Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen

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20. Februar - Von einer Blume in der Wüste

I

«Frida hat keinen Freund», erklärte Elena. «Du kannst dir absolut sicher sein, dass ich diesbezüglich bestens informiert bin.» Sie grinste, blickte dann wieder in den kleinen Spiegel an der Wand und tuschte sich weiter die langen Wimpern.

Toni saß auf einem der Sitzkissen in Elenas Zimmer und nippte an einer heißen Schokolade.

«Und du willst dir wirklich nichts anderes anziehen?» Elena schenkte Toni einen kritischen Blick von der Seite. «Immerhin ist es Fridas Geburtstag.»Toni sah an sich hinunter. Sie fand, dass an einem schwarzen Kleid nichts auszusetzen war.

«Du siehst ein bisschen nach Beerdigung aus», erklärte Elena und lächelte versöhnlich. «Hast du nicht zumindest etwas Kürzeres?»

«Ich mag keine Strumpfhosen.» Damit schien die Sache für Toni vollständig geklärt.

Einen kurzen Augenblick noch musterte Elena ihre Freundin in dem schlichten, schwarzen Kleid, welches selbst im Stehen fast den Boden streifte. Die dunklen Locken waren zu einem dicken Zopf gebunden, der ihr seitlich über die Schulter fiel. Toni war wie üblich ungeschminkt und ihr Teint winterlich blass, dass die dunklen Augen ein wenig ungesund und schattig in den Höhlen lagen.

«Vielleicht liegt es auch nur an deinem Gesichtsausdruck», kommentierte Elena abschließend, die offensichtlich jegliche Hoffnung aufgegeben hatte. Darauf vollendete sie ihr sorgfältiges Make-up mit ein wenig rosafarbenem Lipgloss. Derartige Rituale beging Elena mir einer beinahe religiösen Feierlichkeit. Sie presste ein paar Mal die Lippen aufeinander, wandte sich dann von ihrem Spiegelbild ab und posierte in ihrem kurzen, lavendelfarbenen Kleid scherzhaft in der Mitte des kleinen Zimmers. «Und?», fragte sie zum Abschluss und drehte sich einmal um die eigene Achse.

Toni war sie sich nicht sicher, ob sie den Weg zu Fridas WG auch alleine auf Anhieb gefunden hätte. Sie wusste lediglich, dass es sich um eine der schmalen Gassen handelte, die in südlicher Richtung von der Hauptstraße abzweigten, und dass sich ein etwas dubioses Antiquitätengeschäft in derselben Straße fand, das weniger Antiquitäten als eine Menge unheimlichen Plunder feilbot. Dabei hatte Toni eigentlich einen sehr guten Orientierungssinn, der ihr selbst in Rom, Paris oder im tiefsten Wald noch niemals den Dienst versagt hatte. Es schien ihr also eher, als hätte es eine besondere Bewandtnis mit Fridas Wohnung. Als fände sich diese in einer Art Bermuda-Dreieck. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sich Toni dort in der muffigen Wohnung immer ein wenig unwohl fühlte. Schließlich war Frida vor allem Elenas Freundin und im Grunde nicht mehr als eine flüchtige Bekannte.

Elena war guter Laune und ihre beschwingten Schritte hallten zwischen den Häuserwänden wieder. Nach Tonis unvermittelter Flucht aus der WG hatten sie und Raphael noch einen äußerst erfreulichen Nachmittag miteinander verbracht. Zumindest wenn man Elenas überschwänglicher Berichterstattung Glauben schenkte. Das Ganze lag nun bereits zwei Wochen zurück und Raphael und sie waren seitdem ein paar Mal in der Mensa essen oder abends gemeinsam feiern gewesen. Es war recht eindeutig, dass sich ihre Mitbewohnerin mittlerweile Hoffnungen machte, was Raphael und sie betraf, auch wenn sie das natürlich niemals zugegeben hätte. Stattdessen betonte sie immer wieder, es handele sich um eine rein freundschaftliche Beziehung. Schließlich hätten sich Raphael und sie mit Ausnahme dieses einen Freitagnachmittags immer auch in Gesellschaft weiterer Bekannter befunden. Zwar war Toni nicht ganz klar, in wie fern diese Gesellschaft ein Beweis oder Gegenbeweis sein konnte für irgendetwas, doch war es auch nicht ihre Art, derlei argumentative Mängel anzuprangern. Und vielleicht hatte sie auch wirklich keine Ahnung von diesen Dingen. Zudem konnte sie wirklich nicht sagen, ob Elena nun wirklich Gefallen an Raphael fand, oder ob sie nicht viel mehr Gefallen daran fand, Gefallen an ihm zu finden. Denn seit sie Elena kannte, schwärmte diese immer für irgendeinen Kerl. Sie schien dabei ein Faible zu haben für hübsche Gesichter und eine leichtfüßige Unentschlossenheit. Toni dagegen vermochte sich nicht zu erinnern, selbst auch nur ein einziges Mal für irgendjemanden geschwärmt hätte. Jegliche Glorifizierung war ihr suspekt. Im Gegensatz zu Elena konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass zwei Menschen für einander bestimmt waren auf irgendeine Art. Dies schien ihr ein metaphysisches Gerücht, genährt von rührseligen Büchern und Filmen.

Toni war sich erst sicher, dass man in die richtige Gasse eingebogen waren, als man das Antiquitätengeschäft passierte und sie einen Blick in die dunkle Auslage werfen konnte. Beim Anblick einer alten Porzellanpuppe erschauerte sie unwillkürlich. Mehrere Fenster der WG waren auf die Straße hin geöffnet und es drang das dumpfe Pulsieren eines Basses hinaus auf die Gasse. Auf Elenas Klingeln ließ man sie ins Haus und kurz darauf betraten die beiden jungen Frauen die Wohnung.

Nachdem man sich einen Weg zu Frida in die Küche gebahnt und ihr herzlich zum 24. Geburtstag gratuliert hatte, suchte Elena recht entschlossen nach Raphael, auch wenn sie diese Suche als einen beiläufigen Spaziergang zu tarnen versuchte und hier und da mit einem alten Bekannten ein paar Worte und ein Lächeln wechselte.

Toni fühlte sich unbehaglich in Elenas Schlepptau. Wie ein Fisch, der einem Kutter folgte wegen der Speisereste, die hin und wieder über Bord geworfen wurden. Sie ließ sich daher unmerklich zurückfallen, bis sich der Abstand zu ihrer Mitbewohnerin soweit vergrößert hatte, dass niemand mehr eine Verbindung zwischen ihnen beiden hergestellt hätte. Nur aus der Ferne noch wurde sie Zeuge Elenas Triumphs: Sie hatte Raphael schließlich in seinem Zimmer entdeckt, wo er in einem von zwei abgewetzten Ohrensesseln saß. Das Bild erinnerte Toni an einen dieser uralten Schwarzweiß-Krimis.

Raphael unterhielt sich angeregt mit einem Kumpel, hatte die Beine dabei lässig übereinandergeschlagen. Es fehlte lediglich eine rauchende Pfeife in seinem Mundwinkel.

Ungläubig sah sie dabei zu, wie sich Elena nach einer flüchtigen Begrüßung auf die Armlehne neben ihn setzte. Da hockte sie nun in ihrem lavendelfarbenen Kleid wie ein zarter Vogel auf der Stange. Nur beim Lachen zeigten sich spitze Zähne. Toni wandte sich fast ein wenig ärgerlich ab von der Szene. Sie beschloss sich auf einen Streifzug durch die Wohnung zu begeben. Sie hatte immerhin ein Glas Caipirinha in der einen und einige Salzstangen in der anderen Hand und wäre somit für einige Minuten versorgt.

Jeder der drei Mitbewohner schien seine eigenen Freunde und Bekannten eingeladen zu haben und so war eine recht bunte Truppe zustande gekommen. Toni erkannte sogar einen Kommilitonen, traute sich jedoch nicht ihn anzusprechen. Sie war sich auch nicht sicher, ob er sie ebenfalls erkannt hatte. Im Hörsaal war es dunkel und es saßen dort viele Studenten. Man wechselte höchstens ein paar Worte mit seinen Sitznachbarn. Mit Namen kannte sie selbst deshalb nur ein Dutzend ihrer Kommilitonen. In den Übungsgruppen trat Toni zudem sehr zurückhaltend auf. Sie rechnete nur dann vorne an der Tafel, wenn der Tutor sie dazu nötigte. Sie sprach nicht gerne vor vielen Menschen, selbst wenn man ihre elegante Lösung lobte. Meist saß sie mit Benjamin und Dominik in der letzten Reihe. Wenn es schwierig war, machten sie sich eifrig Notizen. In der Hoffnung, später einmal aus diesen schlau zu werden. War es einfach, hörten sie nur halbherzig zu. Dann trugen Benjamin und Dominik eines ihrer kindischen Turniere aus und malten im Wechsel Kreise und Kreuze aufs Papier, während Toni gedankenlos aus dem Fenster starrte oder frühzeitig nach Hause ging, um dort in Ruhe ihre Aufgaben zu lösen. Im Gegensatz zu ihren Kommilitonen lernte und rechnete sie immer allein.

Nachdem Toni ihren ersten Caipirinha ausgetrunken hatte, bereitete sie sich nach Gutdünken einen zweiten zu. Obwohl sie selbst es gewesen war, die Limetten und Cachaca auf die Party mitgebracht hatte, wusste sie nicht genau, wie das optimale Mischungsverhältnis der Zutaten war. Von dem freundlichen Studenten, den Elena vorhin so charmant zur Hilfe gerufen hatte, fehlte nun jede Spur.

Toni dachte sich, dass es wohl nicht so schwierig sein konnte, aus Zucker und Schnaps einen vernünftigen Drink zu mixen. Sie fand dann jedoch, dass ihr selbst zubereiteter Cocktail grauenhaft schmeckte. Und auch als sie ein zweites Mal an dem Strohhalm sog, konnte sie nur angewidert den Mund verziehen. Sie versuchte den bitteren Geschmack durch Zugabe von weiterem Rohrzucker aufzuheben. Diese Strategie erwies sich allerdings als wenig zielführend. Schließlich entschied Toni, dass sie sich mit der Zeit schon an den ekelhaften Geschmack gewöhnen würde, und nahm tapfer einen weiteren Schluck, ehe sie ihren Streifzug durch die Wohnung fortsetzte.

In einem der Zimmer stand ein altes, verstimmtes Klavier. Zwei Studenten waren bemüht, die Titelmusik verschiedener Action-Filme zu rekonstruieren. Da Toni nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen, hörte sie den kläglichen Mühen halbherzig zu und besah sich währenddessen die Bücher im Bücherregal. Das Klavier gab derweil die schauerlichsten Laute von sich. Toni musste an ein fauliges Grinsen denken. Überhaupt hatte sie bei den weißen Tasten schon immer an Zähne denken müssen. Wenn man es genau bedachte, waren sie das ja auch einmal gewesen, zumindest was die alten Klaviere betraf.

Toni hätte sich niemals getraut, selbst einmal so wild und gefühllos auf den Tasten zu hämmern, und die Grobheit der beiden Studenten versetzte ihr einen Stich. Den Flügel ihres Vaters hatte sie als kleines Kind kaum zu berühren gewagt. Und auch als sie dann selbst Klavierunterricht erhalten hatte, war sie dem Instrument immer etwas ehrfürchtig entgegengetreten und hatte Angst gehabt, Fettflecken auf den polierten Tasten zu hinterlassen. Seitdem sie ausgezogen war, gab es weder einen Flügel noch ein Klavier, auf dem sie hätte spielen können. Im Grunde war sie erleichtert deswegen. Weil sie sich dann nicht schämen und ärgern brauchte, dass ihr Spiel nicht ihren Erwartungen entsprach. Sie würde niemals so gut spielen können wie ihr Vater. Das war eine Tatsache.

 

Das Geklimper verlor sich zögerlich und kurz darauf setzte sich ein anderer Student auf den Hocker. Er hatte, wie Toni fand, eine ziemlich geleckte Frisur, machte jedoch schon mit seinem ersten Anschlag deutlich, dass er geschickt war am Klavier. Dabei allerdings setzte er sich ziemlich in Szene. Sie war der Meinung, dass er dennoch passabel spielte. Nur hatte sie nicht sonderlich viel übrig für diese Art von leichtem Pop, der harmonisch und konturlos dahinplätscherte. Immerhin aber verlieh der verstimmte Klang dem Stück eine ungewohnte Tiefe und Toni musste an ein Klavier auf dem Meeresgrund denken, auf dem sich bereits Muscheln und Seegras angesiedelt hatten. Sie verdrängte den abgeschmackten Gedanken und nahm einen weiteren Schluck Caipirinha. Zufrieden stellte sie fest, dass tatsächlich nichts mehr Störendes war an dem Geschmack.

Sie war gerade dabei, ihren Strohhalm tanzen und die Eiswürfel in ihrem Glas wild klimpern zu lassen, als die Klaviermusik jäh abbrach und sie ein wenig verärgert zu dem Pianisten hinüberblickte.

«Soll das ein Scherz sein?», fragte dieser und starrte erbost einen weiteren Mann an, der keinen Meter neben dem ramponierten Instrument stand und breit grinste. Toni identifizierte ihn mit einigem Schrecken als genau den Mann, den sie vor ein paar Wochen erst mit Frida beobachtet hatte. Einen Moment verlor sie sich in gräulichen Szenen. Diffuses Licht. Zwei feuchte Augäpfel in schattigen Höhlen. Fridas helles Puppenhaar. Zwei Hände. Nackte Haut. Nacktes Fleisch. Sie musste sich zusammenreißen, um die Erinnerungen zurückzudrängen. Unwillkürlich schoss ihr das Blut in die Wangen. Sie schluckte schwer. Sie war sich absolut sicher, ihn wiederzuerkennen. Auch wenn seine Haare in diesem Licht nun heller schienen, von einem undefinierbaren Dunkelblond, und er kaum älter wirkte als Toni selbst. In seinem grauen Hemd und der dunklen Hose machte er zudem einen deutlich seriöseren und weniger rabiaten Eindruck.

«Nur eine kleine Erkenntlichkeit für deine rührende Darbietung.» Es war eine tiefe und feste Stimme.

Der Klavierspieler erhob sich und schüttelte zornig den Kopf. Der Hocker wurde dabei peinlich knarzend nach hinten geschoben. Einen Moment herrschte Schweigen, dann schenkte der Pianist anderen eine verächtliche Grimasse und wandte sich zum Gehen. Der andere aber stand noch immer da, ein Lächeln im Gesicht und folgte dem Abgang des Klavierspielers (der sie nun so eben passierte) mit deutlicher Zufriedenheit. Als sein Blick dabei auf Toni fiel, schien er überrascht und sein Lächeln wich einer skeptischen, beinahe ungläubigen Mine.

Toni starrte beschämt auf ihre Füße hinab.

«Du hast mich neulich beobachtet, oder nicht?» Er stand nun direkt vor ihr und es schien ihr zwecklos, ihm jetzt noch ausweichen zu wollen. Daran hätte sie früher denken sollen.

Einen ganzen Moment schwieg sie. «Es war sicherlich nicht meine Absicht. Ich konnte ja nicht wissen, dass überhaupt jemand im Zimmer war. Natürlich ist es nicht in Ordnung gewesen. Ich will mich gar nicht rechtfertigen.» Sie hatte sehr leise und hastig gesprochen und setzte nun etwas gefasster hinzu: «Weiß Frida denn auch Bescheid?»

Er schien unbeeindruckt von ihren Worten und auch auf ihre Frage schien er nicht eingehen zu wollen. Trotzdem ließ er sie nicht aus den Augen. «Ich musste seitdem ein paar Mal denken an dich», sagte er dann.

Toni blickte betreten auf. Sie stellte fest, dass er sie ein wenig amüsiert ansah aus seinen grauen Augen. Ihr fiel eine kahle Stelle in seiner linken Braue auf. Sie war erleichtert, diesen Makel aufgespürt zu haben. Das machte es ihr leichter, seinem forschendem Blick standzuhalten.

«Du warst eine ziemliche Erscheinung an diesem Abend», erklärte er nun und ein trockenes Lächeln spielte um seine Lippen. «Es war beinahe besorgniserregend.»

Als sie ihn lediglich unverwandt anstarrte, setzte er beiläufig hinzu: «Jedenfalls ist es beruhigend, dich noch einmal wiederzusehen. Das bringt die Dinge wieder ins Gleichgewicht.»

Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

«Lorenz», stellte er sich vor.

Sie brauchte einen Augenblick, sich zu sammeln. Das Gespräch verunsicherte sie und brachte sie noch dazu in Verlegenheit. Sie hatte keine Ahnung, warum er sie überhaupt angesprochen hatte, geschweige denn, ob er auf etwas Bestimmtes hinauswollte. Irgendetwas an seinem Blick weckte ihr Misstrauen. «Toni», erwiderte sie knapp. «Eigentlich Antonia.»

«Und wieso, Toni, stehst du hier so halb hinter der Tür? Es scheint mir kein sonderlich gutes Versteck.» Sein Ton war nüchtern, verriet jedoch zugleich eine gewisse Belustigung.

Sie zögerte einen Moment, fragte dann mit einiger Zurückhaltung: «Ich könnte dich ebenso gut fragen, wieso du diesem selbsternannten Pianospieler dein Kleingeld ins Glas geworfen hast.»

Er schien verwundert, worauf sie hinzufügte: «Man braucht doch keine Frage zu stellen, auf die man ohnehin schon die Antwort kennt.»

«Ist das so?» Er wirkte skeptisch. «Ich kann nicht sagen, dass ich diesbezüglich mehr als eine wage Vermutung hätte.» Er setzte ein charmantes Lächeln auf.

Toni wandte beschämt den Blick ab. Sie war es nicht gewöhnt, so angelächelt zu werden. Außerdem bedrängte sie sein aufmerksamer Blick. «Ich glaube, dass es mehr als offensichtlich ist, warum ich hier hinter der Tür stehe», erklärte sie schließlich. «Weil ich Angst habe, dass mich jemand in ein Gespräch verwickeln könnte. Weil ich nicht weiß, was ich mit den Leuten reden soll.» Sie haderte einen Moment, setzte dann hinzu: «Und was den Klavierspieler betrifft: Du hast ihm dein Kleingeld ins Glas geworfen, weil es dich geärgert hat, wie er sich wichtig machen wollte.»

Nun schien er belustigt, fragte dann recht unumwunden: «Aber das ist nicht alles, oder? Sicherlich hast du eine Vermutung, warum mich sein Verhalten geärgert hat.»

Toni blickte ein wenig betreten auf ihr leeres Glas hinab. «Ich nehme an, dass du es nicht ausstehen kannst, wenn sich jemand in den Vordergrund drängt. Denn wie ja doch unschwer zu erkennen ist, ist das üblicherweise dein eigenes Metier.»

Er schien ihr diese Sicht der Dinge nicht übelzunehmen, wandte jedoch nach einem Moment des Überlegens ein: «Ich kann nicht sagen, dass du gänzlich daneben liegst damit. Aber ich finde trotzdem nicht, dass es jeweils den Kern der Sache trifft.»

Ihr war ein wenig unbehaglich zumute, doch er fuhr ungerührt fort: «Nehmen wir zu erst einmal dein Versteckspiel hier in der Ecke. Trotz einer offensichtlichen Verunsicherung scheinst du nicht gerade auf den Mund gefallen. Ich würde daher eher vermuten, dass dein Verhalten auf einem allgemeinem Unwohlsein in größerer Gesellschaft beruht. Weil du dich gerade dort besonders einsam fühlst. Denn das ist immer das größte Risiko auf jeder Party.»

Toni sah ihn ausdruckslos an.

Er hob die Arme und setzte hinzu: «Und nun zu mir: Ich kann nicht sagen, dass mich das Verhalten dieses Kerls wirklich geärgert hat, denn dazu müsste ich ihn und sein schnulziges Geklimper zumindest einigermaßen ernst nehmen.» Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. «Nein, ich würde eher sagen, dass ich sein Verhalten als eine Art Einladung verstanden habe.»

Als sie ihn kritisch musterte, machte er sie lediglich darauf aufmerksam, dass ihr Glas leer war. Er meinte gleichmütig, sie solle ihm in die Küche folgen, und da er sich da bereits auf den Weg gemacht hatte und die Musik zu laut war, etwas einzuwenden, folgte Toni ihm widerwillig. Im Gehen stellte sie fest, dass ihr der Alkohol bereits zu Kopf gestiegen war. Sie ärgerte sich über ihren Leichtsinn. Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen.

Als er die Küchentheke erreicht hatte, blickte er belustigt zu ihr hinüber. «Wie viele dieser Cocktails hast du denn bereits getrunken?» Er deutete auf ihr Glas.

«Zwei», entgegnete Toni. «Ich denke auch, dass ich es dabei belassen werde.»

Lorenz hob gelassen die Arme und einen Moment war sie fast ein wenig verwundert. In ähnlichen Situationen hatte sie sehr forsch werden müssen, ehe man ihre Zurückhaltung missbilligend hingenommen hatte. Als gehöre es zum guten Ton, über die Stränge zu schlagen.

Er jedoch wandte lediglich ein: «Es stört dich doch nicht, wenn ich noch etwas trinke?» Er schwenkte etwas ärgerlich die Flasche Cachaca, die inzwischen bis auf einen Anstandsrest leer war. Dann nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Während er die Flasche öffnete, griff Toni nach einigen Salzbrezeln. Die Chips waren bereits vertilgt und auch von den Erdnüssen fehlte mit Ausnahme einiger versprengte Bohnen auf der Tischplatte und dem Boden jede Spur. Einen Moment dachte Toni, dass es große Käfer wären auf den klebrigen Fliesen, die jeden Moment unter den Schränken verschwinden könnten. Doch als sie sicherheitshalber mit ihrem Fuß gegen dieselben stieß, kullerten sie nur ein wenig hin und her.

«Was ist das eigentlich für ein trostloser Aufzug?», fragte er dann und nahm einen Schluck Bier. «Der scheint mir irgendwo zwischen Witwe und Gouvernante angesiedelt. Und dann noch dieser unprätentiöse Zopf.»

«Soll das eine Beleidigung sein?», fragte sie zögerlich und steckte sich eine Salzbrezel in den Mund.

Er wiegte den Kopf hin und her, so als müsse er erst darüber nachdenken. «Ich habe mich nur gefragt, warum du dich nicht wie alle anderen Mädchen hier von deiner charmantesten Seite präsentierst.»

Toni wirkte skeptisch, hob dann leichthin die Arme. Sie wusste nicht, worauf er hinaus wollte.

Er lächelte belustigt. «Falls du es jedenfalls darauf anlegen solltest, deine Attraktivität zu verbergen unter diesem langen, hochgeschlossenen Kleid: Du solltest den Reiz des Verborgenen nicht unterschätzen.»

Sie schüttelte widerwillig den Kopf auf seinen spöttischen Ton.

«Ist das jetzt eine deiner schweigsamen Phasen?», fragte er etwas herausfordernd, als sie ihm auch weiterhin eine Erwiderung schuldig blieb und sich lediglich eine Salzbrezel in den Mund steckte.

Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu. «Ich bewundere lediglich dein Ego. Als ob es nichts Interessanteres für mich geben könnte, als deine Meinung über mich zu erfahren.»

Er lachte. «Ich habe es immer für selbstverständlich gehalten, dass man wissen will, was die anderen von einem halten. Denn es ist ja durchaus möglich, dass da eine große Diskrepanz ist zwischen dem, was die anderen von mir denken und dem, was ich denke, was die anderen von mir denken. Ganz zu schweigen von dem, was ich selbst von mir denke. Und da wüsste man doch schon ganz gerne, wer man nun eigentlich ist.»

Toni runzelte die Stirn, einen Moment schwirrte ihr der Kopf. Dann fragte sie zweifelnd: «Und du meinst also, dass dir die anderen diese Frage besser beantworten können als du selbst?»

«Ich denke zumindest, dass man die anderen nicht vollständig übergehen kann. Immerhin ist die eigene Position diesbezüglich ja wohl nicht sonderlich objektiv.» Er lächelte schief, nahm dann einen weiteren Schluck Bier.

«Aber du willst doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass du mir nach nicht einmal fünf Minuten irgendetwas über mich verraten könntest, was ich selbst noch nicht weiß?»

Nun machte sich ein Grinsen in seinem Gesicht breit. «Es geht dir also um deinen Stolz», schlussfolgerte er.

«Was hat das mit meinem Stolz zu tun?», entgegnete Toni zögerlich und schüttelte den Kopf. «Ich frage mich lediglich, wie du glauben kannst, wir alle hier wären nur Schauspieler in einem großen Spektakel zu deinem Vergnügen. Macht man sich hübsch, dann um dir zu gefallen. Lässt man es bleiben, dann ebenfalls deinetwegen. Ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, dass diese Betrachtungsweise ein wenig einseitig ist? Vielleicht hat das alles gar nichts mit dir zu tun.»

«Du willst damit also sagen, dass du hier heute Abend ganz ohne Maskerade erschienen bist. Weil es dich nicht kümmert, was die anderen von dir denken.» Er nahm gelassen einen Schluck Bier.

 

«Ich habe es zumindest versucht», erwiderte sie. Ihr Blick war noch immer ein wenig feindselig und das schien ihn zu erheitern.

«Jedenfalls kann ich bestätigen, dass in deinem speziellen Fall das Äußere mit dem Inneren sehr gut zusammenpasst.» Er machte eine vielsagende Handbewegung, die ihre gesamte Gestalt mit einschloss und nahm einen weiteren Schluck Bier. Darauf fügte er etwas spöttisch hinzu: «Da ist so eine verschlossene Nüchternheit oder auch nüchterne Verschlossenheit.»

Toni hob ungläubig die Augenbraue, was ihn jedoch nur zu einer weiteren Bemerkung veranlasste.

«Dabei halte ich nicht viel von Nüchternheit. Und auch nicht von Verschlossenheit. Sie sind beide überheblich und feige.»

«Was heißt schon nüchtern?», erwiderte sie. «Vielleicht gefällt es mir einfach, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.» Ihr Ton war ungewohnt vehement gewesen und so senkte sie beschämt den Blick. Einen Moment herrschte Schweigen, bis sie schließlich sehr viel gelassener hinzufügte: «Es ist nichts Schlechtes daran. Ganz im Gegenteil. Das Echte braucht keine erklärenden Worte oder dramatische Gesten. Keine Inszenierung. Man findet es im Stillen. Und was die Verschlossenheit betrifft: Ich würde mich nicht als verschlossen bezeichnen. Ich kann lediglich gut mit mir alleine sein.»

Lorenz sah sie einen Moment nachdenklich an, fragte dann: «Es geht dir um Wahrhaftigkeit, oder nicht?» Nun, wo er es ausgesprochen hatte, schien er erheitert und fügte hinzu: «Vielleicht muss ich mein Bild revidieren. Das ist nicht nüchtern sonder ziemlich romantisch.»

Sie wollte bereits zu einer Erwiderung ansetzen, als sich recht plötzlich Frida zu ihnen beiden gesellte. Kurz darauf erschien auch Elena.

In ihrer feuerroten Bluse war Frida keine Sekunde zu übersehen. Sie trug noch dazu hohe Schuhe, dass sie nun fast so groß wie Toni war und Lorenz bis zur Nase reichte. Der kurze Rock entblößte erschreckend magere Beine und der breite Mund mit den vollen Lippen wirkte ein wenig bedrohlich auf Toni wie das Maul einen wilden Tieres. Fridas strohblonder Bob war zerzaust und ließ den Kopf zu groß erscheinen: Ein Puppenkopf mit klappernden Lidern. Trotzdem war Frida schön. Daran bestand keinerlei Zweifel. Sie besaß, wie Toni fand, eine seltsam elektrifizierende Ausstrahlung. Aber da war auch etwas Kaputtes an Frida. Eine blecherne Disharmonie, wenn sie ihren Kopf in den Nacken warf und ausgelassen lachte.

Toni verstummte beschämt und bereute bereits, dass sie sich überhaupt auf dieses Gespräch mit Lorenz eingelassen hatte. Vermutlich war ihre Redseligkeit ihrem zweiten Caipirinha zuzuschreiben, wenn gleich das natürlich keine Entschuldigung für ihr Verhalten war. Sie redete sich um Kopf und Kragen.

«Ich hab' euch doch nicht bei irgendwelchen Verschwörungen erwischt, oder?» Frida hatte eine dunkle, ein wenig kratzige Stimme.

Elena grinste.

«Wir waren gerade dabei, perfide die letzten Vorräte zu plündern.» Lorenz lachte halbherzig über seinen Kommentar und warf dem abgegrasten Buffet einen vielsagenden Blick zu.

«Zumindest ist noch etwas zu trinken da», erwiderte Frida achselzuckend und nahm Lorenz im Vorbeigehen seine Flasche ab. Sie nahm einen ausgiebigen Schluck Bier, wischte sich dann mit dem Handrücken über den Mund.

«Wäre es eigentlich in Ordnung, wenn ich mir etwas zu essen machen würde?», fragte Lorenz nun in überraschend sachlichem Ton. «Ich bin vorhin gleich vom Institut hierher gekommen.»

Sie nickte nur, warf dann einen kurzen Blick in den Kühlschrank. Und während sie Lorenz darauf eine Packung Käse und Butter reichte, stellte sie fest, dass sich kaum mehr eine Bierflasche im Fach befand. Frida machte sich also in Richtung Balkon davon, wo noch einige volle Kästen standen, und Lorenz begann mit der Zubereitung seines verspäteten Abendessens.

«Machst du das immer so?», fragte Elena. Sie bestaunte, wie er die Butter in dünne Scheiben schnitt und diese auf einer ziemlich dicken Brotscheibe verteilte. Es blieb unklar, ob sie an seinem Geschmack oder Geschick zweifelte.

Er lächelte lediglich gleichmütig, worauf sie einräumte: «Ich esse generell kein Gebäck. Ich finde es grauenhaft trocken und auch ziemlich fad. Sonderlich gesund ist es wohl auch nicht.»

Es war ein sonderbarer Blick, den Lorenz ihr auf diese Bemerkung zuwarf, den Toni beim besten Willen nicht zu deuten wusste. Es folgte dann eine weitschweifige Diskussion über Ernährung, Gesundheit und den Hunger auf der Welt. Toni hatte für keines der drei Gesprächsthemen sonderlich viel übrig. Denn was die Ernährung und Gesundheit betraf, so brachte in diesen Tagen jedermann seine eigenen Thesen und Diäten hervor. Mit den ausgefallenen Ingredienzien und Wässerchen schien es ihr jedoch nichts weiter als ein moderner Hokuspokus. Und was den Hunger betraf, so dienten ein paar mitfühlenden Worte an einem solchen Abend wohl eher dem eigenen Image als irgendwem sonst. Toni zog sich also zurück. Auch weil das Gespräch hitziger und hitziger wurde und bald schon jedweder Logik entbehrte.

Lorenz schien eine sichtliche Freude daran zu haben, Elena mit seinen Einwänden aus dem Konzept zu bringen. Dabei schien er nicht einmal eine eigene Meinung zu vertreten. Er suchte lediglich nach logischen wie moralischen Ungereimtheiten und ging dabei ebenso spitzfindig wie unnachgiebig vor. Bald schon begann sich eine tiefe Furche in Elenas Stirn zu graben.

Offensichtlich war es Lorenz' Art, die Leute gegen sich aufzubringen. Er gewann nicht gerade an Sympathiepunkten dadurch und Toni wandte sich nun vollends ab von dieser leidigen Unterhaltung. Auch weil gerade ein Lied aus den Lautsprechern drang, das sie wirklich mochte. Sie kannte weder den Titel noch den Interpreten und im Grunde war es auch gar nichts Besonderes, hätte es da nicht diesen treibenden Rhythmus gegeben und diesen einen Tonwechsel im Refrain.

Sie hatte sich einen Platz in der Nähe des knisternd-pulsierenden Lautsprechers gesucht und summte unmerklich die anspruchslose aber eingängige Melodie. Ihr Blick galt ihren eignen Füßen und einigen neonfarbenen Strohhalmen, die auf den Boden gefallen waren und nun dalagen auf den schmutzigen Fliesen wie ein vergessenes Mikadospiel. Die Unordnung bereitete Toni Unbehagen und so bückte sie sich nach kurzem Zögern, um die Strohhalme aufzulesen. Sie war gerade dabei, auch den letzten unter dem Tisch hervorzuziehen, als ein fremder Fuß in das Bild rückte. Sie sah irritiert auf und blickte darauf ihn Lorenz' Gesicht. Zögerlich erhob sie sich und legte die Strohhalme ein wenig beschämt auf eine Fensterbank zu ein paar halbvollen und herrenlosen Plastikbechern.

Er bemerkte ungerührt: «Elena hat mir gerade erzählt, dass du ein Faible für schlechten Retro-Pop hast.»

Elena setzte im Hintergrund ein scheinheiliges Lächeln auf, grinste dann breit und liebenswert.

«Da ist diese eine Stelle, die wirklich gut ist.» Toni senkte ein wenig verlegen den Blick.

Lorenz wollte gerade etwas einwenden, als sie ihm zaghaft mit einem Handzeichen zu schweigen hieß. Er sah sie belustigt an, hielt jedoch tatsächlich einen Moment inne.

«Jetzt gleich», sagte sie. Als der Tonwechsel zu hören war, gab sie ihm ein unverkennbares Zeichen.

Er ließ sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen, hob dann belustigt die Augenbraue. «Ich weiß jedenfalls, welche Stelle du meinst», bemerkte er. «Obwohl es ansonsten nicht gerade ein musikalisches Meisterwerk ist.»

Das Lied verklang leise im Hintergrund. Ein billiger Fade-Out.