Welt der Schwerter

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Aus der Reihe: Welt der Schwerter #1
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Sie legte die Rolle zurück, betrachtete eine weitere und eine dritte – stets mit dem gleichen Ergebnis.

»Ist das eine Schrift?«, fragte sie.

»Vermutlich. Aber niemand ist mehr in der Lage, sie zu lesen.«

Das war enttäuschend, aber auch irgendwie aufregend. »Was wissen wir über die Eldash? Was ist aus ihnen geworden?«

»Sie waren es wohl, die das Heiligtum fanden und als Erste die Erdmutter verehrten. Später kam aus dem Norden das Volk der Amiten. Sie wurden von einem König angeführt, und um den Frieden zu wahren, wurde der Doppelthron geschaffen, den sich die Königin der Eldash und der König der Amiten teilte. Dies ist der Beginn unserer Geschichte. Das Volk wurde zu den Eldamiten. Das zumindest sagen die Legenden.«

Während die Priorin weitersprach, entfaltete sich vor Lynns geistigem Auge die Geschichte. Sie sah wilde Krieger aus dem Norden in das Land eindringen, rau und ungeschlacht, sah die Akh’Eldash ihnen voller Würde entgegentreten und den Herrscher mit dem Zauber der Göttin besänftigen, um ihr Volk zu retten. Ob diese erste Akh’Eldash den König geliebt hatte? Oder hatte sie sich für ihr Volk geopfert? Was mochte sie über die Fremden gedacht haben, die sie gezwungen hatten, ihre Macht zu teilen?

Aber auch sie war nicht die Erste gewesen. Nur die Erste auf dem Doppelthron. Unvorstellbar, wie weit die Kette von Lynns Vorgängerinnen zurückreichte, weit über die bekannte Geschichte und die geschriebene Sprache hinaus. Sie war nicht die achtundvierzigste Akh’Eldash, es hatte noch viel mehr gegeben. Niemand wusste, wie viele es tatsächlich gewesen waren, und diese, ihre frühesten Vorgängerinnen, waren Königinnen aus eigenem Recht gewesen, nicht Anhängsel eines Mannes, dem sie den Thron sicherten und Nachkommen schenkten.

Dieser Gedanke verursachte Lynn Herzklopfen. Mit einem Mal erschien es ihr noch wichtiger, den völlig unverständlichen Text der ersten Akh’Eldash des neuen Reiches in seiner ältesten Fassung zu lesen.

»Kann ich das allererste Eldash-Mithral sehen?«

»Leider ist das in den Wirren der Zeit verloren gegangen. Das älteste Exemplar ist dieses hier«, die Priorin zog ein dünnes Buch aus dem obersten Regal. »Es stammt aus der Hand Gennahs von Nhim, der vierten Akh’Eldash.«

Das war nun wieder enttäuschend, aber vielleicht hatte Gennah von Nhim – oder auch einige ihrer direkten Nachfolgerinnen, noch Zugriff auf die originalen Schriften gehabt. Lynn reckte den Hals, um in das oberste Regal zu spähen.

»Darf ich ein paar davon mitnehmen?«

»Natürlich, aber das musst du nicht. Du hast das Recht, jederzeit diesen Raum zu betreten und jedes Buch zu lesen oder mitzunehmen.«

Erstaunt sah Lynn die Priorin an. Wie oft hatte man ihr gesagt, Neugier und Wissensdurst schickten sich nicht für Frauen, für eine Frau von Adel seien Ergebenheit und Sanftmut die höchsten Tugenden – und nun standen all diese uralten, kostbaren Papiere zu ihrer freien Verfügung? »Weil ich die Akh’Eldash bin?«

Die Priorin nickte. »Im Buch der Verheißungen steht: ›Der Akh’Eldash bleibt nichts verborgen. Sie lernt, was die Erdmutter ihr ins Herz legt.‹ Das wird so ausgelegt, dass ihr keine Schrift und keine Wissensquelle vorenthalten werden darf.«

Lynn trat aus der Nische zurück in die Halle und ließ den Blick durch den Raum bis ganz nach oben schweifen. So viele Bücher! Niemand würde sie alle in einem einzigen Leben lesen können. Dieses Wissen reizte sie schon allein deshalb, weil es unschicklich war.

»Wenn ich im Schloss bin«, sagte sie, »darf ich mir dann Bücher aus der Bibliothek schicken lassen?«

»Ja – aber einige davon enthalten geheimes Wissen, gefährliches Wissen. Sie sollten diesen Raum besser nicht verlassen.«

»Etwa über die Geister?«

Jetzt zögerte die Priorin. »Es ist nicht heilsam, sich zu viel mit ihnen zu beschäftigen.«

Lynn erinnerte sich meist nicht an ihre Träume, und im Grunde war sie froh darum. Es war unheimlich genug zu wissen, dass sich ihr eigener Geist jede Nacht in den körperlosen Gefilden aufhielt. Dennoch besaß dieses Thema eine gewisse Faszination. »Die Geister sollen denen, die sie beherrschen können, große Macht verleihen.«

Die Priorin hob die Brauen. »Die Geister sind ein Teil der Ewigkeit. Wie kann ein Sterblicher jemals glauben, sie beherrschen zu können?«

»Aber tun die Magoi nicht genau das?« Blinthe kannte die seltsamsten Geschichten über diese Männer.

»Du solltest nicht zu viel auf das Geschwätz deiner Zofe geben. Wie die meisten einfachen Leute ist sie abergläubisch und leicht zu beeinflussen, und es gibt genügend Scharlatane, die das ausnutzen.«

Tatsächlich glaubte Lynn nicht einmal die Hälfte von Blinthes Geschichten. Allerdings waren da durchaus einige, die ihr bei jedem Hören wieder eine Gänsehaut verursachten.

»Aber wenn das alles nur Lügen sind«, sagte sie, »warum ist das Wissen über die Geister dann gefährlich?«

»Ich habe nicht gesagt, dass es alles Lügen sind.« Der Blick der Priorin war nun sehr streng. »Aber wer glaubt, die Geister beherrschen zu können, der ist ein Narr, und ein gefährlicher noch dazu. Sie suchen immer ihren eigenen Nutzen.«

»Aber was könnte ein Mensch den Geistern schon bieten?«

»Sich selbst.«

Verständnislos sah Lynn die Priorin an. Diese seufzte, aber sie erklärte es. »Hast du nicht eben das Buch der Verheißung gehört? Wir sind Geist von ihrem Geist. Die Große Mutter hat einen Teil von sich selbst in jeden von uns gelegt. Jeder menschliche Geist, der verloren geht, schwächt sie, und jeder, der voll neuer Erfahrungen zu ihr zurückkehrt, macht sie stärker. Darum sollte sich die Akh’Eldash von allen Menschen am wenigsten mit den Geistern beschäftigen.«

Weil die Geister die Feinde der Erdmutter waren und die Akh’Eldash ihre Gesalbte. Aber Lynn hatte auch genug gehört. Es war eine Sache, an dunklen Herbstabenden Blinthes schaurigen Geschichten zu lauschen und den wohligen Schauder mit den Freundinnen zu teilen. Tiefer wollte Lynn in diese finstere Welt der Geister gar nicht eintauchen.

Zunächst war ihre Aufgabe das Eldash-Mithral, und nachdem sie die neuen Schätze in ihre Räume gebracht hatte, widmete sie sich diesem mit neuem Eifer.

***

Leider erwiesen sich die Texte der ersten drei Akh’Eldash selbst bei den ältesten Schriften als genauso unverständlich wie in ihrem eigenen Exemplar. Also gab Lynn es auf, zu den ersten Ursprüngen zurückzukehren, und sie verlor erst einmal auch die Lust an der Übertragung der Texte. Vermutlich blieben ihr noch Jahre dafür. Zuerst einmal wollte sie mehr über diese Frauen erfahren.

So zog sie sich mit dem Eldash-Mithral in die gepolsterte Fensternische ihres Zimmers zurück und schmökerte mal zielstrebig, mal aufs Geratewohl darin.

Neugierig und auch ein wenig ängstlich suchte sie nach einem Eintrag Vhellins von Lathem. Diese Akh’Eldash war auf dem Weg zu ihrem Bräutigam von Barbaren aus dem Westen entführt worden. Die Männer hatten sie in Unkenntnis über die Macht des No’Ridahl entschleiert und sich anschließend in einem blutigen Gefecht um sie gegenseitig zerfleischt. Vhellin selbst hatte das Massaker nicht überlebt.

Doch es gab keinen Eintrag von ihr, nur eine Notiz, die besagte, man habe ihr Exemplar des Eldash-Mithral niemals gefunden. Soweit Lynn das beurteilen konnte, war Vhellin die einzige ihrer Vorgängerinnen, die keinen Eintrag hinterlassen hatte. Die übrigen Texte zeugten von der Vielfalt der Frauen, die das Amt bisher innegehabt hatten. Manche hatten das Eldash-Mithral wie ein Tagebuch genutzt, hatten Sorgen und Ängste oder Stunden großer Freude darin festgehalten. Natürlich hatten sich viele auch damit auseinandergesetzt, was es bedeutete, die »Liebe der Göttin zu wirken«. Das half Lynn ein wenig, ihre zukünftigen Pflichten besser zu verstehen. Als Frau des Königs würde sie keineswegs nur die Mutter seiner Kinder sein. Von ihr wurde Mildtätigkeit erwartet, wie es ja generell den Frauen des Adels zukam. Manche ihrer Vorgängerinnen hatten dies bis ins Extrem betrieben und hatten auf diese Weise unglaubliche Not und Armut gesehen. Es war erschreckend, in welchem Elend manche Menschen leben mussten. Ob das wohl noch heute so war? Viele Kranke waren zu den Königinnen gebracht worden, weil nach dem Volksglauben die Berührung der Akh’Eldash heilende Wirkung hatte, ein Glaube, den nicht jede Akh’Eldash bereitwillig übernahm. So schrieb etwa die dreiunddreißigste Akh’Eldash: »Ich fühle mich keineswegs so, als verfüge ich über besondere Fähigkeiten. Ich spüre keine Kraft von mir ausgehen, wenn ich diese Menschen berühre. Aber in dem einen oder anderen Fall ist tatsächlich, nachdem ich meine Hand auf einen Kranken gelegt habe, eine Besserung eingetreten, ohne dass ich sagen könnte, was ich in diesen Fällen anders getan hätte als in anderen. Aber der Segen der Erdmutter liegt auf mir, und das kann ich wohl nicht verleugnen.«

Lynn untersuchte gewissenhaft ihre Handflächen auf eine Veränderung hin, bis sie über ihre eigene Einfältigkeit lachen musste. Wenn sie als kleines Mädchen gestürzt war, hatte da nicht der Schmerz nachgelassen, wenn ihre Mutter über die Schramme gepustet und sie in den Arm genommen hatte? Vermutlich hatte einfach die beruhigende Gewissheit, dass alles gut werden würde, die Angst und damit auch den Schmerz gelindert. Außerdem musste Lynn feststellen, dass einige Akh’Eldash an eben jenen Leiden erkrankt waren, die sie zu heilen versucht hatten. Die angebliche Zaubermacht der Akh’Eldash war wohl allein auf den Aberglauben des Volkes zurückzuführen.

Doch dieses Wunderwirken war nicht das Einzige, womit sich die Frauen auseinandergesetzt hatten. Manche von Lynns Vorgängerinnen hatten mit philosophischem Geist Weisheiten und Merksprüche hinterlassen, denen Lynn allerdings nicht immer vorbehaltlos zustimmte. Andere hatten mit geradezu wissenschaftlicher Akribie versucht, den No’Ridahl und seine Wirkung zu erforschen. Offenbar hatten sie, genau wie Lynn, stundenlang vor einem Spiegel gestanden und zu ergründen versucht, was die endlose Weite und die wabernden Schlieren zu bedeuten hatten, und wie dieser Eindruck zustande kommen mochte. Zumindest hatten sie das getan, bis der Uhlan vollzogen worden war.

 

Danach wurde es um das Mal der Göttin merkwürdig still. Selbst der Uhlan an sich war offenbar für keine von Lynns Vorgängerinnen bedeutungsvoll genug gewesen, um das Geschehen niederzuschreiben. Oder hatte man diese Stellen beim späteren Kopieren getilgt? Lynn blätterte suchend herum und fand schließlich einen einzigen Eintrag. Er machte deutlich, warum keine der Frauen darüber hatte schreiben wollen. Erst die dreiundvierzigste Akh’Eldash hatte den Mut dazu gefunden.

»So heiß brennt in mir die Scham darüber, dass ich das Geschenk der Erdmutter nicht mit meinem Leben verteidigt habe. Doch ich wusste es nicht besser, bis die glühende Spitze mich berührte. Da schrie ich auf voll Entsetzen und der König verschloss meinen Mund mit der Hand, sodass ich fast erstickte. Der Schmerz der glutheißen Nadel war so tief, so durchdringend, erfasste mein ganzes Wesen, als würde er das Leben selbst in mir zu Asche verbrennen. Der König hat mir mein Herz entrissen, meine Seele, und dafür werde ich ihn hassen, solange ich lebe.«

Hastig schlug Lynn das Buch zu, als könne der lederne Einband zugleich die schrecklichen Bilder verdecken, die sich in ihrem Kopf formten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Das also stand ihr bevor. Etwas so Schreckliches, dass keine ihrer Vorgängerinnen je wieder daran hatte denken wollen.

An diesem Tag las sie nicht weiter. Stattdessen half sie Thaja, ausgekeimte Butterzwiebeln zu pflanzen. Die fröhliche Gemeinschaft brachte sie bald auf andere Gedanken und die Erinnerung an die erschreckenden Worte sank ganz tief in Lynns Geist hinab, wo es leicht war, so zu tun, als habe sie sie niemals gelesen.

Am vierten Tag suchte Lynn nach den Einträgen der legendären Haldia. Jedes Kind kannte ihre Geschichte. Die vierundzwanzigste Akh’Eldash hatte ihr Herz an den schneidigen Neran von Fherrn verloren und den No’Ridahl vor ihm enthüllt. Gemeinsam waren sie geflohen, doch der geprellte Bräutigam hatte in seinem Zorn das gesamte Haus von Fherrn ausgelöscht und das liebende Paar bis in die Berge der Thulmark verfolgt. Dort hatte man die beiden erst im darauffolgenden Frühjahr gefunden. Eng umschlungen waren sie in einer Höhle erfroren.

Die blumigen, aber wenig kunstvollen Worte, mit denen Haldia ihre Liebe im Eldash-Mithral festgehalten hatte, ließ sie vor Lynns innerem Auge lebendig werden. Die mythische Sagengestalt trat gleichsam aus der Geschichte heraus wie aus einem alten Gemälde und schrumpfte zu einem unreifen, verblendeten Mädchen, das offenbar nicht begriffen hatte, welches Unglück ihre Selbstsucht über sie und andere brachte. Wenn das die Liebe war, von der Mädchen wie Beringa und Thaja immer schwärmten, dann war Lynn froh, dass sie das noch niemals erlebt hatte. Es war dumm, verblendet und selbstsüchtig.

War aus Liebe nicht noch Schlimmeres geschehen? Über dreihundert Jahre war es her, dass Erina von Brelach statt des Thronfolgers Oneron dessen jüngeren Brüder Galather erwählt und damit den Bruderkrieg ausgelöst hatte, der das Reich spaltete. Ihre Einträge waren zwar weniger schwülstig als die der verliebten Haldia, aber das Ergebnis ihres Handelns zeigte doch, wie verantwortungslos es am Ende gewesen war. Es hatte zu dreihundert Jahren wiederkehrender Kriege geführt.

Wie dumm war ihre Frage an die Priorin gewesen, ob sie ihren Gatten auch lieben würde! Wie unwichtig das war! Ergebenheit und Sanftmut. Die Liebe der Göttin wirken. Vielleicht war dies tatsächlich der bessere Weg. Nicht die eigene Liebe, die eigene Erfüllung suchen. Sie war die Gesalbte der Göttin. Ihr Leben gehörte nicht ihr allein. Sie glaubte zwar noch immer, die Erdmutter müsse sich bei ihrer Wahl geirrt haben, aber es war nun einmal geschehen, und so würde sie ihr Bestes geben, zum Wohle des Reiches und des Tempels. Sie würde der Weisheit der Erdmutter vertrauen und sich den alten Traditionen beugen.

Sie empfand bei diesem Entschluss eine schmerzhafte Wehmut, als verabschiede sie sich nun endgültig von ihrer Kindheit – und doch war da auch eine gewisse Erleichterung. Nun, da sie sich entschieden hatte, schien der Weg klarer und heller vor ihr zu liegen.

Es klopfte, und Lynn schreckte auf. »Ja?«

Blinthe, ihre Zofe, trat ein. »Eure Eskorte ist eingetroffen. Die Priorin erwartet Euch, um sie gemeinsam zu begrüßen.«

»Ich komme.« Lynn erhob sich und wollte zur Tür eilen, doch Blinthe trat ihr in den Weg und warf einen bedeutsamen Blick zur Kommode hinüber. Dort ruhte der Lorun-Uhn, der Reifschleier, auf einem Gestell. Da es im Stift nur Frauen gab, hatte Lynn den Schleier in den vergangenen Tagen nicht getragen. Blinthe half ihr, ihn anzulegen, dann gingen sie gemeinsam hinunter.

Die Priorin empfing sie in ihrem Arbeitszimmer, von dem aus eine Tür in den öffentlichen Saal führte. »Wie weit bist du mit dem Eldash-Mithral?«

Lynn wurde verlegen, wollte nicht zugeben, dass sie mehr gelesen als geschrieben hatte. »Ich werde noch viele Tage brauchen, um den Rest zu kopieren.«

»Das war zu erwarten. Du wirst eine Abschrift des Buches mitnehmen, um dein eigenes Exemplar fertigzustellen. Aber versäume nicht, es auch wirklich zu tun.«

Lynn hatte sich anfangs gefragt, warum sie die Texte abschreiben musste, wo es doch genügend von den Heiligen Schwestern gefertigte Kopien im Tempel gab, doch inzwischen war ihr der Grund dafür klar geworden. Die Worte, die sie abgeschrieben hatte, waren bereits tief in ihrem Gedächtnis verankert, und bei manchem Satz offenbarte sich erst beim Schreiben eine Bedeutung und Weisheit, die ihr beim bloßen Lesen verborgen geblieben war.

»Ich werde alles kopieren und Euch das andere Exemplar zurücksenden«, versprach sie. »Wisst Ihr schon, wann der Kanzler aufzubrechen gedenkt?«

»Es ist nicht der Kanzler, der die Eskorte führt.« Die Priorin kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Es ist Coridan Graf von Thul persönlich.«

Der Sohn des Königs. Der uneheliche Sohn des Königs. Lynn verzog das Gesicht. »Ruothgar schickt seinen Bastard?«

»Lynneth!« Die Priorin blickte tadelnd. »Er ist zwar nicht der Kronprinz, aber durch seine Adern fließt königliches Blut. Also benimm dich entsprechend.«

»Das werde ich.« Lynn nahm sich vor, den Mund zu halten. Zumindest, bis sie das Damenstift verlassen hatten. Danach würde der königliche Bastard durchaus die wahre Lynneth von Vallathrys kennenlernen.

Oh nein, sie tat es schon wieder. Ergebenheit und Sanftmut, ermahnte sie sich selbst. Die Liebe der Göttin wirken. Himmel, was hatte sich die Erdmutter nur gedacht!

Blinthe zupfte noch einmal an dem Schleier herum und maß ihre Herrin mit einem letzten, kritischen Blick, ehe sie die Tür öffnete. Mit gemessenen Schritten betrat Lynn den Audienzsaal, gefolgt von der Priorin.

Lynn wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Vielleicht einen unreifen Gecken, einen blasierten Stutzer. Doch der Mann, der sich ihr zuwandte, war keines von beidem. Das Wort, das ihr bei seinem Anblick in den Sinn kam, war »Krieger«.

Der Staub der Straße lag auf seiner Kleidung aus Leder und Eisen. Sein Haar war regenfeucht und schwarz wie Rabenfedern, eine einzelne Strähne fiel ihm verwegen in die Stirn. Sein Kinn war seit Tagen nicht rasiert worden. Seine Rechte hielt den Helm, die Linke ruhte locker auf dem Griff seines Schwertes – keine Drohung, mehr ein Zeichen langjähriger Gewöhnung. Mit klirrenden Schritten trat er auf sie zu. Jetzt, da er ihr näher kam, nahm sie seinen herben Geruch nach Ulphan und Holzrauch wahr.

Lynn wusste, dass sie in der aufbauschenden Wolke ihres Rockes versinken sollte, aber aus irgendeinem Grunde konnte sie sich nicht bewegen. Stattdessen sah sie mit Erstaunen, wie der Königssohn vor ihr das Knie beugte und den Kopf senkte. »Gesalbte«, sagte er. »Prinz Siluren schickt mich, Euch nach Hohenvarkas zu geleiten.«

»Bitte, Erlaucht.« Die Priorin klang entsetzt. »Ihr solltet nicht knien.«

Er erhob sich geschmeidig, doch ohne Hast. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz. Bei der Göttin, ob dieser Blick den Lorun-Uhn zu durchdringen vermochte?

»Es ist keine Schande, vor der Akh’Eldash zu knien.«

»So wie die Gesalbte ihr Haupt vor der Macht des Königs neigt.« Die Priorin stieß Lynn einen Finger hart in den Rücken, und endlich reagierte Lynn. Sie sank in einen Knicks und wünschte sich ganz weit weg.

Noch nie hatte sie einen Mann wie diesen dunklen Krieger gesehen. Er wirkte hart und unbarmherzig, geradezu gefährlich. Sein Anblick erfüllte sie mit Furcht. Aber gleichzeitig weckte er in ihr den Wunsch, ihn zu berühren. Sie wollte an dieser gemeißelten Kinnlinie entlangstreichen, wollte die Kraft dieser Arme fühlen.

Ein weiterer, verstohlener Stoß der Priorin bedeutete ihr, dass die Verneigung lange genug gedauert hatte. Lynn richtete sich auf und war dankbar für den Schleier, der ihre glühenden Wangen verbarg.

»Ich würde meine Männer gerne einen Tag ausruhen lassen, ehe wir wieder aufbrechen. Ist Euch das genehm?« Er schaute sie an, wurde ihr klar, nicht die Priorin. Es war ihre Zustimmung, die er suchte.

Entsprechend schwieg die Priorin.

»N… natürlich.« Auch das noch, sie stotterte! Lynn reckte die Schultern. Sie war die Akh’Eldash, die Gesalbte der Göttin. Sie sammelte sich kurz, dann sagte sie betont würdevoll: »Lasst Eure Männer ausruhen. Wir brechen übermorgen beim ersten Hahnenschrei auf.«

»Danke. Falls Ihr Fragen habt, stehe ich Euch zur Verfügung.«

»Ich …« Sie hatte viele Fragen, aber im Augenblick kam ihr keine davon in den Sinn. »… werde Euch rufen lassen.«

»Wann immer Ihr wünscht. Gibt es noch etwas, das ich wissen muss?«

Diesmal mischte sich die Priorin ein. »Nur das Eine: Kein Mann außer Prinz Siluren darf den Schleier heben und das Mal der Göttin sehen.«

»Gewiss.« Sein Blick richtete sich kurz auf die Hohe Schwester und kehrte sofort zu Lynn zurück. »Wie groß wird Euer Gefolge sein?«

»Nur meine Zofe.« Sie konnte nicht anders, als seinen knappen, präzisen Fragen ebenso zu antworten.

»Schoßtiere? Ein Trell vielleicht?«

Ein Fellknäuel mit riesigen Augen, winzigen Händchen und buschigem Schwanz – bei der Vorstellung, der Graf müsse ihr einen solchen Ausbund an Niedlichkeit hinterhertragen, lächelte Lynn unter ihrem Schleier. Zum ersten Mal kam ihr in den Sinn, dass dieser Krieger die Aufgabe, eine Frau zu eskortieren, vielleicht für unter seiner Würde hielt. »Nein, keine Tiere, und mein Gepäck wird sich in einem überschaubaren Rahmen halten.«

»Gut.« Eine knappe, geradezu militärische Verbeugung deutete an, dass er bereit war zu gehen. Es war an ihr, darüber zu entscheiden, wurde ihr klar.

»Kommt morgen zur dritten Stunde nach Sonnenaufgang in meine Gemächer. Dann werde ich Fragen haben. Bis dahin seid Ihr entlassen.«

Seine Reverenz war nur ein kurzes Versteifen, wie ein Salut, und drückte mehr Stolz als Unterwürfigkeit aus. Sie sah ihm nach, wie er mit ausgreifenden, klirrenden Schritten den Raum verließ. Erst, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete sie freier.

»Nun?«, fragte sie. »Wie habe ich mich gehalten?«

»Du hast dich gefangen«, sagte die Priorin. »Er ist nur ein Mann – lass dich von ihm nicht verunsichern.«

Nein, das würde sie nicht mehr zulassen. Hatte sie nicht für ihre Freundinnen am Verhandlungstisch gestritten? Hatte sie nicht die Stallknechte und Diener im Tempel zurechtgewiesen, wenn keine der Heiligen Schwestern anwesend war, um es zu tun? Männer prügelten sich in Wirtshäusern und schlugen einander in Schlachten tot. Das waren wahrlich keine Gründe für Überheblichkeit. Sie würde dem königlichen Bastard deutlich machen, wer hier die Überlegene war.

Aber durfte sie das als Gesalbte? Sie war nun die Hohepriesterin der Großen Mutter, die jedes ihrer Kinder gleichermaßen liebte. Sie konnte nicht mehr nur nach ihren eigenen Vorstellungen handeln. Ergebenheit und Sanftmut!

»Ist es angemessen, ihn in meinen Gemächern zu empfangen? Sollte ich Thaja hinzubitten?«

»Es reicht, wenn deine Zofe anwesend ist. Während der Reise wirst du auch nur sie als Ehrendame bei dir haben. Aber falls du dich mit einer deiner Freundinnen sicherer fühlst …«

 

Lynn hatte sich früher nicht gescheut, einem Mann nur in Begleitung ihrer Zofe gegenüberzutreten, aber damals hatte sie auch noch ganz sie selbst sein dürfen. »Ergebenheit und Sanftmut«, murmelte sie.

Jetzt legte ihr die Priorin beide Hände auf die Schultern. »Verwechsle Sanftmut nicht mit Schwäche«, sagte sie ernst. »Das ist ein Fehler, der den Männern allzu oft unterläuft. Die Göttin selbst ist sanft, und dennoch gibt es in dieser Welt keine größere Macht als die ihre. Lass dir von dem Grafen und seinen Männern keine Angst machen. Du bist die Akh’Eldash, und in wenigen Tagen wirst du seine Königin sein.«

Lynn reckte die Schultern. Sie mochte kein Schwert tragen und keine Schlachten schlagen, aber ihre Würde hatte sie von der Erdmutter selbst erhalten.

»Ich werde Thaja nicht brauchen.«

Was immer sie eben so demütigend schwach hatte erscheinen lassen, es würde kein zweites Mal geschehen. Morgen würde er kein verängstigtes, kleines Mädchen mehr antreffen, sondern eine Königin.

***

Cor hatte darauf bestanden, dass die Männer ihre Ulphane selbst versorgten. Sie waren zwei Tage lang durch Schneeregen geritten, und er wollte sichergehen, dass die Tiere nicht krank wurden. Als er den Stall betrat, fragte Dendar: »Und? Wie ist sie?«

»Verschleiert.« Cor schaute nach Jorand, den die Männer bereits trockengerieben hatten. Er nahm eine Handvoll Getreide aus einem der Beutel und hielt es ihm hin, prüfte mit der anderen das dichte Winterfell. Die Unterwolle war erfreulich trocken geblieben.

»Ist sie anspruchsvoll?«, fragte Dendar. »Zimperlich?«

»Schwer zu sagen. Wir haben kaum ein paar Worte gewechselt.« Es war schwer, einen Menschen einzuschätzen, wenn man seine Augen nicht sah. Dennoch hatte ihre Haltung viel über sie ausgesagt: die Schultern gestrafft, den Kopf erhoben, der ganze Körper in stolzer Spannung. Dabei war sie ihm nicht etwa angestrengt erschienen. Ihre Haltung war Ausdruck einer vitalen Anmut, einer Lebendigkeit und Wachheit, die er selten in einer Frau gesehen hatte.

»Wie alt ist sie?«

»Sie ist jedenfalls kein Kind mehr.« Ganz im Gegenteil – ihr Dekolletee hatte reizvolle, weibliche Formen enthüllt und einen langen, schlanken Hals. Allerdings war da auch eine gewisse Kühle gewesen, vielleicht sogar Arroganz. Bestimmt war sie eine anspruchsvolle Frau, die wusste, was sie wollte. Aber das sollte Silurens Sorge sein, nicht die seine.

»Was starrst du so verträumt vor dich hin?«, wollte Dendar grinsend wissen.

»Ich warte darauf, dass ihr fertig werdet. Können wir gehen?«

Helims Kopf schaute hinter einem der Ulphane hervor. »Hat sie einen Trell?«

»Nein.«

»Gut. Ich hasse diese Biester. Klettern überall hinauf und ziehen dir an den Haaren.«

Cor klopfte sich die verbliebenen Körner von der Hand. »Sie gönnt uns einen Tag Rast. Die Verwalterin wird euch eure Räume zuweisen.«

»Im Stift?« Dendar grinste frech.

»Ich kann der Verwalterin auch sagen, dass du lieber im Stall schlafen möchtest.«

»Tu mir das nicht an, mein Prinz. Lass mir wenigstens meine Träume.«

Die Ulphane waren alle wohlversorgt, und Cor wandte sich zum Gehen. Während sie den Hof überquerten, stieß Dendar ihm den Ellbogen in die Seite. Als er Cors Aufmerksamkeit hatte, hob er vielsagend den Blick.

Auf einer umlaufenden Balustrade drängten sich Seite an Seite gut zwanzig Mädchen, alle in helle Pelze gekleidet, alle mit ausdrucksstark geschminkten Lippen und Augen.

»Das wird eine Nacht mit wundervollen Träumen, mein Prinz.«

»Es schmerzt mich, dich enttäuschen zu müssen, aber du bist vermutlich nicht ihre erste Wahl.«

»Das macht nichts.« Dendar grinste. »Das Schöne an geträumten Freuden ist, dass eine Jungfrau danach noch immer eine ist. Sie können zuerst zu dir und dann zu mir kommen.«

Eine der Heiligen Schwestern stand auf den Stufen vor dem Hauptportal und sah ihnen entgegen. »Die Priorin erwartet Euch«, sagte sie zu Cor. »Sie möchte ein paar Worte mit Euch wechseln. Diese Magd wird Euch zu ihr führen, während ich Euren Begleitern die Gastgemächer zeige.«

»Gut.« Cor sah besagte Magd auffordernd an. Die junge Frau senkte schüchtern den Blick und ging voran.

Die Priorin besaß einen Raum eigens für die Arbeit, welche die Verwaltung der Schwesternschaft mit sich brachte, und diese Arbeit war sicher umfangreich. Der über dem Mutterschoß erbaute Tempel war zwar das Hauptheiligtum, doch gab es Schwesternschaften überall im Lande, die der Mildtätigkeit für die Armen und Kranken verschrieben waren und der Priorin unterstanden. Viel Arbeit und viel Verantwortung also. Nicht verwunderlich, dass diese Frau einen energischen, harten Eindruck machte.

Sie hieß Cor mit reservierter Freundlichkeit willkommen. Wie alle Heiligen Schwestern war auch sie eine Frau des Adels, Hochadel sogar, aus dem Geschlecht der Merkadinger. Sie saß sehr aufrecht. Vermutlich stieß es ihr sauer auf, ihr Anliegen mit einem Bastard bereden zu müssen.

Cor setzte sich in einen Lehnstuhl ihr gegenüber und legte die Arme entspannt auf die gepolsterten Lehnen. »Wie kann ich Euch dienen, Hohe Schwester?«

Sie begann mit den üblichen Floskeln. Aber es dauerte nicht lange, bis sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen kam. »Die Verbindung des Königshauses mit dem Tempel hat eine lange Tradition«, sagte sie. »Auch wenn die Zusammenarbeit seit einigen Jahren brachliegt, da sich Euer Vater nach dem Tode der Akh’Eldash geweigert hat, erneut zu heiraten.«

Cor lächelte. »Ihr könnt nicht erwarten, dass ein Mann dem No’Ridahl verfällt und diese Liebe dann für eine neue Akh’Eldash zur Seite legt.«

Sie wussten beide, dass Ruothgar nach dem Tod der Akh’Eldash durchaus körperliche Freuden in den Armen anderer Frauen gefunden hatte. Er hatte mit der Heirat der Akh’Eldash und der Geburt eines Thronfolgers aus ihrem Schoß seine Pflicht gegenüber dem Tempel erfüllt. Ihr Tod war ihm insofern entgegengekommen, als er die Macht auf diese Weise nicht mehr hatte teilen müssen, und nur aus diesem Grunde hatte es seit über zwanzig Jahren keine Akh’Eldash mehr gegeben.

Zwar war der Tempel nicht ganz ohne Einfluss geblieben, es gab wechselnde Beraterinnen am Hof. Doch alleine die Wirkung, die der Anblick des leeren Thrones auf das Volk und Gesandte hatte, musste für die Priorin ein ständiges Ärgernis darstellen. Ruothgar hatte ihr allerdings bereits vor Jahren klargemacht, dass es für die Schwesternschaft besser war, sich mit diesem Arrangement zu begnügen, als in einem Kräftemessen die Privilegien zu gefährden, die sie trotz ihres Geschlechtes innehatten.

All das war Cor genauso bekannt wie der Priorin, und dieses beiderseitige Wissen drückte die Frau mit einem durchdringenden Blick und einem langen Schweigen aus, bevor sie sagte: »Selbstverständlich nicht. Umso größer ist meine Freude darüber, dass die Zeit der Entfremdung der Vergangenheit angehört. Königshaus und Tempel werden das Schicksal Galathräas zukünftig wieder mit vereinten Kräften gestalten.«

Cor lächelte dünn. »Ihr richtet diesen Appell an den Falschen, Hohe Schwester. Ich bin nur ein Bote, die Eskorte für die Akh’Eldash.«

»Das ist mir bewusst. Doch als Bote werdet Ihr mein Anliegen sicher getreulich weitergeben.«

»Sowohl der König als auch der Kronprinz sind über dieses Euer Anliegen im Bilde.«

»Ich spreche nicht als Bittstellerin. Zu einer Partnerschaft müssen beide Seiten einen Beitrag leisten, und ich möchte zeigen, dass wir dazu in der Lage sind.« Sie legte die Hand auf einige Blätter. »Ich habe hier Briefe, die belegen, dass Oneräa sich zu einem Krieg gegen Galathräa rüstet.«