Welt der Schwerter

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Aus der Reihe: Welt der Schwerter #2
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Kapitel 3

Man sagt mir, mein Gemahl liebe mich. Doch welch eine Liebe ist das, die mich einsperrt in dieses Schloss, die mir Tat und Rede verbietet? Auf die gleiche Weise liebt er auch seinen Hund!

– 12. Akh’Eldash, 11. Eintrag, Vers 6

Onkel Elim wünschte ihn zu sprechen – das war eine gute Nachricht. Offenbar ging es ihm besser. Siluren folgte Finny, die ihn nicht etwa zu Elims Gemach führte, sondern zum Ratssaal.

Im Vorzimmer standen fünf Offiziere, und Siluren versuchte erfolglos, in ihren verschlossenen Gesichtern zu lesen. Offenbar wollte Elim zuerst mit ihm allein sprechen, bevor er seine Offiziere hinzu bat. Bald würden sie Silurens Offiziere sein.

Diese Vorstellung war seltsam.

Elim saß in einem Lehnstuhl am Feuer. Er war noch immer blass, seine Augen dunkel umrändert. Ein Pfeil hatte sich in den Knochen seiner Hüfte gebohrt, das war keine leichte Verwundung.

»Du hättest noch nicht aufstehen sollen, Onkel. Wir hätten in deinem Gemach reden können.«

»Damit meine Offiziere mich im Bett liegen sehen wie eine kranke Wöchnerin?«

»Sie hätten sicher Verständnis dafür.«

»Ach!« Elim machte eine unwirsche Geste. Falls er von den Vorgängen um Kira und den Magus gehört hatte, erwähnte er sie mit keinem Wort. Stattdessen fragte er: »Was tust du noch hier?«

»Ich verstehe nicht …«

»Dein Vater braucht meine Truppen in Adelmund. Er braucht dich

Als hätte Ruothgar ihn jemals gebraucht! Als wäre Siluren für seinen Vater jemals etwas anderes gewesen als eine Enttäuschung und Last! »Ich werde sie ihm bringen. Darüber hatten wir bereits gesprochen.«

»Du müssest längst unterwegs sein!«

»Wir haben gestern erst eine Schlacht gewonnen.« Hatte die Medizin ihn das etwa vergessen lassen? »Die Männer haben bis tief in die Nacht gefeiert.«

»Marschieren können sie auch mit Brummschädel. Krolan steht vor Adelmund, und sobald Trenkar ihm seine fehlenden Männer zuführt, wird er zum Angriff blasen. Denkst du, er wird sich darum scheren, ob seine Soldaten erschöpft sind vom Marschieren oder vom Feiern? Denkst du wirklich, er wird dir auch nur die kleinste Verschnaufpause gönnen?«

Siluren senkte beschämt den Blick. Daran hatte er tatsächlich nicht gedacht. Er hätte es wissen können, aber er hatte es nicht wissen wollen.

In den vergangenen Tagen hatte er weit mehr erreicht, als er jemals von sich selbst erwartet hätte – als irgendjemand von ihm erwartet hätte. Irgendwie hatte er sich gewünscht, es möge genug sein. Er hatte es sich und anderen bewiesen: Er konnte mehr sein als ein Zauderer und Feigling. Reichte das nicht? Durfte er nun nicht zurückkehren zu seinen Büchern?

Aber es ging nicht um ihn. Dies war kein Parcours, den Coridan für ihn ersonnen hatte, sondern ein echter Krieg, und es ging um Galathräa.

Elim schüttelte den Kopf. »Ich hätte nach allem, was Woring mir erzählt hat, mehr von dir erwartet.«

Siluren sah auf. »Du hast mit Woring gesprochen?«

»Natürlich habe ich das.« Woring war ein bürgerlicher, aber die Stadtoberen von Bethelgard hatten ihm den Oberbefehl gegeben. Auch wenn Siluren als Prinz über ihm stand, so wusste doch Elim so gut wie jeder, dass Woring die Schlacht um Bethelgard geführt und gewonnen hatte.

»Woring hat mir berichtet, wie du Trenkar zum Narren gehalten und wie du die Bresche verteidigt hast – mit eigener Hand. Dein Vater wird stolz auf dich sein. Aber glaube nicht, du hättest damit deine Pflicht gegenüber deinem Land, gegenüber deinem König bereits erfüllt. Dieser Krieg hat gerade erst begonnen.«

Womöglich wäre sein Vater heute tatsächlich stolz auf ihn gewesen. Aber all das würde sich in sein Gegenteil verkehren, wenn er den nächsten Schritt tat und scheiterte.

Was Kira jetzt wohl gesagt hätte? »Am sichersten scheitert Ihr, wenn Ihr es gar nicht erst versucht.« Ihre Sicht auf die Welt war so völlig ohne Umwege, ohne Raffinesse. Vermutlich war es genau das, was er brauchte. Er durfte sie nicht gehen lassen. Ohne sie säße er jetzt auf Krailenhost beim Frimm-Spiel mit Leron.

»Nun gut.« Siluren straffte die Schultern. »Dann rufen wir jetzt die Offiziere herein.«

Elim hob die Brauen. »Was willst du ihnen sagen?«

»Ich mag Zeit vergeudet haben, aber ich habe mir durchaus bereits Gedanken gemacht.«

Zufriedenheit zeichnete sich in Elims Gesicht ab, und er nickte dem Türdiener auffordernd zu.

Die Offiziere nahmen die Nachricht, dass sie im Morgengrauen unter Silurens Oberbefehl losmarschieren würden, stoisch zur Kenntnis. Als sei es unter ihrer Würde, eine Reaktion zu zeigen. Vermutlich hatten sie das bereits erwartet.

Siluren gab jedem von ihnen die Hand, und Elim verlor einige Worte über jeden Mann. Sie alle waren altgediente Vasallen des Herzogtums von Etharold, Grafen und Barone, sie alle hatten schon oft mit Elim auf dem Schlachtfeld gestanden, außer dem Jüngsten vielleicht, der noch jünger schien als Siluren selbst, und der hier war, um die Stelle seines erkrankten Vaters auszufüllen. Sie alle waren wortkarg, und vermutlich hatten sie sich ihre Meinung über ihren zukünftigen Befehlshaber bereits gebildet. Siluren der Zauderer, den den Oberbefehl einem Bürgerlichen wie Woring überlässt. Es würde schwer werden, diese vorgefassten Meinungen zu verändern.

Aber warum sollte er das auch? Er war nun einmal der, der er war, und hatte er nicht genau damit Bethelgard lange genug halten können, bis sie und Onkel Elim gekommen waren, um die Schlacht zu wenden? Er fasste die Männer scharf ins Auge. »Man sagt mir nach, ich sei ein Mann der Worte, nicht der Taten.« Nach einer kurzen Pause entstehen fügte er an: »Ich fürchte, das entspricht der Wahrheit.«

Ihre Verunsicherung war geradezu greifbar. Welcher Befehlshaber würde sich selbst als schwach darstellen, und wozu? Doch Worte waren keine Schwäche, das war Siluren heute bewusster als je zuvor, und so fuhr er fort: »Nach Herzog Etharolds Bericht seid ihr alle Männer der Tat, und mir scheint daher, wir ergänzen uns gut. Um Erfolg zu haben, müssen Denken und Tun zu einer Einheit finden. Ich bin euer Befehlshaber, der Kronprinz, und daher erwarte ich Euren Gehorsam. Aber da ich ein Mann des Wortes bin, erwarte ich auch, dass ihr eure Gedanken und Bedenken aussprecht. Ich hoffe auf den Rat gerade der Erfahrenen unter euch, und ich habe sicherlich noch vieles zu lernen. Ich bin bereit dazu. Aber wenn eine Entscheidung getroffen, ein Befehl erteilt wurde, erwarte ich Gehorsam und Pflichterfüllung. Von euch wie von jedem Mann in der Truppe.«

Hatte er sie damit für sich gewonnen? Zweifelhaft. Aber zumindest hatte er seinen Standpunkt klar gemacht. Alles andere würde folgen – so hoffte er zumindest. Als er ihnen eröffnete, sie sollten den Männern noch an diesem Abend den Monatssold auszahlen, zeigten die auf Elim gerichteten Blicke ihre Verwunderung.

»Seht nicht ihn an«, forderte Siluren. »Fragt mich.«

Es dauerte einen Moment, bis der älteste unter ihnen – Brigum von Bleyhardt – zu sprechen wagte. »Wir marschieren erst seit wenigen Tagen, und es ist nicht üblich, den Soldaten mehr als das Handgeld im Voraus zu zahlen.«

»Dieser ganze Marsch über den Niedersee wird mehr als unüblich, und wir müssen uns davon verabschieden, Dinge aus dem einzigen Grund zu tun, weil man sie schon immer so gemacht hat. Wir werden durch Dörfer und Marktflecken ziehen, die ihre Wintervorräte nahezu aufgezehrt haben, und Trenkars Truppen werden nicht zimperlich gewesen sein. Unsere Männer werden weder stehlen noch plündern. Gebt den Befehl aus: Die Soldaten werden bezahlen, was sie nehmen. Wer stiehlt oder Raub erpresst, wird behandelt wie ein gemeiner Dieb.«

Nicht alle schienen zufrieden mit der Antwort. Insbesondere Bleyhardt schien noch etwas auf der Zunge zu brennen, doch er sprach erst, als Siluren ihn dazu aufforderte.

»Hoheit, die meisten von ihnen sind schlichte Männer. Sie kennen das nicht – so viel Geld zu besitzen, ohne es zumindest teilweise sofort zur Begleichung von Schulden verwenden zu müssen.«

Das immerhin war ein gutes Argument. Es durfte nicht noch eine durchzechte Nacht geben. »Wohlan denn, den halben Monatssold. Das dürfte die Gefahr im Zaume halten. Erst recht, wenn sie wissen, dass wir im Morgengrauen losmarschieren.«

Nun wagte auch ein andrer, zu reden. »Was geschieht mit den Gefangenen?«, fragte er. »Wir haben fast zweitausend Tote und Verwundete zu beklagen. Mit den Oneräern könnten wir unsere eigene Truppe stärken.«

Siluren widerstand der Versuchung, seinen Onkel anzusehen. Er musste sich daran gewöhnen, solche Dinge mit seinen Offizieren selbst auszuhandeln. Seine Offiziere. Große Göttin, was tat er hier bloß? »Ist das nicht ein Risiko? Wir hätten potenzielle Verräter in unseren Reihen.«

Wieder antwortete Bleyhardt. »Das wäre richtig, wenn man mit ihnen ein eigenes Regiment schaffte. Wir werden sie aber unter unsere eigenen Männer stecken. Das hält sie unter Kontrolle. Für den Rest sorgt die militärische Disziplin, und in der Schlacht zählt nur noch der Wunsch, am Leben zu bleiben.«

Siluren nickte. »Wir bieten ihnen den gleichen Sold wie unseren Männern.«

Bleyhardt lächelte. »Unterschiedliche Listen zu führen, würde unseren Zahlmeister ohnehin überfordern.«

Als sie gegangen waren, sah Siluren seinen Onkel an. »Nun?«, fragte er.

Elim nickte. »Ihre Herzen wirst du erst gewinnen, wenn du sie in einer Schlacht zum Sieg führst. Aber für heute ist es genug.«

***

Kira kehrte in ihre eigene Kammer zurück. Jemand hatte das Bett gemacht. Vermutlich die gleiche Person, die auch das Kleid aufgehängt hatte, das sie gestern achtlos auf den Boden geworfen hatte. Kira strich hilflos über die scharfen Falten, die sich über Nacht in dem Stoff gebildet hatten. Hoffentlich würde Finny das wieder hinbekommen.

 

Sie wandte sich ab, wollte nicht an ihn denken, doch das war hoffnungslos. Wohin auch immer sie den Blick wandte: da war das Mieder, das er ihr ausgezogen hatte, da lag ihr Dolch – Dolch und Buch. Da waren die Tiegel mit dem Puder, mit dem man sie schön gemacht hatte – für ihn. Da war die Schildjacke, die er ihr geschenkt hatte, und dort der Helm. Das Schwert, mit dem sie gekämpft hatte – an seiner Seite.

»Hör auf!«, befahl sie sich selbst. Sie fand den Spiegel und blickte sich ins Gesicht. Die Farben waren fort, weggeweint und ins Kissen gewischt. Sie sah wieder aus wie sie selbst – Kira, die nur sich selbst gehörte. Die stark genug war, ihr Leben alleine zu meistern und sich zu nehmen, wonach ihr der Sinn stand.

Zumindest, so flüsterte eine Stimme in ihr, solange es erreichbar war.

Wieso tat die Erdmutter ihr das an? Warum zeigte sie ihr, wie die Sehnsucht ihres Herzens Erfüllung finden konnte, nur um diese dann in unerreichbare Ferne zu rücken? Das war nicht redlich. Das war grausam.

»Hör auf, dich selbst zu bemitleiden!« Wer bekam schon den Märchenprinzen? Nur die Akh’Eldash!

Es war, wie es war. Sie würde nicht daran zerbrechen, sondern ihren Weg weitergehen und diese Nacht wie einen Schatz in ihrem Herzen verwahren. Es war ein Versprechen an sich selbst, wie sie sich zuvor schon einige gegeben hatte, und sie hatte sich selbst noch nie enttäuscht. Sie war stark. Seit Orrens Tod hatte sie immer auf eigenen Beinen gestanden, war niemandem zu Dank verpflichtet gewesen. Wenn sie etwas erhalten hatte, war es immer ein Geschäft gewesen und ihre Gegenleistung prompt. Sie hatte sich nie etwas schenken lassen, sich nicht beschützen und schon gar nicht aushalten lassen. Sie konnte für sich selbst sorgen.

Aber jetzt besaß sie ein metallbesetztes Wams, das sie nicht gekauft und dazu einen Helm, der sie nichts gekostet hatte, sie aß am Tisch des Prinzen und ritt auf einem Ul­phan, der ihm gehörte, und was verlangte er dafür?

Sie wusste, was die anderen dachten, allen voran Leron mit seinem unverschämten Grinsen. Gut, sie hatte das Bett des Prinzen geteilt, und bei der Göttin, sollte sie jemals wieder die Gelegenheit dazu haben, würde sie es erneut tun. Aber sie tat es nicht für Geld oder um irgendeinen Vorteil zu erlangen. Sie tat es, weil es ihr gefiel. Sie war Kira, die ihren Weg selbst bestimmte, und bei den drei Ammen, sie würde mitnehmen, was immer sie von diesem Leben bekommen konnte.

Abgesehen davon gab sie sich nicht der Illusion hin, diese Nacht wäre einen guten Helm und eine Schildjacke wert gewesen. Sie hatte für ihn gekämpft, an seiner Seite. Dafür bekam jeder Soldat seinen Sold.

Sold, sagte jene Stimme in ihr, aber nicht Geschenke. Keine fetten Würste vom Tisch des Herren. Aber sie würde keine Mätresse sein, keine Gespielin und auch kein Schoßhund, dem man den Kopf kraulte. Sie war nicht hier, um den Prinzen zu amüsieren. Es wurde wirklich Zeit zu gehen.

Sie zog sich an: ihr Mieder, ihre Hosen. Das waren ihre Sachen. Den Rest würde sie als Leihgabe betrachten, wie das Kleid, und zurücklassen. Zwar war da ein leises Gefühl des Bedauerns, als sie die Schildjacke betrachtete, aber sie wäre sich schäbig vorgekommen, sie mitzunehmen. Noch einmal blickte sie sich um, fand nichts mehr, das ihr Eigentum war, und wandte sich zum Gehen.

Leron stand ihrer Tür gegenüber an die Wand gelehnt. Es war keine Frage, wozu er hier war. Siluren hatte ihn ganz offenbar dazu abkommandiert, auf sie aufzupassen. Wieder einmal.

»Du sollst mich aufhalten, wenn ich gehe«, stellte sie fest.

Er nickte.

Sie legte die Hand ans Rapier. »Ich kann dich besiegen, das weißt du.«

Er wirkte fast traurig, als er antwortete: »Würdest du das wirklich tun? Mir eine Klinge in die Kehle rammen, nur um einem Gespräch aus dem Weg zu gehen?«

Sie empfand gute Lust dazu. »Er hat kein Recht, mich einzusperren.«

Jetzt wiegte Leron zweifelnd den Kopf. »Er ist der Prinz.«

»Ich sollte wohl froh sein, dass es nicht der Kerker ist, wie?« Sie ging ins Zimmer zurück und warf die Tür hinter sich zu.

Dann setzte sie sich so, wie sie war, mit Mantel und Waffen, auf einen der beiden Stühle, die links und rechts des Tisches an der Wand standen, und wartete.

Irgendwann erklangen Stimmen im Gang, dann klopfte es. Sie antwortete nicht gleich, ließ ihn noch einmal klopfen, ehe sie aufstand und ihm öffnete.

Da stand er, lächelte verlegen. »Darf ich eintreten?«

Wortlos machte sie einen Schritt zur Seite.

Er trat ein und sah sich um, offenbar tatsächlich interessiert daran, wie seine Untergebene so untergebracht war. Dann setzte er sich und forderte sie auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Sie tat es, steif und widerwillig. Sie saßen auf beiden Seiten des Tisches, aber nicht einander gegenüber. Stattdessen blickten sie beide auf das Bett, wie Kira mit leisem Unbehagen feststellte.

»Eigentlich«, begann er, »erwarte ich, dass Menschen in meinem Dienst meinen Befehlen Folge leisten.«

»Nun, ich stehe nicht in Eurem Dienst. Ich habe keine Siegelmarke und weder Handgeld noch Sold erhalten.«

»Du hast recht. Das müssen wir ändern.«

Sie seufzte und ließ die Schultern sinken. »Hoheit. Wir beide wissen, ich bin eine Gefahr für Euch.«

»Möglich. Aber du bist auch eine Gelegenheit.«

Sie verstand nicht, und er erklärte es ihr. »Ich denke, du weißt mehr über Krolan, als du mir bisher erzählt hast.«

»Ich soll Euch von Krolan erzählen?«

»Ist das so abwegig?«

»Nein, aber … trotzdem. Er könnte im Traum Dinge von mir erfahren, und ich würde mich nicht einmal daran erinnern.«

»Nur, wenn er dich tatsächlich noch einmal heimsuchen sollte, was Inselm für unwahrscheinlich hält. Dennoch werden wir dafür sorgen, dass du nur solche Dinge weißt, die wir Krolan wissen lassen wollen. Wie bei Geran.«

»Ihr könnt nicht alles vor mir geheimhalten. Ich werde wissen, wo wir sind und wohin wir marschieren.«

Er lächelte schwach. »Wir werden mit zwanzigtausend Mann unterwegs sein. Das lässt sich kaum geheimhalten.«

Das war richtig. Krolan würde noch mehr Spione im Lande haben, auch solche, die ihr Wissen auf althergebrachte Weise in Briefen oder Schwirrern teilten. Vielleicht konnte der Prinz sie tatsächlich zur Täuschung einsetzen, so wie er es mit Geran getan hatte. Resigniert senkte sie den Kopf. »Offenbar habt Ihr das alles schon sehr genau durchdacht.«

»Das habe ich, und es gibt tatsächlich nur ein einziges Argument, dem ich mich beugen würde.«

Unsicher hob sie den Kopf. Er sah sie ernst an. »Willst du fort von mir?«

Sie hielt das Wort zurück, das sich ihr auf die Zunge drängte: nein!

Allein der Gedanke, ihn niemals wiederzusehen, schmerzte. Aber es würde später noch mehr schmerzen. Je länger sie es andauerte, je länger sie es hinauszögerte, umso größer würde die Wunde sein, die der unvermeidliche Abschied schließlich reißen musste.

Doch Kira Idrastochter hatte sich noch vor keinem Schmerz gedrückt. Sie würde den Krug bis zur Neige leeren und den unvermeidlichen Kater in Kauf nehmen.

»Ich verlange festen Sold, so hoch wie der Lerons.«

Er wiegte den Kopf. »Leron ist Korporal und steht seit Jahren im Dienst meiner Familie.«

»Mein Schwert ist flinker als das seine.«

Er nickte. »Nun gut. Einverstanden.«

»Ich werde Helm und Jacke als Leihgabe betrachten, um meinen Dienst besser versehen zu können. Doch ich bin nicht Eure Konkubine.«

Sein Blick ging kurz zum Bett hinüber. »Das ist … bedauerlich.«

»Ihr versteht mich falsch. Das soll nur heißen, ich erwarte keine Geschenke.« Als sein Blick dem ihren wieder begegnete, fügte sie an: »Ich werde Euch ja auch keine machen.«

Er lächelte. »Verstehe.«

»Gut. Dann haben wir wohl alles geklärt.«

»Nicht ganz.« Jetzt wandte er sich ihr zu, streckte die Beine unter den Tisch und stützte die Arme darauf. »Du weißt sehr viel über mich. Wie ich für meinen Vater empfinde und für meinen Bruder. Du kennst meine Selbstzweifel, meine Leidenschaft für das Wissen und sogar den Helden meiner Jugend. Aber ich weiß so gut wie nichts über dich.«

Sie zögerte. Ihre Vergangenheit war nichts, das sie jedem auf die Nase band. Aber er war nicht jeder, und vielleicht schuldete sie ihm tatsächlich etwas Offenheit.

»Was wollt Ihr wissen?«

»War dein Vater Müller?«

»Nein. Der Müller war … ein Freund meines Vaters.«

Er fragte nicht weiter, sah sie nur abwartend an. Schließlich gab sie sich geschlagen. Es gab ohnehin nicht viel zu erzählen. Ihr Vater war Soldat gewesen, ihre Mutter war ihm im Tross hinterhergezogen. Kiras früheste Erinnerung war ihr Vater, gegen den sie mit einem Stock kämpfte, lachend und prustend, und ihn zu Fall brachte. Die zweite, wie er ihr danach mit stolzem Lächeln über das Haar strich. Es war die glücklichste Erinnerung aus jener Zeit. Daneben gab es noch das Bild eines kleinen Jungen, ihres Bruders, der leblos zwischen den Pflanzen am Flussufer trieb. Dann das ihrer Mutter, schreiend in den Wehen, und als sie verstummt war: ihr Vater, die Wangen nass von Tränen, der eine Decke über die Mutter zog. Ganz hinauf, bis der Stoff auch ihr Gesicht bedeckte.

Danach hatte ihr Vater sie in die Obhut der Müllersfamilie gegeben und war weitergezogen – mit dem Versprechen zurückzukehren. Unermüdlich hatte sie mit ihrem Stock geübt, um ihn zu beeindrucken, wenn er sie wieder zu sich holte, und bald hatte sie die Müllersbuben und die Jungen aus dem Dorf überflügelt. Voller Ungeduld hatte sie gewartet, gehofft, und wenn die Sehnsucht eines Kindes je ein Wunder hätte bewirken können, dann die ihre. Doch so oft sie auch hinauf auf den Giebel der Mühle geklettert war, um stundenlang die Umgebung abzusuchen, sie hatte ihn niemals wiedergesehen.

Irgendwann hatten Soldaten die Mühle niedergebrannt und die Müllerin umgebracht. Für den Müller in seinem Gram war Kira nur noch ein unerwünschter Esser gewesen. Vielleicht auch hatte er nicht vergessen können, dass ihr Vater selbst ein Kriegsmann gewesen war. Das Leben in der wiedererbauten Mühle war unerträglich geworden, und als sich in den herbstlichen Baumkronen die gelben Kiras zum Flug nach Süden versammelt hatten, da wäre sie am liebsten mit ihnen geflogen. Im darauffolgenden Frühjahr hatte sie die Mühle verlassen, um ihren Vater zu suchen.

Damals hatte sie sich Jungenkleidung besorgt, ihr Haar kurz geschnitten und sich den Soldaten als Bursche angedient, in der Hoffnung, in irgendeinem Heerlager, während irgendeines Marsches ihrem Vater zu begegnen. So war sie zu Orren gekommen, dem stillen, etwas verschrobenen und doch gutmütigen Orren. Er ließ ihr viel Freiheit, schlug sie nur selten und gab ihr sogar einen kleinen Lohn. Doch dann wurde sie verwundet, und als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, saß Orren an ihrem Lager, mit diesem seltsamen Ausdruck in den Augen. Ihr Geheimnis war gelüftet. Doch er pflegte sie gesund und verriet keinem die Wahrheit.

Bis hierher hatte der Prinz ihrem Bericht schweigend gelauscht. Jetzt sagte er: »Ich vermute, Orren hat einen Preis für sein Schweigen verlangt.«

Sie verstand, worauf er hinauswollte, aber so war es nicht gewesen. »Es hat sich einfach irgendwann ergeben. Immerhin hatte er den Anstand zu warten, bis ich meine Blutungen bekam.« Sie sah das Mitleid in seinen Augen und wollte es nicht. »Orren war kein schlechter Mann. Ich hätte es schlimmer treffen können.« Warum mussten sie überhaupt über Orren reden? Sie sah den Prinzen herausfordernd an. »So viel zu mir. Wie steht es nun mit Eurer Offenheit?«

Er lehnte sich zurück. »Was willst du wissen?«

Was wollte sie wissen? Wie er gesagt hatte: Sie wusste schon so vieles über ihn. Dennoch lag ihr eine Frage auf der Zunge, und sie schämte sich fast für deren Banalität.

»Wie viele Frauen gab es in Eurem Leben?«

Obgleich er ernst blieb, fragte sie sich, ob er innerlich über sie lachte. »Es waren drei, obwohl die Erste eigentlich kaum zählt. Sie war eine Dienstmagd, fast noch ein Kind, so wie ich auch. Wir entdeckten uns gegenseitig. Über intensive Küsse sind wir allerdings nicht hinausgekommen – ihr Vater verschaffte ihr eine Position bei einer anderen Herrschaft.«

Kira lächelte. »Habt Ihr um sie getrauert?«

»Natürlich. Aber ihr Vater schützte sie nur, das war mir bewusst. Die zweite war eine Konkubine des Königs.«

 

Das erstaunte Kira. »Ihr habt Euren Vater betrogen?« Das hätte sie ihm niemals zugetraut.

»Keineswegs. Er hatte das Interesse an ihr verloren, und ehe er sie fortschickte, sollte sie einen Mann aus mir machen.«

»Also hat sie Euch verführt?«

»Mitnichten. Er war auch mir gegenüber sehr explizit. Sie hätte das Schloss mit Peitschenstriemen auf dem Rücken verlassen, wenn die Nacht nicht zufriedenstellend verlaufen wäre.«

Kira schüttelte ungläubig den Kopf. »Nicht, dass Leistungsdruck es einfacher machen würde.«

Er lächelte. »Sie wusste, was sie tat.«

Offenbar hatte diese Frau sein Herz nicht erobert, was seltsam beruhigend war. Umso mehr fürchtet Kira die Antwort auf ihre nächste Frage. »Fehlt die dritte.«

Er hielt ihren Blick mit dem seinen fest. »Das warst du.«

»Das glaube ich nicht.« Der Satz war ihr entschlüpft, ehe sie ihn hätte zurückhalten können.

»Warum nicht?«

Das war eine gute Frage. Weil er ein Mann war? Ein Adeliger? Weil die vergange Nacht so … wundervoll gewesen war?

Sie kannte die Gespräche, wenn Frauen sich über Männer austauschten. »Er geht ran wie ein Ulphanbulle«, hieß es da oder »Er ist hart und ausdauernd wie der Fels von Brehma.« Manchmal auch »Er weiß genau, was er tut.«

Nichts davon beschrieb das Besondere der vergangenen Nacht. Im Gegenteil. Es war nicht seine Ausdauer, nicht irgendeine Technik, die er hätte erlernt oder perfektioniert haben können. Er hatte sich einfach auf sie eingelassen, hatte sich vorangetastet, hatte reagiert auf sie, auf ihre Wünsche, ihr Begehren, ihre Lust. Umgekehrt hatte er sich auch ihr gezeigt, geöffnet. Wenn sie es genau bedachte, war er einfach er selbst gewesen – Siluren. So wie er eben war: einfühlsam, ernsthaft, liebevoll.

»Warum ich?«, fragte sie. Ihre Stimme war mit einem Mal belegt.

»Weil du ehrlich bist. Du wolltest mich. Nicht den Prinzen. Nicht die Stellung, den Einfluss, oder was sonst es ist, das die Frauen sich davon versprechen, auf diese Weise Macht über einen Mann zu erlangen.« Mit einem Mal ging sein Blick ins Leere, und sie ahnte, woran er dachte. Genau dafür war er bestimmt: für eine Frau, die durch den Zauber der Göttin Macht über ihn haben würde. Nicht mehr lange, und er würde die Akh’Eldsh entschleiern, die Gesalbte der Erdmutter, und das magische Mal auf ihrer Stirn würde unfehlbar seine Liebe zu ihr erwecken.

Er erhob sich und trat an das kleine Fenster. Einen Moment lang sah sie zu ihm hinüber, wie er schweigend hinausblickte, dann stellte sie sich zu ihm.

Er musste sich damit beschäftigt haben, musste nachgeforscht haben über das Schicksal, das ihm bevorstand. »Diese Liebe«, fragte sie. »Wird sie Euch verändern?«

»Soweit ich es verstanden habe: nein. Der No’Ridahl wird genau die Art von Liebe wecken, die die Erdmutter in mich hineingelegt hat. Ein brutaler, besitzergreifender Mensch wird die Akh’Eldash auf andere Weise lieben als ein sanfter und fürsorglicher.«

»Aber es ist doch ein Zauber.«

»Das ist jede Liebe auf dieser Welt.«

So lehrten es die heiligen Schwestern. Alle Liebe ging von der Erdmutter aus und floss zu ihr zurück. Leib von ihrem Leib und Geist von ihrem Geist, diese oft genutzte Formel war nur der Beginn einer langen Aufzählung.

Trotzdem, es war eine Sache, unvermutet von der Liebe überwältigt zu werden oder es von vorneherein zu wissen. Kira wünschte sich, ihr möge irgendetwas Kluges einfallen, um ihn zu trösten. Aber es gab keinen Trost. Die Welt war, wie sie war. Es war besser, sich damit abzufinden.

Sie zuckte die Achseln. »Niemand auf der Welt kann das Leben führen, das er sich wünscht.«

Er nickte. »Das hat die Göttin ziemlich schlecht eingerichtet, nicht?«

»Wenn ihr erst König seid, könntet Ihr ja ein Gesetz dagegen erlassen.«

Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. Vermutlich hatte sie wieder einmal etwas sehr Dummes gesagt. Sie sollte besser lernen, den Mund zu halten.

Unvermittelt fragte er: »Warum bist du gestern Nacht gegangen?«

Die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen. Unmöglich. »Ihr wisst, wie es heißt: Man bezahlt eine Hure nicht für die Lust, sondern dafür, dass sie danach wieder geht.«

»Ich habe dich nicht bezahlt.«

»Das will ich Euch auch nicht geraten haben.«

Sein Blick hielt sie weiter fest. Hoffentlich drang er nicht weiter in sie. Keinesfalls wollte sie sich hier lächerlich machen, indem sie ihm heulend ihre Liebe gestand. Sie wandte sich ab und hoffte, er begriffe die Grenze.

Offenbar tat er das, denn er wechselte das Thema. »Das ist eine beeindruckende Narbe.«

Erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit er von einem Schmerz zum nächsten fand. Aber mit diesem lebte sie bereits seit vielen Monaten. Damit hatte sie umzugehen gelernt. »Ihretwegen müsst Ihr keine Angst haben, dass ich Euch einen Bastard schenke.« Sie lächelte keck, aber er blieb ernst.

»Das tut mir leid«, sagte er leise.

»Muss es nicht. In meinem Leben würden Kinder nur stören. Außerdem hat es einige Vorteile.« Sie grinste. »Besonders beim Freien.«

Als er weiter ernst blieb, schwand auch ihr Lächeln. Da war er wieder, dieser Blick, der mit Leichtigkeit ihre Schilde durchdrang. Er zwang sie förmlich dazu, sich zu erinnern. Daran, wie schmerzhaft es gewesen war. Nicht nur körperlich.

Sie hatte mit dem Tode gerungen und sich eine Zeit lang sogar gewünscht zu sterben, nur um den Qualen zu entkommen. Doch diese Schmerzen waren vergangen. Geblieben war die Erkenntnis, nicht mehr ganz Frau zu sein. Eine Zeit lang hatte sie gehofft, die monatlichen Blutungen würden zurückehren, doch dann hatte sie sich damit abgefunden, zerstört zu sein, ein verdorrter Ast am Baum des Lebens.

Mit einem Mal war ihre Kehle wie zugeschnürt. Wa­rum tat er das? Warum ließ er es nicht dabei bewenden? Die starke, die kecke Kira, war es nicht das, was er wollte? Reichte ihm das nicht?

Nein. Wie in der vergangenen Nacht wollte er sie ganz: nackt und bloß, und wie in der vergangenen Nacht hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, sich eine solche Schwäche erlauben zu dürfen. Zum ersten Mal hatte sie das Vertrauen, aufgefangen zu werden.

»Komm her.« Er hob den Arm. Sie zögerte, obwohl sie sich nichts mehr wünschte, als festgehalten zu werden. Warum nur zögerte sie?

Weil es fremd war, ungewohnt. Schwach zu sein – sein zu dürfen. Noch nie hatte ein Mann ihr dieses Angebot gemacht, ohne dass sie einen Hintergedanken hätte fürchten müssen. Aber diesem Mann, diesem Prinzen vertraute sie. Wo Orren sich unsicher abgewendet und andere gespottet hätten, stand er liebevoll und unverrückbar. So ließ sie sich von ihm umfangen, ließ sich fallen in sein Verstehen und seine Stärke. In seinen Armen fand sie Sicherheit, und zum ersten Mal, seit es geschehen war, erlaubte sie es sich, ihren Verlust zu beweinen.

***

Zwanzigtausend Mann – das war eine gewaltige Streitmacht. Die roten Uniformen leuchteten prächtig in der Morgensonne, ein beeindruckender Anblick.

Sie alle unterstanden ihm. Alle diese Männer hörten auf sein Wort, warteten auf seine Befehle. Wie nur sollte er das bewerkstelligen? Zwanzigtausend einzelne Menschen, alte und junge, erfahrene und Grünschnäbel, einige mit Schwertern bewaffnet, andere nur mit Spießen, manche noch mit Wunden von der letzten Schlacht. Die einen mochten für Galathräa kämpfen, andere für den eigenen Ruhm, wieder andere für den Sold. Die meisten waren vermutlich nur deshalb hier, weil ihr Fürst das Recht hatte, sie zu den Waffen zu rufen. Mit einer Weigerung oder gar Flucht hätten sie ihren Familien geschadet. Überhaupt: Familie. Wie viele Brüder mochte es unter seinen Männern geben, die Seite an Seite kämpfen würden? Wie oft waren Vater und Sohn gemeinsam dem Ruf gefolgt? Wie viele hatten eine Frau zurückgelassen, wie viele eine Braut? Für all diese Leben, für all diese Schicksale trug nun er die Verantwortung – und dazu für ganz Galathräa. Wie sollte er das nur bewältigen?