionierendes Gehör, auf das wir uns verlassen können.

Der periphere Hörapparat

Die Ohren sind die Schallaufnehmer, die „Mikrofone“ des Körpers. Jedes Ohr besteht aus dem äußeren Ohr, dem Mittel- und Innenohr. Im Innenohr befindet sich die Hörschnecke, der körpereigene „Tonabnehmer“, in engster Nachbarschaft zum Gleichgewichtsorgan.

Außenohr

Das äußere Ohr umfasst die sichtbare Ohrmuschel, das Ohrläppchen und den äußeren Gehörgang. Das Trommelfell ist die Grenze zwischen Außen- und Mittel-/Innenohr. Da die Ohren rechts und links am Kopf mit räumlichem Abstand angebracht sind, erreicht der Schall die Ohren mit zeitlicher Verzögerung. So kann man durch das Gehör beurteilen, ob der Schall von vorn, hinten, oben oder unten kommt. Das ist eine bedeutende Entwicklung der Evolution, die einen Überlebensvorteil verschafft.

Der Gehörgang dient der Weiterleitung des Schalls. Er ist mit feinen Flimmerhärchen ausgestattet, die Fremdkörper herausbefördern. Damit der Schall möglichst ungestört das Trommelfell erreichen kann, wird der Gehörgang von glättendem Ohrenschmalz eingefettet (Cerumen). Ohrenschmalz wird im äußeren Gehörgang gebildet und von dort immer nach außen transportiert. Es wirkt zudem antibakteriell und schützt vor Entzündungen und Ohrekzemen.

Finger weg von Wattestäbchen! Man drückt damit meist nur das Ohrenschmalz nach innen und produziert so einen Ohrenschmalzpfropf, der das Gehör beeinträchtigt. Hat sich ein Cerumen-Pfropf im Gehörgang gebildet (bei Männern häufiger als bei Frauen), lassen Sie ihn vom HNO-Arzt entfernen.

In der Nachbarschaft des Gehörgangs befinden sich vorn das Kiefergelenk und unten der erste Wirbel (Atlas) der Halswirbelsäule. Da diese ohrnahen Regionen mit Nerven stark quervernetzt sind, können hier Ursachen von Ohrenschmerzen oder Tinnitus liegen.

Das menschliche Gehör

Mittelohr

Das Trommelfell ist die Begrenzung von Außen- und Mittelohr. Es handelt sich um eine feine Membran, die durch Schallwellen in Schwingung versetzt wird. Das Mittelohr ist der knöcherne Hohlraum zwischen Trommelfell und dem ovalen Fenster des Innenohrs. Über die gelenkig verketteten Gehörknöchelchen – Hammer (Malleus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes) – werden Schwingungen zum Innenohr weitergeleitet. Die Gehörknöchelchen sind durch feine Bänder und Muskeln beweglich aufgehängt. Es handelt sich um ein mechanisches „Vorverstärkungssystem“ für Schallereignisse. Die Signalverstärkung wird durch die Hebelwirkung der Gehörknöchelchen und die größere Trommelfellfläche (im Vergleich zum ovalen Fenster) erreicht. Die Mittelohrmuskeln schützen das Innenohr auch vor Schäden durch plötzlichen hohen Schalldruck. Der Steigbügel als letztes Vorverstärkerglied verfügt über einen Reflexmechanismus (Stapediusreflex), der bei lautem Schall (70–95 Dezibel/dB) ausgelöst wird. Er zieht sich dann ruckartig zusammen und verhindert die Schallübertragung auf das Innenohr. Wenn die Mittelohrmuskeln aber ein zuckendes „Eigenleben“ entwickeln, kann das zum Tinnitus mit Tick-Geräusch führen.

Querschnitt durch die Hörschnecke

Da das Mittelohr ein luftgefüllter Hohlraum ist, muss es die Möglichkeit des Luftdruckausgleichs nach außen geben. Andernfalls würden Druckveränderungen die normale Funktion der Gehörknöchelchen stören. Solche Druckveränderungen treten etwa beim Tauchen oder in großen Höhen auf (Bergsteigen, Flugreisen). Diesen Druckausgleich ermöglicht die Ohrtrompete (Tuba auditiva Eustachii), die eine Verbindung zwischen Mittelohr und Rachenhöhle herstellt. Bei jedem Schluckvorgang wird die Röhre durch Muskelbewegung geöffnet und ein Druckausgleich durchgeführt. Fehlt der Druckausgleich, können Ohrenschmerzen und Schwerhörigkeit auftreten. Die Ohrtrompete dient auch der Ableitung von Ohrsekreten. Mittelohrentzündungen, vor allem bei Kindern, haben häufig mit Funktionsstörungen der Ohrtrompete zu tun.

Die akute Mittelohrentzündung kommt bei Kindern häufiger vor, da die Ohrtrompete noch kurz ist. Bakterien gelangen leicht aus dem Nasenrachenraum zum Mittelohr. Streptokokken, Staphylokokken, Haemophilus und Pneumokokken (HIB-Impfung) sind die häufigsten Erreger.

Hörakustik

Empfindlichkeit

Am Mischpult kann man die Eingangsempfindlichkeit des Mikrofons aussteuern. Einen solchen Mechanismus gibt es auch im Ohr. Wenn man auf einem Rockkonzert laut beschallt wird, wird die Eingangsempfindlichkeit des Ohrs abgesenkt. Nach dem Konzert ist das Ohr noch einige Zeit gedämpft, normalisiert dann aber rasch wieder seine Aufnahmeempfindlichkeit. Achtung: Alkohol erhöht die Eingangsempfindlichkeit des Ohrs!

Frequenz/Tonhöhe

Der Begriff Frequenz kennzeichnet physikalische Schwingungen in der Luft (oder einem anderen Medium) bezogen auf eine Zeiteinheit. Die übliche Einheit dieser Größe ist Schwingungen pro Sekunde = Hertz (Hz). Der Begriff Tonhöhe kennzeichnet die subjektive Empfindung einer Tonfrequenz: z.B. a1 auf dem Klavier = 440 (oder 443 Hz im modernen Konzertbetrieb).

 

Der Hörnerv besteht aus 30.000 Nervenfasern. Das Ohr kann mit Bezug auf Frequenz und Intensität etwa 340.000 Einzeltöne unterscheiden.

Lautstärke/Schalldruck

Die Lautstärke (Lautheit) eines Schallereignisses gibt an, wie (subjektiv) laut ein Mensch ein gehörtes Geräusch empfindet. Der Schalldruck (Schalldruckpegel) entspricht der physikalischen Energie eines Geräusches. Das Trommelfell ist der Sensor für Druckschwankungen in der Luft. Es überträgt Schwingungen, die bis zu einem Milliardstel Zentimeter klein sind. Die Beziehung zwischen Lautheit und Schalldruckpegel ist annähernd logarithmisch. Die Einheit des Schalldruckpegels ist Dezibel (dB). Wegen der logarithmischen Beziehung führt bei niedrigen Lautstärken eine Lautstärkeerhöhung von weniger als 10 dB zu dem Gefühl der Verdoppelung der Lautheit. Das Ohr erkennt Tonfrequenzen von 20 bis 20.000 Hz. Die größte Lautstärkeempfindlichkeit liegt bei 1.000 bis 4.000 Hz.

Schalldruck und Schalldruckpegel: Was ist wie laut?


Situation/SchallquelleSchall-druck (p)Schall-druckpe-gel (dB)
militärisches Sonar unter Wasser (1 m Entfernung)1.000.000240
M1-Gewehr (1 m Entfernung)5.000168
Düsenflugzeug (30 m Entfernung)630150
Gewehr (1 m Entfernung), Fußballstadion200140
Schmerzschwelle100134
Gehörschäden: kurzfristige Einwirkung20≥ 120
Düsenflugzeug (100 m Entfernung)6,3–200110–140
Presslufthammer (1 m Entfernung), Diskothek, Rockkonzert, Musik im Orchestergraben2100
Gehörschäden: Einwirkung mehr als 8 Stunden/Tag0,63≥ 90
Hauptverkehrsstraße (10 m Entfernung)0,2–0,6380–90
PKW (10 m Entfernung)0,02–0,260–80
Hörschwelle eines Tauchers bei 1 kHz2,2.10-367
TV-Gerät mit Zimmerlautstärke (1 m Entfernung)0,0260
Normale Unterhaltung (1 m Entfernung)2.10-3 – 6,3.10-340–50
Sehr ruhiges Zimmer2.10-4 – 6,3.10-420–30
Blätterrauschen, ruhiges Atmen6,3.10-510
Hörschwelle bei 1 kHz2.10-50

Schallübertragung (Transduktion) in der Hörschnecke: Darstellung der Funktion einer Haarzelle (links: Hemmung, Mitte: ohne Reizung, rechts: Erregung)

Innenohr

Das Innenohr enthält unter anderem den körpereigenen „Tonabnehmer“ (Hörschnecke, Cochlea) und das Gleichgewichtsorgan – insgesamt mehr als eine Million mechanische Teile! Es ist ein komplex geformter knöcherner Hohlraum im Felsenbein (knöchernes Labyrinth). Dieser Hohlraum ist mit einer Flüssigkeit gefüllt (Perilymphe). Darin ist ein häutiges Labyrinth eingespannt, das gleichfalls mit Flüssigkeit gefüllt ist (Endolymphe). Nach der mechanischen Vorverstärkung über die Gehörknöchelchen erreichen Schallschwingungen über die Fußplatte des Steigbügels das ovale Fenster, die Abgrenzung zum Innenohr. Von dort tragen Wellenbewegungen der Flüssigkeit die Schallinformation weiter (Wanderwellen).

Das Tonabnehmersystem befindet sich in der Hörschnecke (Cochlea). Sie ist von hartem Knochen umgeben und macht zweieinhalb Windungen. In der Hörschnecke werden Wellenbewegungen in elektrische Signale verwandelt. Dies geschieht im Corti-Organ, das mit 48.000 winzigen Tonabnehmern ausgestattet ist, den sogenannten Haarzellen – sie haben haarförmige Fortsätze, die in der Flüssigkeit des Schneckengangs beweglich sind. Haarzellen sind in vier Reihen angeordnet: Drei Reihen dienen als akustischer Filter und eine Reihe übernimmt die Umwandlung der mechanischen Schwingungen in Nervensignale (Transduktion).

Die Tonabnehmer sind wie beim Klavier in Reihen angeordnet: tiefe Töne unten, hohe Töne oben. In der Hörschnecke werden hohe Töne zuerst erfasst, tiefe Töne am Ende des Schneckengangs. Je mehr Nervensignale an einem Tonabnehmer erzeugt werden, desto lauter wird das Schallsignal empfunden. Der gesunde Mensch kann Frequenzen von maximal 20 bis 20.000 Hz (Hertz = Schwingung pro Sekunde) wahrnehmen, mit einem Unterscheidungsvermögen für Frequenzen von 3 Hz (Tonauflösung). Insbesondere Klavierstimmer sind gut trainiert, um geringe Frequenzunterschiede wahrzunehmen. Mit zunehmendem Alter verringert sich das wahrnehmbare Frequenzspektrum.

Schallübertragung

Erreichen Schallwellen über das Mittelohr die Steigbügelplatte am ovalen Fenster, entstehen in der Flüssigkeit des Innenohrs Wanderwellen, die sich bis in die Hörschnecke ausbreiten. Die Flüssigkeitsbewegung führt zur Auslenkung der Fortsätze der Haarzellen. Dadurch wird eine Aufladung der Zelle durch Ionenströme in Gang gesetzt und eine elektrische Erregung erzeugt. Anschließend zieht sich die Sensorzelle ruckartig zusammen. Dies wird Motormechanismus der Haarzelle genannt, führt zur Signalverstärkung und ermöglicht präzises Hören.

Mithilfe chemischer Botenstoffe der Zelle wird die Erregungsinformation über eine „Schnittstelle“ (Synapse) auf den Hörnerv übertragen und zum Gehirn weitergeleitet. Aus der mechanischen Schallwelle ist nun elektrophysiologische Klanginformation geworden.

Tinnitus-Ursachen im Innenohr

Ausfall der Härchen der Hörsinneszellen

Chronischer Lärm und Knalltraumen können Haarzellen direkt schädigen. Betroffene Frequenzen werden dann nicht mehr wahrgenommen. Haarzellenschäden durch Lärm gehören zu den häufigsten Ursachen für akute oder chronische Ohrgeräusche.

Störung des Ladungs-/Erregungsmechanismus der Haarzellen

Verändert sich die Funktion der Ionenströme, können Überreaktionen auftreten, die Tinnitus erzeugen. Bekannt ist, dass Medikamente wie Acetylsalicylsäure oder manche Antibiotika in hoher Dosierung solche Störungen verursachen. Auch die sogenannten Ionenpumpen der Haarzelle reagieren empfindlich auf Zellgifte, auch auf Genussgifte wie Nikotin.

Störung des Motormechanismus der Haarzellen

Die Kontraktion der Haarzelle verstärkt und präzisiert die Frequenzinformation – damit wir einzelne Instrumente eines Symphonieorchesters heraushören können. Störungen können den sogenannten Motor-Tinnitus verursachen, unkontrollierte und unkoordinierte Kontraktionen der Haarzelle. Das Besondere an diesem Tinnitus ist, dass er durch äußere Schalleinwirkung verschwinden kann: Geräusche von Elektrogeräten, Musikinstrumenten oder Fahrgeräusche. Man nennt dieses Phänomen Residual Inhibition. Ein HNO-Arzt kann diese Störung feststellen. Der Motor-Tinnitus lässt sich erfolgreich mit Tinnitus-Maskern, die Dauertöne oder Rauschen erzeugen, behandeln.

Störung der Signaltransduktion an der Synapse

Dies ist ein wichtiges Forschungsgebiet, bei dem es um Nervenbotenstoffe geht, die für Depressionen, Hirnleistungsstörungen, chronischen Schmerz und Tinnitus eine Rolle spielen. Man erhofft sich hier Fortschritte für die Behandlung dieser Störungen durch positive Beeinflussung des synaptischen Funktionssystems.

Die zentrale Hörbahn

Damit akustische Informationen zu Hörempfindungen werden, bedarf es weiterer Verarbeitungsschritte, die von einem Netzwerk verschiedener Hirnzentren durchgeführt werden. Man nennt dies zentrales Hören (zentrale Hörbahn). Im Heimstudiovergleich wäre dies die auf einem Computer installierte Software, mit der Audiomaterial am digitalen Mischpult mit Filtern, Effekten und Equalizern bearbeitet wird, um am Ende zum finalen Audiomix eines Musikstücks zu kommen.

Stammhirn

Zunächst gelangen Nervensignale der Sinneszellen im Innenohr über den Hörnerv zu den Schneckenkernen (Nuclei cochleares), die im Stammhirn (Medulla oblongata) liegen. Dort wird blitzschnell entschieden, ob die akustischen Informationen als wichtig/unwichtig, bekannt/unbekannt oder ungefährlich/gefährlich zu bewerten sind. Vom Stammhirn werden lebenswichtige Grundfunktionen wie Atmung und Herzschlag kontrolliert.

„Unwichtige“ Geräusche wie das eigene Schluckgeräusch oder ein rauschender Ventilator werden ausgefiltert. Plötzliche oder unbekannte Geräusche können aber sehr schnell eine Alarmreaktion auslösen. Das vegetative Nervensystem wird aktiviert: Der Blutdruck steigt; Stresshormone wie Adrenalin werden ausgeschüttet; der Körper macht sich bereit für „Flucht oder Kampf“. Die enge Verbindung des Gehörs mit Stammhirnfunktionen führt zum Überlebensvorteil (z. B. auditive Reflexe). Man denke an den Schlaf, der bei Wahrnehmung ungewöhnlicher Geräusche rasch unterbrochen wird („Ammenschlaf“). Klangverarbeitung im Stammhirn funktioniert unbewusst.

Auch die Ohrgeräusche bei Tinnitus können eine Alarmreaktion auslösen, wenn ihre Herkunft unbekannt ist und sie demnach nicht einzuordnen sind. Es besteht die Gefahr, dass dem unbekannten Geräusch besondere Aufmerksamkeit geschenkt, dass das Geräusch mit den Qualitäten wichtig, gefährlich und störend ausgestattet wird, und dass am Ende die Wahrnehmung des Tinnitus „gelernt“ bzw. chronisch wird. Das Stammhirn ist der Ausgangspunkt eines späteren Tinnitus-Gedächtnisses.

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