Welt der Schwerter

Text
Aus der Reihe: Welt der Schwerter #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Meine Armee.« Er bemühte sich zu erfassen, was das bedeutete. »Meine Männer.«

Neben ihm zog sich Kira in den Sattel ihrer Ulphankuh. Auf dem gewaltigen Tier, dem man die wilden Wisente unter seinen Vorfahren ansah, wirkte sie geradezu mädchenhaft zierlich. Noch immer trug sie Hosen, doch ihre Kleidung hatte sich verändert, verbarg nun nicht mehr ihre Weiblichkeit. Vermutlich hatten Finny und Nehja dabei die Hände im Spiel. Sie warf den geflochtenen Zopf nach hinten und tätschelte den Hals ihres Tieres.

Als Frau und Bürgerliche musste Kira mit einer Kuh vorliebnehmen, und durfte keinen gehörnten männlichen Ulphan reiten. Sie hatten das Tier mit großer Sorgfalt auswählen müssen, denn jetzt, im Frühjahr, kamen die Kühe in Hitze, und dann waren sie ein paar Tage lang schreckhaft und unwillig. Der Besitzer hatte ihnen aber versichert, dieses Tier habe bereits zwei Hitzen durchlaufen, und eine dritte war unwahrscheinlich.

»Da kommt Leron!« Kira hob den Arm und zeigte zur Stadt. Tatsächlich kam der Korporal auf seiner Ulphankuh durch das Tor getrottet. Nur er war noch von Silurens Leibgarde übrig. Tiro war in der Schlacht unter Elims Kommando gefallen. Wie lapidar das klang: gefallen. Seine Schwester in Varkaspol würde es vermutlich nicht so gefasst aufnehmen. Chem lebte noch, aber er würde in Bethelgard zurückbleiben – die Brandwunde an seinem Bein hatte sich böse entzündet.

Leron erreichte sie und salutierte. »Ich habe dem Magus das Dokument wie befohlen überreicht, und er gab mir dies.« Er zog einen zusammengefalteten, gesiegelten Brief aus der Weste. »Der Magus sagte, sein Inhalt sei wichtig.«

»Dann werde ich ihn bei Gelegenheit lesen.« Auch wenn es ihm zuwider war. Aber vorerst schob Siluren das Papier unter seine Weste.

Leron ließ seinen Blick über die Fußsoldaten schweifen, die geduldig auf ihren Marschbefehl warteten. »Ein großes Heer.«

»Eine große Verantwortung.«

Kira lächelte. »Keine Angst, Hoheit. Erinnert Ihr Euch an den ersten Ulphan, den ihr bestiegen habt? Wie groß und furchteinflößend er gewesen ist? An die geballte Kraft dieses riesigen Leibes? Doch heute haltet ihr die Zügel mit nur einer Hand.«

Er seufzte. »Mein erster Ulphan war aus Holz.« Ein Spielzeug, auf ein Brett mit Rollen genagelt – und eigentlich nicht einmal seines. Zumeist hatte Coridan mit gerecktem Holzschwert darauf gesessen und »Schneller! Schneller!« gerufen, während Diener ihn im Laufschritt durch den Ahnensaal gezogen hatten. Siluren hatte selbst diesen hölzernen Rücken gefürchtet – wie hoch er war, wie unsicher er auf den Rollen stand – und als er es endlich gewagt hatte, das hölzerne Tier zu besteigen, war er bereits zu groß gewesen, und seine Füße hatten den Boden berührt.

Woring kam angeritten – auch er natürlich auf einem ungehörnten Tier. Er befehligte das Kontingent, das Bethelgard für den König gestellt hatte. Die übrigen Offiziere hatten das nicht gerade erfreut aufgenommen, war Woring doch ein Gemeiner, ein einfacher Rimbeth-Fischer. Selbst Elim hatte Bedenken geäußert. »Für die Soldaten ist er einer von ihnen, sie werden ihn nicht respektieren. Er steht ihnen viel zu nahe und wird zögern, wenn es gilt, sie in die Hitze eines Kampfes zu senden, in einen Angriff, vielleicht sogar in den sicheren Tod.«

Aber Siluren hatte gesehen, wie wertvoll Woring war – gerade, weil er seinen Männern nahestand, viele von ihnen persönlich kannte. »Wir wollen siegen, nicht sterben, und er kann seinen Teil dazu beitragen. Das hat er bewiesen.«

Als Woring nun seine Ulphan-Kuh neben den anderen Offizieren zügelte, nickte Siluren ihm zu. »Alle bereit?«

»Bereit und begierig, die Oneräer bezahlen zu lassen.« Woring sah zur Bresche hinüber, an der die Arbeiten bereits begonnen hatten. Gemäß Silurens Anregung setzte man dazu auch diejenigen Kriegsgefangenen ein, die sich standhaft geweigert hatten, der gegnerischen Armee beizutreten. »Es sind meine Gefangenen«, hatte er dem Stadtrat eröffnet, »und ich überlasse sie Bethelgard zu diesem Zweck. Die Krone wird entscheiden, ob und wann sie ihre Freiheit zurückerhalten. Bis dahin behandelt sie anständig. Ein Mann, dem man nicht gestattet, den Kopf zu heben, erhebt irgendwann die Fäuste.«

Nun war er hier, ihm gegenüber seine Offiziere – sechs mit Woring. Neben ihm waren Leron und Kira, vor ihm das fliehende oneräische Heer und eine Sumpflandschaft, die zu überqueren noch niemals eine Armee auf sich genommen hatte. Geschah all dies tatsächlich? Oder hatte Magus Inselm ihn am Ende in einem Traum zurückgelassen? Aber gleichgültig, ob er wachte oder schlief, man wartete auf seinen Entschluss.

»Wohlan, ihr kennt das Ziel, ihr habt eure Befehle. Also setzt diese Armee in Marsch.«

Die Offiziere salutierten, dann wendeten sie ihre Ulphane, und jeder begab sich zu seiner Einheit.

»Keine Rede?«, fragte Leron.

»Ich habe keine Stimme, die zu zwanzigtausend Mann durchdringen könnte.«

»Vor der nächsten Schlacht sollte Euch etwas Besseres einfallen.«

»Unsinn«, widersprach Kira. »Ich habe diese Ansprachen immer für Zeitverschwendung gehalten. Im Kampfgetümmel wird jedes hehre Ziel in den Schlamm getreten, und es zählt nur noch eines: überleben.«

»Ich denke«, sagte Siluren, »wir sollten unseren Platz einnehmen.« Er hatte damit gerechnet, an der Spitze des Zuges zu reiten, doch die Offiziere hatten ihn eines Besseren belehrt. Er würde in der Mitte reiten, am sichersten Platz.

Auf dem Weg dorthin passierten sie Reihen von Soldaten, die auf ihren Abmarsch warteten. Eine Armee dieser Größe setzte sich nicht wie ein Mann in Bewegung. Als sie vorbeiritten, standen die Männer auf, Hoch-Rufe wurden laut, und zum ersten Mal in seinem Leben klang es in Silurens Ohren nach mehr als nach dem pflichtgemäßen Jubel dem Prinzen gegenüber.

Vielleicht hatte Leron recht. Vor einer Schlacht würden diese Männer mehr brauchen als ein trockenes »Auf geht’s«. Andererseits: Was konnte er ihnen sagen, das sie nicht bereits wussten?

»Siluren der Findige.« Kira nickte zu einer Gruppe hin, die auf dem Weg zu ihrer Position ein Marschlied grölten. »Er ersäuft den Feind im Wasser und hält den Gegner mit offenen Toren auf.«

»Schon wieder ein neuer Beiname?«, fragte Siluren.

»Nur ein Lied, das die Leute singen. Die Melodie ist alt, aber der Text ist ganz eingängig. Ich singe es Euch heute Abend vor, wenn Ihr wollt.«

»Ich bin gespannt auf deine Sangeskünste.«

Nach und nach setzte sich der ganze Zug in Bewegung. Es war erstaunlich. Zwanzigtausend Mann, und sie alle folgten seinem Befehl zum Aufbruch. Folgten ihm, weil fähige, erfahrene Männer ihm unterstanden, weil die traditionelle Organisation des Heeres, erprobt in Jahrhunderten der Kriege, dafür sorgte, dass Befehle weitergegeben und befolgt wurden. Vielleicht hatte Kira recht. Vielleicht ließ sich auch dieses mächtige Wesen mit nur einer Hand lenken. Seine Aufgabe bestand nur darin, ihm das richtige Ziel zu setzen, es den richtigen Weg zu führen. Das war etwas, das er sich durchaus zutraute.

***

Vom Heuboden der Scheune aus konnte man ziemlich weit ins Land schauen, ohne selbst entdeckt zu werden. Geran beglückwünschte sich zu dem Aussichtsposten, während er beobachtete, wie ein Regiment Rotröcke nach dem anderen aufbrach und sich in Richtung Niedersee in Bewegung setzte.

Unter ihm brummten die Ulphan-Kühe, und das gelegentliche Stampfen ihrer Hufe verriet ihre Aufregung. Sie hatten sich noch immer nicht beruhigt. Vielleicht hätte er die Frau nicht einfach zwischen ihnen liegen lassen sollen. Sicher rochen die Tiere das Blut. Vielleicht sollte er noch ein bisschen Stroh über sie decken, bevor er ging, damit sie nicht so schnell gefunden wurde.

Das Ganze war ja nicht seine Schuld. Sie hätte eben aufhören sollen zu schreien, als er es ihr gesagt hatte. Frauen waren so dämlich. Allen voran Kira, dieses Miststück. Sie hätte es ihm doch sagen müssen! All diese geheimnisvollen Vorbereitungen waren nichts als eine Finte gewesen, um einen weiteren Tag zu schinden. Wozu wärmte sie denn das Bett des Prinzen, wenn sie nicht einmal das herausfinden konnte?

Vielleicht hatte sie es sogar gewusst. Bei den Ammen, so musste es gewesen sein! Sie hatte ihn ans Messer geliefert! Sie hatte alles mit dem Zauderer abgesprochen, hatte ihn mit Absicht mit falschen Informationen entkommen lassen, um Trenkar zu täuschen. Er war ihr dummes Werkzeug gewesen.

General Trenkar hatte vor Wut getobt, als die Rotröcke aus dem Wald gestürmt waren. Natürlich wusste Trenkar nicht, dass die Schlampe Kira hinter dem ganzen Schlamassel steckte. Als er gebrüllt hatte: »Hängt den Verräter!«, hatte Geran die Beine in die Hand genommen.

Aber er würde seine Rache bekommen. Der Prinz würde Kira fallenlassen, sobald die Akh’Eldash auftauchte. Dann würde sie zurückgekrochen kommen zu Krolan und um Vergebung bitten. Mann, auf den Tag freute er sich heute schon. Krolan war nicht bekannt dafür, zu vergeben.

In dem Chaos der Schlacht war es nicht schwer gewesen, zu entkommen. Er hatte ja nie wirklich vorgehabt, zu kämpfen. Einen Mann mit seinen Fähigkeiten in die Schwerter der Feinde laufen zu lassen, das wäre ohnehin Verschwendung. Er konnte Krolan noch nützlich sein. Nützlicher als dieser Trottel Trenkar allemal.

Jetzt kam es darauf an, schneller bei Krolan zu sein als der General, damit der keine falschen Gerüchte über ihn in die Welt setzen konnte.

Aber für einen findigen Mann wie ihn war das nicht schwierig. Hier im Stall würde er sich den ersten Ulphan ausleihen, und danach konnte er andere finden. Zwar musste er einen Umweg nehmen – ohne einen einheimischen Führer den Niedersee zu überqueren, das wäre Selbstmord. Aber ein einzelner Mann auf einem Ulphan kam wesentlich schneller voran als eine Armee von zwanzig- oder dreißigtausend Mann.

 

Trenkar hatte fast die Hälfte seiner Männer verloren. Aber er war diesem erbärmlichen Prinzen noch immer überlegen, und vielleicht würde die nächste Schlacht ja zu seinen Gunsten ausfallen. Wenn er klug war, würde er Siluren direkt hinter dem Sumpf abpassen, wo es für die Galathräer keine Möglichkeit gab, eine Schlachtformation zu bilden. Dann würde Kira ebenfalls ein nasses Grab im Moor finden.

Fast bedauerte Geran diese Aussichten. Krolan hätte sich sicherlich eine befriedigendere Strafe ausgedacht.

Kapitel 4

Der Akh’Eldash bleibt nichts verborgen. Sie lernt, was die Erdmutter ihr ins Herz legt.

– Buch der Verheißungen, 129. Sentenz

Als Lynn auf Gut Fengajahr Blinthe wiedertraf, hätte sie beinahe geweint vor Erleichterung. Doch sie hielt sich aufrecht und blieb stumm. Erst als sie beide alleine in den Gemächern waren, die seit Jahrhunderten der Akh’Eldash als Unterkunft auf ihrem Weg nach Hohenvarkas dienten, fiel sie ihrer Zofe und Vertrauten um den Hals. »Ich hatte solche Angst um dich!«

»Und ich erst um Euch! Ganz allein im Schnee der Thulmark, und nur einen einzigen Beschützer an Eurer Seite.«

Dieser eine Beschützer hatte ausgereicht, denn es war Coridan von Thul gewesen. So viel Glück lag in diesem Gedanken – und so viel Schmerz. »Du warst genauso in Gefahr«, sagte Lynn. Blinthe und Dendar waren in der königlichen Kutsche gefahren, um die Verfolger von der Spur der echten Akh’Eldash abzubringen. »Ich habe sogar geträumt, ihr würdet noch einmal überfallen!«

»Oh, das wurden wir. Aber wir hatten uns einen Plan zurechtgelegt.« Blinthe berichtete, wie sie in einem Gehöft ein paar Knechte als Begleitschutz angeheuert und die Maskerade auf die Spitze getrieben hatten, indem Dendar sich in ein Kleid gezwängt und die Zofe gespielt hatte. Als die Männer angriffen, wurde ihnen bei Dendars übertriebenem Auftritt sehr schnell klar, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, und als Blinthe sich dann den Lorun-Uhn vom Kopf zog und sie auslachte, sahen sie wenig Sinn darin, sich den Mistgabeln ihrer bäuerlichen Begleiter entgegenzustürzen. Wie Blinthe die Ereignisse beschrieb, mussten die Angreifer den Eindruck haben, ein Narrentheater habe die Reise der Akh’Eldash nachgespielt. Lynn schüttelte sich vor Lachen, vielleicht ein wenig zu übertrieben belustigt, aber es war genau das, was sie jetzt brauchte. »Das habt ihr gut gemacht.«

»Das haben wir auch gedacht.« Blinthe wurde plötzlich ernst. »Aber offenbar haben sie daraufhin Euren Fluchtweg erraten und sind Euch von dieser Seite des Passes aus entgegengekommen. Das hatten wir nicht bedacht.«

»Es ist ja alles gutgegangen.«

»Nur weil der Prinz so klug war, diese Männer zu Eurem Schutz zu entsenden. Wir hätten wohl lieber kämpfen und sie so davon abhalten sollen, Euch zu folgen.«

Es tat weh, die treue Blinthe so zerknirscht zu sehen, und Lynn wollte sie aufmuntern. »Dendar muss ein tolles Bild abgegeben haben. Welches deiner Kleider hat er denn getragen?«

Nur zu gerne ließ Blinthe sich auf die Neckerei ein. »Das mit den grünen Schleifen. Wegen seiner breiten Schultern konnten wir es nicht schließen, sodass zwischen den Rüschen und Bändern sein rotes Brusthaar hervorquoll.«

»Eine erschütternde Vorstellung. Es muss seiner Männlichkeit einen gehörigen Dämpfer versetzt haben.«

»Allerdings! Aber seid unbesorgt, er hat sie in der da­rauffolgenden Nacht glorreich wiedergefunden.«

»Blinthe! Du hast doch nicht etwa …«

»Natürlich hab ich.« Blinthe zwinkerte ihr zu. »Immerhin war er mein Retter in der Not! So viele Jahre lang war ich mit Euch in diesem Tempel eingesperrt, mit nichts als einem Gärtner, so hässlich wie der schwarze Waruzin, und ein paar Stallknechten, denen es vor dem Zorn der Priorin mehr grauste als vor dem der Göttin selbst. Meint Ihr wirklich, ich würde mir diese Gelegenheit entgehen lassen?«

»Ich habe ja nicht geahnt, wie groß deine Leiden waren!«

Blinthe winkte ab. »Wie immer strahlt auch in diesem Fall die Erinnerung goldener als die Wirklichkeit, auch wenn ich Dendar großen Eifer zugestehen muss.«

Lynn lächelte hinterhältig. »Wie ist das nun mit seiner kurzen Nase?«

»Der Zusammenhang ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber mit viel Enthusiasmus und ein wenig Geschick lässt sich einiges ausgleichen.«

Es tat gut, so unbeschwert zu scherzen. Doch jetzt sagte Blinthe: »Nun erzählt Ihr einmal, wie war die Reise durch die Thulmark mit Eurem schwarzen Ritter?«, und alles kehrte zurück: der Kummer, die Unsicherheit. Da Lynn nicht gleich antwortete, wurde Blinthe ernst. »So schlimm?«

Sollte Lynn es ihr erzählen? Gestehen, dass das Undenkbare geschehen war?

»Er hat den No’Ridahl gesehen.«

»Nein!« Blinthe schlug die Hand vor den Mund.

»Aber es ist nichts geschehen. Der Zauber der Göttin hatte keine Macht über ihn.«

Blinthes ungläubiger Blick war wie ein Echo ihrer eigenen Gedanken.

»Das kann nicht sein. Ich habe bei dem Überfall gesehen, wie der Zauber den Männern ins Herz gefahren ist.«

»Ja, ich auch. Doch bei ihm geschah nichts dergleichen.«

»Vielleicht hat er sich nur besser in der Gewalt als andere Männer.«

»Nein. Er wusste es. Es sagte mir, der No’Ridahl würde keine Wirkung haben, und so war es auch. Wie kann das sein? Wie kann er dem Zauber der Erdmutter selbst widerstehen?«

Blinthe spitzte die Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte. »Vielleicht benutzt er einen Schutzzauber.«

»Gegen die Göttin?« Es gab nur eine Macht, die sich der Göttin entgegenstellen könnte, und dieser Gedanke war zu abwegig. »Nie und nimmer huldigt Coridan von Thul den Geistern.«

»Ihr habt recht. Das sieht ihm nicht ähnlich.« Dann hob Blinthe die Hand, als sei ihr ein plötzlicher Gedanke gekommen. »Aber sein Bruder! Er soll sehr belesen sein, bewandert in altem und neuem Wissen.«

Der Kronprinz ein Magus? Das erschreckte Lynn mehr als alle finsteren Gedanken, die sie sich zuvor über Siluren den Zauderer gemacht hatte. Sie wusste nichts über die Macht der Geister und derer, die ihnen dienten. Vermochte ein Magus wirklich, die Herzen der Menschen zu verschließen, sogar gegen den Zauber der Erdmutter selbst? Aber das würde so vieles erklären, gerade auch die übermäßige Liebe und Ergebenheit, die Coridan seinem Bruder entgegenbrachte. Er, der Krieger, einem Stubenhocker, der als schwach und feige galt.

Mit einem Mal fröstelte Lynn. Welch einem Mann führte Coridan sie zu? »Ich habe Angst.«

»Ich weiß, mein Federchen.« Schon lange hatte Blinthe sie so nicht mehr genannt, aber als sie jetzt den Arm um Lynn legte, fühlte diese sich fast wieder wie das junge Mädchen von einst. Schon damals war Blinthe ihre einzige Vertraute gewesen in all dem Neuen und Fremden des Tempels, und auch heute noch konnte Lynn offenbar nur ihr vorbehaltlos trauen. Wenn Coridan tatsächlich unter dem Einfluss eines skrupellosen, zaubermächtigen Mannes stand, dann war sie endgültig alleine.

Doch als sie die Hand hob und die glatte Oberfläche des No’Ridahl auf ihrer Stirn betastete, floss Zuversicht in ihr Herz. Sie war nicht allein. Nein, sie war die Akh’Eldash, die Gesalbte der Erdmutter, und damit stand die Göttin selbst an ihrer Seite. Es war ihr noch nicht klar wie, aber sie würde alles tun, um Coridan zu schützen, vor welchem bösen Einfluss auch immer.

Unvermittelt sagte Blinthe: »Dendar mag den Kronprinzen nicht sonderlich. Er hält ihn für schwach und selbstgerecht. Prinz Siluren hat den König vor den Handwerkern der Hauptstadt als bestechlich hingestellt. Seinen eigenen Vater!«

Ungläubig schüttelte Lynn den Kopf.

»Aber der Kronprinz ist nur eine unserer Sorgen. Dies sind schlimme Zeiten. Galathräa ist im Krieg. Wieder einmal.«

»Die Männer haben davon berichtet.«

»Ich habe mich wie alle anderen auch gewundert, als die Erdmutter eine erwachsene Frau zur Akh’Eldash berufen hat. Aber inzwischen denke ich, sie wusste genau, was sie tat. Dies sind keine Zeiten, in denen die Akh’Eldash folgsam den Blick senken und schweigen darf.«

Blinthe hatte recht. Es stand mehr auf dem Spiel als ihr persönliches Glück. Ihre Aufgabe war es, der Göttin zu dienen, und genau das würde sie tun.

Ganz leise regte sich der Gedanke, sie würde damit vielleicht auch ihr eigenes Schicksal wenden können.

***

Zum Abendmahl ließ Lynn sich von Blinthe den kurzen Lorun-Uhn heraussuchen, der ihre Stirn und Augen nur bis zur Nasenspitze bedeckte. Dann führte ein Diener namens Luth sie beide in den Speisesaal.

Trotz seines bescheidenen Namens konnte Gut Fengajahr leicht mit den kleineren Schlössern im Tarumin und der Riefenau mithalten. Allerdings war der Herr von Fengajahr, Feron Brell, nicht von Adel, und darum war sein Privileg umso erstaunlicher, die Akh’Eldash auf ihrer Brautreise zu beherbergen.

Brell war ein angenehmer Mensch mit gestutztem, grauem Kinnbart und Lachfalten, die sich in Bögen bis weit in die Wangen hinabzogen. Dies und die wachen, blauen Augen ließen ihn jünger erscheinen, als das graue Haar glauben machte. Er strahlte eine väterliche Freundlichkeit aus, zu der Lynn sich gleich im ersten Moment hingezogen fühlte.

Nach dem gemeinsamen Mal zog sich Coridan zu irgendeiner Tätigkeit zurück, und schon dadurch entspannte sie sich zunehmend. Auch ein Glas Branntwein und Feron Brells angenehme Konversation mochten dazu beitragen. Als sie ihn darauf ansprach, dass er der einzige Gastgeber der Akh’Eldash ohne Titel war, lachte er.

»Aber ich habe doch einen Titel. Ich bin der Hüter der Rolle!«

»Der Rolle?«, fragte sie verständnislos.

»Der Rolle von Fengajahr. Der Unterricht der guten Schwester Galabin muss sehr gelitten haben, wenn Ihr noch nie davon gehört habt.«

Mit einem Mal saß Lynn kerzengerade. »Ihr besitzt eine der Rollen der Eldash?«

»Sie ist seit Jahrhunderten im Besitz meiner Familie.«

»Kann ich sie sehen? Sie lesen?«

Er schmunzelte. »Wie man es nimmt. Vor der Akh’Eldash bleibt nichts verborgen. Sie lernt, was die Erdmutter ihr ins Herz legt. Natürlich hat die Akh’Eldash das Recht, sich den Text anzusehen

»Er ist in dieser seltsamen Bilderschrift verfasst.«

»Ich sehe, Ihr habt die anderen Rollen im Tempel gesehen.«

»Nur bruchstückhaft – sie sind mürbe geworden und lassen sich nicht mehr öffnen, ohne sie zu zerstören.«

»Da kann ich Euch mehr bieten.« Er stellte sein Glas zur Seite. »Bitte, Gesalbte. Begleitet mich.«

Neugierig folgte sie ihm in einen anderen Trakt des Hauses, der offenbar seiner Arbeit vorbehalten war. Die Verwaltung eines so großen Guts erforderte sicher viel Zeit, und aus ihren vorherigen Plaudereien hatte sie erfahren, dass er sich daneben mit vielen Wissensgebieten beschäftigte. Offenbar pflegte er auch einen Briefwechsel mit Prinz Siluren. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, Brell nach des Prinzen Verhältnis zu magischen Praktiken zu fragen, aber zu diesem Zeitpunkt war Coridan noch bei ihnen gewesen, und danach hatte es sich nicht mehr ergeben.

Sie passierten verschiedene Türen. Eine davon stand offen, und als Lynn hindurchschaute, sah sie Coridan mit einigen Papieren beschäftigt. Rasch ging sie weiter, bevor auch er sie bemerkte.

Sie betraten einen Raum, um den sich ringsum Vitrinenschränke zogen. Hinter gläsernen Türen lagen die wunderlichsten Dinge – Steine und Mineralien in einem Schrank, ausgestopfte Tiere im nächsten. In weiteren fanden sich getrocknete Pflanzen, obskure Werkzeuge oder Gegenstände, die sich überhaupt nicht zuordnen ließen.

»Mein Kuriositätenkabinett«, sagte Brell mit leichter Verlegenheit. »Es ist nicht zu vergleichen mit dem des Prinzen oder des Herzogs von Arabil, aber ich bin doch ein wenig stolz darauf – und natürlich hat niemand von denen dies hier.« Er öffnete einen der Schränke, zog ein ledernes Futteral heraus, und daraus wiederum ein zusammengerolltes Blatt. Es schien alt, aber bei weitem nicht so alt wie die Rollen im Tempel.

»Das ist kein Original«, stellte Lynn fest.

»Nein, es ist eine Abschrift – allerdings auch mehrere Jahrhunderte alt. Aber sie ist bereits auf Papier geschrieben, nicht mehr auf Leder. Oh, verzeiht.« Er räumte einige Gegenstände vom Tisch in der Mitte des Raumes. »Ich bin in Verzug damit, meine neusten Errungenschaften zu klassifizieren. So, jetzt sollte es gehen.«

 

Das Blatt war etwa eine Elle hoch, vier Ellen lang, und es war atemberaubend. Farbenfroh und detailliert, mit feinsten Strichen gezeichnet tanzten die Bilder über das Blatt, als besäßen sie ein eigenes Leben. Sie waren sehr regelmäßig neben und untereinander angeordnet, sodass sich Gleichmaß und Vielgestaltigkeit auf wunderbarste Weise ergänzten. Diese Schrift diente nicht nur der Vermittlung von Wissen, sie war zugleich Kunst. Leider erfüllte sie diesen zweiten Zweck zurzeit besser als den ersten.

»Verzeiht.« Lynn beugte sich tief über das Blatt. »Ich muss das genauer sehen.« Sie hob den Schleier an, um darunter hindurchspähen zu können. Einige Zeichen wiederholten sich offenbar doch, aber nicht so viele, wie man es bei einer Schrift erwartet hätte, die ja nur eine sehr begrenzte Anzahl von Lauten abbilden musste. Es gab ganz offenbar wesentlich mehr Zeichen als die Neunzehn, mit denen man heute schrieb. Manchmal bestand ein Zeichen aus zwei eng zusammengefügten Symbolen, die sich berührten, als trügen sie in der Kombination eine andere Bedeutung als alleine. »Das entspricht ganz dem Original?«

»Soweit ich es sagen kann.«

»Habt ihr je versucht, es zu entschlüsseln?«

»Natürlich, und ich war nicht der einzige in meiner Familie. Ich vermute, die Form der Bilder gibt einen Hinweis auf ihre Bedeutung. Hier, zum Beispiel, das könnte eine Sonne sein. Dies hier ist ganz klar ein sichelförmiger Mond. Aber was genau soll das bedeuten? Tag und Nacht? Bezeichnet der Mond einen Monat, die Sonne ein Jahr? Oder stehen sie für etwas ganz anderes – Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte …«

»Mann und Frau«, sagte Lynn.

Er stockte, sah sie verblüfft an. »Das … könnte sogar …« Er drehte das Blatt, um es von der richtigen Position aus zu betrachten. »Wenn der Mond für die Frau steht, dann könnte dies hier eine Geburt bedeuten …«

»… und das«, Lynn deutete auf ein blaues Oval neben einem Mond, »könnte der No’Ridahl sein. Beides zusammen steht für die Akh’Eldash.«

Er sah sie verwundert an. »Ist der No’Ridahl nicht rot? Man nennt ihn doch auch Rotstern.«

»Das stimmt«, gab sie zu, »aber im Tempel gibt es einen Stein, der …« Sie stockte, wurde sich der Verworrenheit ihrer Erklärung bewusst und schloss lahm: »Vielleicht war er früher blau.« Seltsamerweise verband sie den blauen Stein im Tempel viel stärker mit dem No’Ridahl als das Mal selbst, das tiefrot auf ihrer eigenen Stirn prangte.

Brell schwieg noch einen Moment, als warte er auf eine weitere Erklärung. Dann trat er zu einem anderen Schrank, in dem Bücher standen. »Meine Vorfahren haben bei dem Versuch, den Text zu entziffern, nicht nur auf dieses Blatt gestarrt. Sie haben auch alte Überlieferungen und Legenden aus dem ganzen Reich zusammengetragen.« Er reichte ihr einen Band, den sie ehrfürchtig entgegennahm. Es waren Aufzeichnungen, ganz deutlich von unterschiedlichen Händen verfasst, aber nicht nur geschriebener Text, sondern auch Zeichnungen von Gegenständen und Landschaften, Landkarten, fremdartige Symbole und ein gepresstes Akeven-Blatt. Verwundert hob sie es hoch.

Brell lächelte. »Das verdanken wir der Kräutersammelwut meiner Urgroßmutter. Ich finde Blätter in allen Büchern hier.«

»Darf ich es lesen?«, fragte sie.

Brell zögerte. »Ihr seid die Akh’Eldash …«

»Ich möchte es nicht mitnehmen.« Ihre Sorge wäre viel zu groß gewesen, es könnte bei ihrer Reise Schaden nehmen oder gar verlorengehen. »Ich werde es hier lesen, wenn ihr erlaubt.«

Brell schien erleichtert. »Natürlich dürft Ihr es lesen. Aber versprecht Euch nicht zu viel davon. Es sind im wesentlichen Ammenmärchen, Erzählungen des einfachen Volkes, die mehr die Wünsche der Menschen als ihre tatsächlichen Erfahrungen beschreiben. Selbst wenn die Geschichten einen Kern Wahrheit enthalten sollten, so haben sie sich über die Jahrhunderte hinweg immer weiter davon entfernt.« Er entzündete eine Lampe und stellte sie auf einen Seitentisch. »Am Besten lasse ich Euch allein. Dann könnt Ihr den Schleier unbefangen zurückschlagen.«

»Danke. Ich werde alles wieder an seinen Platz räumen, wenn ich fertig bin.«

Er lachte. »Ihr müsst nicht ordentlicher sein als der Herr des Hauses. Viel Erfolg – und falls Euch die Göttin noch eine Offenbarung schenkt, lasst mich bitte daran teilhaben.«

Sie versprach es, und er ging.

Zuerst widmete sie sich erneut der farbenfrohen Rolle, versuchte, Muster oder Rhythmen zu erkennen. Es war erstaunlich, wie filigran die einzelnen Zeichen gearbeitet waren. Das ließ vermuten, jedes Detail habe auch eine Bedeutung – die langgezogene Spirale mit dem winzigen Strich bedeutete etwas anderes als die ohne Strich. Lynn drehte das Blatt ein wenig, und dabei löste sich die Beschwerung einer der Ecken. Das Blatt rollte sich auf. Beim erneuten Glätten stockte Lynn.

Dies war eine Rolle, so wie all diese alten Texte. Welchen Sinn hatte es, eine Rolle von links nach rechts zu beschreiben? Wäre es nicht viel sinnvoller, die Zeilen von oben nach unten anzulegen, sodass man zum Lesen immer nur ein Stück der Rolle öffnen konnte, und nicht gleich das ganze Blatt ausbreiten musste?

Aufgrund der regelmäßigen Anordnung der Symbole waren beide Leserichtungen möglich, von Seite zu Seite oder von oben nach unten. Wenn Lynn aber eine Schreibung von oben nach unten annahm, dann erschein plötzlich eine »Zeile« herausgehoben. Lynn hatte dies zuerst auf Feuchtigkeit zurückgeführt oder auf einen Fehler im Papier, der die Tinte hatte verlaufen lassen, doch als sie Brells geschliffenen Glasstein zur Hilfe nahm erkannte sie bei diesen Symbolen zweifache Umrisslinien. Wer immer die Rolle kopiert hatte, er hatte wirklich mit bemerkenswerter Gewissenhaftigkeit gearbeitet.

Sie musste an das Eldash-Mithral denken, dem Buch, in dem die Gedanken und Aufzeichnungen all der Akh’Eldash vor ihr gesammelt worden waren und das sie kopieren sollte, bevor sie selbst es weiterführte. Hatten sich ihr beim Abschreiben der Worte nicht auch neue, tiefere Bedeutungen erschlossen? In dem Zimmer gab es einen Sekretär, in dem sie Papier und Tinte fand, sogar mehrfarbige. Womöglich hatte Brell bereits den gleichen Gedanken gehabt und mit dem Text experimentiert.

Abschätzend betrachtete sie das Blatt, entschied sich dann für die herausgehobene Zeile. Es war die vierte auf dem Blatt. Sie kopierte sie so gewissenhaft, wie es ihr möglich war, aber sie ordnete die Zeichen von links nach rechts an, wie es ihrer gewohnten Leserichtung entsprach. Das blaue Oval und der Halbmond, die langgezogene Spirale und ein Viereck mit hochgeklappter Ecke, danach eine seltsame Schleife. Sie arbeitete mit großem Eifer, doch als sie fertig war und ihr Werk betrachtete, war sie der Lösung keinen Schritt nähergekommen.

Seufzend wandte sie sich schließlich dem Buch zu, das Brell ihr gegeben hatte. Es war in unterschiedlichen Handschriften verfasst, und nicht jede war leicht zu entziffern. So begnügte Lynn sich damit, ziellos zu blättern und hier und dort, wo etwas ihre Aufmerksamkeit gefangen nahm, zu verweilen.

Leider fand sie Brells Auffassung nur allzu schnell bestätigt. Die »Gesalbte«, von der in den Geschichten die Rede war, schien mehr eine Göttin als eine Königin zu sein. Ihr wurden die unterschiedlichsten Wundertaten nachgesagt – von der Krankenheilung bis hin zum Abwenden einer Dürre. Kein Wunder, dass der Glaube an die Heilkräfte der Akh'Eldash im Volk so tief verankert war, wenn die Menschen diese Legenden seit Jahrhunderten weitergaben.

In manchen Erzählungen kam die Akh’Eldash nicht einmal vor, obwohl … da war eine Geschichte, in der ein Mann das Diadem einer Frau mit einer glühenden Nadel zum Schmelzen brachte und sie damit ihrer Macht beraubte. Konnte das eine Anspielung auf den Uhlan sein, das Ritual nach der Hochzeitsnacht, bei dem der König den No’Ridahl mit einer glühenden Nadel zerstörte? Nachdenklich griff Lynn an ihre Stirn, ertastete aber nur den Reif.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?