Der Mensch – zu schlau zum Überleben

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Wenn Sie ein Heer haben, dass die Schlacht verliert, tauscht man auch nicht einen einzelnen Soldaten aus (höchstens in Hollywood Filmen), sondern lässt den General andere Befehle erteilen, damit die gesamte Armee anders agiert. So ähnlich kann man sich das vielleicht für die Funktion des Nervensystems vorstellen.
Oftmals wird eine MRT Untersuchung durchgeführt, um Bandscheibenschäden und Kompressionszeichen von Nervenwurzeln zu diagnostizieren. Diese Diagnostik hat aber zwei entscheidende Nachteile. Zum einen sieht man immer nur eine Schicht der Wirbelsäule und nie das ganze Konstrukt auf einem Bild, zum anderen liegt der Patient. Die Wirbelsäule sieht bei einem Patienten im Liegen und Stehen manchmal ganz anders aus, was sich durch eine andere Lastverteilung und dementsprechende Biomechanik beim Stehen erklären lässt. Wenn man also einen Menschen manualmedizinisch behandeln möchte, ist ein stehendes Röntgenbild der gesamten Wirbelsäule eine größere Hilfe und gibt ein realistischeres Bild ab als eine MRT Untersuchung.
Hier eine 17-jährige junge Frau, die über chronische Kopfschmerzen klagt. In der durchgeführten MRT Untersuchung fanden sich außer einer etwas steil gestellten Halswirbelsäule und diskreter Bandscheibenvorwölbungen keine weiteren krankhaften Veränderungen, sodass außer Physiotherapie keine konkreten Maßnahmen empfohlen wurden. In der stehenden Röntgendiagnostik jedoch zeigt sich ein deutlicher Knick zwischen dem vierten und fünften Halswirbel (Pfeil), der auf eine Verletzung des sogenannten hinteren Längsbandes hinweist und die harmonische Kurve der hinteren Längskante unterbricht. Diese Störung der Struktur kann dazu führen, dass das Rückenmark, welches ja in der Wirbelsäule enthalten ist, eine Spannungsänderung erfährt. Die Reaktion wird immer sein, dass die Nackenmuskulatur verspannt, um diese Fehlstellung möglichst nicht größer werden zu lassen. Die Knickbildung ist im MRT nicht sichtbar, aber im Röntgenbild eindeutig zu sehen. Die Behandlungsempfehlung ist aufgrund der nun feststehenden Diagnose klar. Die gelbe Kurve zeigt, in welcher Stellung die Halswirbelsäule stehen sollte.



Quelle: Dr. Matthias Meier


Quelle: Dr. Matthias Meier
52-jährige Dame mit Menstruationsbeschwerden, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Herzrhythmusstörungen. Im linken Bilde ist deutlich zu erkennen, dass der Kopf nach links abweicht und an der oberen Brustwirbelsäule ein Knick von 10,3° und an der Lendenwirbelsäule ein Gegenknick von 12,3° sowie ein Beckenschiefstand von 12,3 mm die Symmetrie stört. Nach 29 Behandlungen konnte der Kopf zentriert werden und die jeweiligen Werte auf 4,3° an der oberen Brustwirbelsäule, 9,7° an der Lendenwirbelsäule und der Beckenschiefstand auf 9,9 mm reduziert werden. Das mag nicht allzu spektakulär aussehen, geht aber mit dem Verschwinden von Kopfschmerzen, Herzrhythmusstörungen und Menstruationsbeschwerden sowie einer deutlichen Verbesserung der Rückenschmerzen einher.
Quelle: Dr. Matthias Meier


Junge Frau (17) mit Kopfschmerzen und Skoliose. Diese sollte verbessert werden. Im linken Bild erkennt man, dass die Halswirbelsäule an den oberen Segmenten der Kurve nicht mehr folgt, sondern nach vorne fällt (wenn auch nur wenig), die Lendenwirbelsäule zeigt eine Kurve von 29,4° (40° gelten als physiologisch). Nach Behandlung konnte die Halswirbelsäule harmonisiert werden (oberen Segmente folgen der Kurve) und die Lendenwirbelsäule zeigt nun 34,3°. Die beiden Bilder haben einen zeitlichen Abstand von 2 Wochen, in dieser Zeit ist die junge Frau 1,5 cm gewachsen.


Quelle: Dr. Matthias Meier
72-jähriger Mann mit einer Prostatavergrößerung, Ellenbogenschmerzen beidseits und Fußschmerzen rechts. Die Fehlstellungen konnten nach ebenfalls 29 Behandlungen an der Brustwirbelsäule von 12,1° auf 7,6°, an der Lendenwirbelsäule von 11,8° auf 8,7° und der Beckenschiefstand von 19,4 mm auf 14,9 mm verbessert werden. Dies bedeutet den Unterschied zwischen 6 Mal pro Nacht mit Medikation zum WC aufstehen und ohne Medikamente 1–2 Mal aufstehen und gelegentlich sogar durchschlafen. Die Schmerzen an Ellenbogen und Fuß verschwanden.


Quelle: Dr. Matthias Meier
Wie sieht es mit einer solchen Wirbelsäule aus? Wird diese ältere Dame einen normalen Blutdruck haben? Gut schlafen? Regelmäßige Verdauung haben? Sie erraten die Antwort: Nein, der physische Stress auf dem Nervensystem ist hier deutlich sichtbar. Organstörungen sowie Bindegewebsinstabilitäten der Knie mit nachfolgender Arthrose beidseits sind bereits eingetreten. Aufrecht stehen und gehen gerät zur Qual und Medikamente werden genommen, um die Situation erträglich zu machen. Die Ursache sieht man auf dem Bild deutlich. Allerdings sind die Möglichkeiten der Rekonstruktion deutlich eingeschränkt, da die Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsegmente signifikant nachgelassen hat. Eine Symptomlinderung durch Manipulation der Wirbelsäulenanteile kann trotzdem durchgeführt werden. Auch wenn keine strukturelle Änderung daraus resultiert, können in der Regel einige Medikamente reduziert werden.
Es wird also deutlich, dass die Stellung der Wirbelsäule über Schmerzen, Organfunktion und Aktivität und Dominanz des vegetativen Nervensystems bestimmt und daher zu Krankheitsentstehung beitragen kann. Sie muss zu jeder Behandlung eines Patienten mit einer chronischen Erkrankung mit berücksichtigt werden, um ursächlich behandeln zu können.
Ein anderer Aspekt ist hier ebenfalls interessant. Wenn man die Struktur der Wirbelsäule rekonstruktiv behandelt, kommen manchmal vorübergehend alte Symptome wieder zum Vorschein. Beispielsweise berichtete eine junge Frau, die sich wegen Herzrhythmusstörungen vorstellte, dass diese nach wenigen Behandlungen verschwunden seien, aber nach mehreren Wochen Therapie sich ein Instabilitätsgefühl in der rechten Schulter eingestellt hatte, welches sie seit Jahren nicht mehr hatte. Vor 5 Jahren hatte sie beim Aufschlag im Rahmen eines Tennisspiels eine Schulterluxation (Auskugelung) erlitten, die sie spontan wieder „einrenken“ konnte. Hiernach hatte sie eine Weile ein Instabilitätsgefühl, das sich aber durch Physiotherapie und Training verbessern ließ. Dieses Instabilitätsgefühl kam also nach einer gewissen Therapieanzahl wieder, war jedoch nur von wenigen Wochen Dauer. Es ist fast so, als würde man mit der Therapie die Zeit zurückdrehen, und der Patient erlebt seine Symptome in zeitlich umgekehrter Reihenfolge wieder. Das bedeutet, dass mit einer entsprechenden Wirbelsäulenfehlstellung bestimmte Symptome auftreten, die bei weitergehender Fehlstellung evtl. verschwinden, während andere hinzukommen, die jedoch als gefährlicher eingestuft werden können (Schulterschmerzen vs. Herzrhythmusstörungen). Der Körper versucht zu kompensieren, so viel er kann, um die Funktion des Menschen zu erhalten, gibt aber deutliche Signale, wenn es ein ernstzunehmendes Problem gibt.
Opioide
Die Opioidkrise in den USA zeigt in dramatischer Weise, wie das zentrale Nervensystem missbraucht werden kann und welche Folgen sich hieraus ergeben. CNN berichtet2, dass 2017 ca. 1,7 Millionen US-Amerikaner von den Folgen von verschriebenen Opiaten litten und 652.000 Menschen heroinabhängig wurden. Ca. 70.200 Menschen starben an einer Substanzüberdosierung, davon waren 47.600 Opiatüberdosierungen. In den Jahren 2016 und 2017 starben mehr als 130 Menschen jeden Tag an einer Opiatüberdosierung (US Department of Health & Human Services). 2011 wurden 240 Milliarden Milligramm Morphium verschrieben, 2017 waren es dann „nur noch“ 171 Milliarden Milligramm3. Weltweit wird der Umsatz an illegalen Drogen, der unter anderem den Mißbrauch von verschreibungspflichtigen Medikamenten befeuert wird, auf ca. 320 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt.
2 https://edition.cnn.com/2017/09/18/health/opioid-crisis-fast-facts/index.html
3 https://edition.cnn.com/2017/09/18/health/opioid-crisis-fast-facts/index.html
Die Wirkungsweise von Opiaten wird durch Rezeptoren vermittelt, die im Rückenmark und im Gehirn, also unserem zentralen Nervensystem, zu finden sind. Die Schmerzweiterleitung wird unterbunden, zudem wird Dopamin im Gehirn freigesetzt, was ein Wohlgefühl, manchmal auch eine Euphorie – ein Highsein – auslösen kann. Opiate werden von der Opiumpflanze (Mohngewächse) gewonnen und gehören den Betäubungsmitteln an. Heroin ist ein synthetisches Derivat von Morphin und gilt als eine Droge mit hoher Suchtgefahr. Opium spielt schon seit Jahrhunderten eine Rolle in verschiedenen Gesellschaften. Besonders bekannt sind die Opiumkriege in China (erster Opiumkrieg 1839–1842, zweiter Opiumkrieg 1856–1860). Die momentan größten Produktionsländer sind Mexiko, Kolumbien, Afghanistan, Iran, Pakistan, Burma, Thailand, Laos und Vietnam. Hydrocodon und Oxycodon sind semi-synthetische Opiate, die in Laboren mit natürlichen und synthetischen Inhaltsstoffen hergestellt werden. 2016 wurden in den USA allein 6,2 Milliarden Oxycodon Tabletten an Patienten verschrieben (IQVIA). Zwischen 2005 und 2015 resultierten 15 % der Patientenbesuche in der Notaufnahme und 3 % der Termine in Praxen in eine Verschreibung von Opiaten. 2015 wurde vom „International Narcotics Control Board“ berichtet, dass 99,7 % des weltweiten Hydrocodon Konsums durch amerikanische Patienten repräsentiert wird.4 2016 wurde vom „National Institute on Drug Abuse“ geschätzt, dass ca. die Hälfte der heroinabhängigen Menschen vorher eine Sucht durch rezeptierte Opiate entwickelt hatte, und dass Menschen, die eine Sucht auf verschriebene Opiate entwickeln, eine 40-fach höhere Wahrscheinlichkeit haben, heroinsüchtig zu werden5.
4 https://www.incb.org/documents/Publications/AnnualReports/AR2016/English/AR2016_E_ebook.pdf
5 https://www.drugabuse.gov/publications/research-reports/relationship-between-prescription-drug-heroin-abuse/prescription-opioid-use- risk-factor-heroin-use
Eine kurze geschichtliche Darstellung der Entwicklung:

 1861–1865: Im Bürgerkrieg in den USA benutzten Feldärzte Morphium als Schmerzmittel an Soldaten, die daraufhin abhängig wurden.

 

 1898: Heroin wird von der Firma Bayer kommerziell produziert und wurde an Morphiumsüchtige verteilt.

 1914: Der amerikanische Kongress legt fest, dass Opiate und Kokain rezeptpflichtig werden.

 1924: Heroin wird in den USA sowohl in der Produktion als auch im Verkauf verboten.

 1970: Verschiedene Opiate werden in Gruppen eingeteilt, je nach Abhängigkeitspotenzial.

 1980: Im New England Journal of Medicine wurde ein Artikel veröffentlicht, der besagt, dass eine Opiatabhängigkeit in Menschen, die mit Narkotika behandelt werden, eine Seltenheit ist. Dies wurde als „Beweis“ hergenommen, dass Opiate sicher und effektiv eingesetzt werden können.

 1995: Oxycontin (Retard Produkt von Oxycodon) kommt auf den Markt und wird aggressiv vermarktet (Purdue Pharma).

 2007: Purdue Pharma bekennt sich schuldig, das Produkt als sicherer beworben zu haben, als es in Wahrheit war. 634,5 Millionen Dollar Strafzahlungen wurden erstattet.

 2010: FDA (Federal Drug Administration segnet eine neue Formel von Oxycontin ab, die es sicherer und weniger suchtgefährdend machen soll.

 2015: DEA (Drug Enforcement Agency) verhaftet 280 Menschen, inklusive 22 Ärzte und Apotheker, nach einer 15-Monate langen Untersuchung aufgrund einer erhöhten Rate an Opiat-Verschreibungen.

 2016: CDC (Center of Disease Control) veröffentlicht eine Leitlinie zur Verschreibung von Opiaten an Schmerzpatienten.

 2017: Präsident Donald Trump unterschreibt eine Verordnung für die Entstehung einer Kommission, die sich dem Problem der Opiate widmet. Der New Jersey Gouverneur Chris Christie wird Vorsitzender, der Schwiegersohn des Präsidenten, Jared Kushner, sein Berater.

 April 2018: Der US Surgeon General empfiehlt Amerikanern, Naloxon (wirkt antagonistisch zu Opiaten) bei sich zu tragen.

 Mai 2018: Im „Journal of the American Medical Association“ wird eine Studie publiziert, die zeigt, dass synthetische Opiate wie „Fentanyl“ 46 % der Opioid-assoziierten Todesfälle 2016 verursacht hatten – eine Verdreifachung seit 2010.

 Dezember 2018: Das CDC berichtet, dass Fentanyl die häufigsten Todesfälle von Opiatüberdosierungen darstellt. Von 2013–2016 stieg die Rate an Überdosierungen durch synthetische Opiate um 113 % pro Jahr.

 Januar 2019: Die „National Safety Council“ berichtet, es sei nun das erste Mal, dass es wahrscheinlicher ist, von einer Opiat Überdosierung zu sterben als durch einen Autounfall.

 März 2019: Mehr als 600 Städte und indianische Stämme aus 28 Staaten verklagten 8 Familienmitglieder der Sackler Family, die leitenden Figuren von Purdue Pharma, weil sie Verkaufszahlen durch manipulatives Marketing erhöht haben sollen.

 Mai 2019: 5 Führungskräfte der Firma „Insys Therapeutics“ (Produktion einer Fentanyl-Version) werden für schuldig erklärt, Ärzte bestochen zu haben, Menschen Opiate verschrieben zu haben, die sie nicht brauchten.

 Mai 2019: „Teva Pharmaceuticals“ ist bereit, 85 Millionen Dollar Strafe in Oklahoma zu zahlen.

 26. August 2019: „Johnson & Johnson“ muss 572 Millionen Dollar Strafe zahlen für ihre Rolle in der Opiatkrise in Oklahoma.

 27. August 2019: NBC News berichtet, dass Purdue Pharma anbietet, zwischen 10 und 12 Milliarden Dollar für ihre Rolle in der Entstehung der Krise zu zahlen.

 16. September 2019: Die Familie Sackler wird beschuldigt, Überweisungen in Höhe von mindestens 1 Milliarde Dollar in die Schweiz veranlasst zu haben, um privates Vermögen zu sichern. Bereits 2007 seien 4 Milliarden Dollar Privatvermögen von der Firma abgezogen und ins Ausland überwiesen worden. Der Vergleich von 12 Milliarden Dollar wurde von den klagenden Staaten abgelehnt. Die Firma Purdue beantragt ein Insolvenzverfahren.

 22. Oktober 2019: In Ohio wenden in letzter Minute richtungsweisenden Prozess durch 215 Millionen Dollar Vergleich ab.

Von 1999 bis 2017 sind ca. 400.000 Menschen an den Folgen von Opiatmissbrauch gestorben. Schmerzen mit Schmerzmittel zu betäuben, ohne ihre Ursache zu verstehen oder zu suchen, führt unweigerlich in eine Abwärtsspirale, die sich in den USA als besonders dramatisch dargestellt hat, aber auch hierzulande nicht unerhebliche Folgen hat. Wenn das Budget des verschreibenden Arztes erschöpft wird, können keine weiteren Opiate mehr verschrieben werden, sodass der Patient dann auf sich gestellt ist. Entweder man erträgt die Schmerzen und kämpft mit Entzugserscheinungen oder man geht den illegalen Weg. Beides keine rosigen Aussichten.

Kapitel 3
Mineralien, die heimlichen Helden
Das Wissen um unsere Physiologie hat sich in den letzten Jahrzehnten um ein Vielfaches vermehrt. Die Grundlagen wurden vor allem im 19. Jahrhundert gesetzt, als die technologischen Fortschritte auch die Medizinwelt veränderten. Chemie, Biochemie und Physiologie wurden zunehmend wissenschaftlich methodisch untersucht und erforscht. Die Idee wurde geboren, dass einige Erkrankungen vielleicht nur einen Mangel an irgendeinem vitalen Nährstoff darstellten und der Ersatz des richtigen Elements wieder zur Gesundheit führen würde. Das ist ein gänzlich anderer Ansatz als die Theorie, dass Erkrankungen durch ein „Zuviel“ an äußeren Einflüssen entstehen, beispielsweise Bakterien oder Gifte.
1755 wurde ein Bericht von Gaspar Casal publiziert, der einen Fall von „Pellagra“ beschrieb, damals eine nicht bekannte Erkrankung in Spanien, die durch Hautveränderungen, Durchfall und eine dementielle Entwicklung charakterisiert war, und sich interessanterweise im Frühling deutlich häufte. Die Opfer waren meist arm und ernährten sich von Maismehl/Maisgries ohne Zugang zu Milch oder Fleisch. In Italien wurden ähnliche Berichte öffentlich gemacht, auch hier waren vor allem die Armen betroffen. Zunächst wurde zu viel Mais als Ursache vermutet, da Mais in Europa erst durch die Spanier importiert wurde, nachdem sie Süd- und Mittelamerika kolonialisiert hatten. In diesen Ländern führte der Mais jedoch nicht zu den gleichen Symptomen, obwohl die Landbevölkerung ebenfalls wenig Zugang zu Milch und Fleisch hatte. Der Unterschied wurde in der Verarbeitung des Mais gefunden. Die Mexikaner tränkten den Mais in einer Holzaschenmischung, während die Europäer den Mais zu Polenta verarbeiteten, was zu einer Kontaminierung mit Pilzen oder Toxinen führen konnte. Weitere Theorien kursierten, bis ein Joseph Goldberger in den USA den erkrankten Menschen Milch und Eier verabreichte und damit die Symptome zum Verschwinden brachte9. Dies konnte in verschiedenen Ländern in Europa und in den USA reproduziert und verifiziert werden, sodass klar wurde, dass Pellagra einen Mangel an einem vitalen Nährstoff (Nikotinsäure – Niacin – „Vitamin B3“) darstellte.
9 Joseph Goldberger and Pellagra, M. G. Schultz, The American Society of Tropical Medicine and Hygiene, Volume 26, Issue 5, Part 2, 1 Sep 1977
1849 berichtete Thomas Addison von einer Blutarmut, die „perniziöse Anämie“ genannt wurde und fatal enden konnte. Die roten Blutkörperchen waren reduziert, aber vergrößert. Später wurde Vitamin B12 als das fehlende Element identifiziert, jedoch ist die Aufnahme im Darm nur durch einen im Magen vorkommenden „Intrinsic Factor“ sowie intakte Magensäure möglich, beides Produkte von intaktem Magenzellstoffwechsel.
Beriberi war eine nicht selten auftretende Erkrankung in den reishaltigen asiatischen Kulturen im 19. Jahrhundert, die sich durch Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Zittern, Bauchschmerzen, Brennen an den Füßen bis hin zu Lähmungen und Herzinsuffizienz auszeichnen kann. Auf längeren Seereisen erkrankten bis zu 60 % der Crew und 25 % starben. Sowohl Todesfälle als auch das Auftreten der Erkrankung konnten durch das Einführen von Gerste, Milch, Rindfleisch und Tofu gänzlich verhindert werden. Erst wurde gemutmaßt, die Erhöhung der Proteinzufuhr habe den Unterschied ausgemacht. In weiteren Untersuchungen wurde der Zusammenhang zwischen weißem und braunem Reis hergestellt. 70 % von Gefängnisinsassen erkrankten mit weißem Reis als Hauptnahrungsquelle, während nur 3 % der Insassen mit braunem Reis in der Ernährung erkrankten. 1906 fand der norwegische Bakteriologe Axel Holst heraus, dass die Symptome in Hamstern allein durch Füttern von Kohl und Zitronensaft verschwanden. Im gleichen Jahr führte Frederick Gowland Hopkins ein Experiment an Ratten durch mit 2 Gruppen, die verschieden ernährt wurden. Die eine Gruppe erhielt Casein, Fett, Stärke, Zucker und Salz (bis dahin bekannte essenzielle Nährstoffe), die andere Gruppe wurde zusätzlich mit Milch gefüttert. Nur die Gruppe mit Milch Supplementierung gedieh. Daraufhin wurde auch für diese Erkrankung ein fehlender Stoff angenommen. 1912 erforschte Casimir Funk die Stoffe, die für die verschiedenen Erkrankungen als ursächlich in Frage kam, und nannte sie „vitale Amine“. Das Wort Vitamin entstand 1920, als bekannt wurde, dass nicht alle Vitamine Amine enthalten10. Funk konnte die einzelnen Vitamine den verschiedenen Erkrankungen zuordnen, sodass nun die wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung von Erkrankungen durch fehlende Nährstoffe gegeben war. Weitere Erkrankungen wie Skorbut (Vitamin C Mangel) und Rachitis (Vitamin D Mangel) konnten nun erklärt werden. Vitamin D Mangel herrschte gerade in den Städten während der Industrialisierung, als Menschen, insbesondere die Armen und Kinder, in Kohlekraftwerken und unter der Erde arbeiten mussten. Vitamin A wurde zunächst als Faktor identifiziert, der die Erkrankung auslöste, jedoch wurde 1922 entdeckt, dass das ursprünglich als Vitamin A bezeichnete Molekül aus einem zweiten Co-Faktor besteht: Vitamin D.
10 Movers and Shakers: A Chronology of Words that shaped Our Age, John Ayfo, p. 54
1922 identifizierten 2 Wissenschaftler von der University of California Vitamin E als Fertilitätsfaktor bei Ratten und benutzten grünes Gemüse und Weizenkeime als Quelle (Evans et al., 1922).
Skorbut war eine Epidemie bei den Matrosen, die monatelang ohne frisches Obst oder Gemüse auf hoher See waren. 1919 wurde allgemein akzeptiert, dass ein isolierter Faktor aus Zitrusfrüchten Skorbut heilen konnte. 1932 wurde dieser Faktor als Vitamin C hergestellt und 1933 zu Ascorbinsäure („Anti-Skorbut-Säure“) umbenannt.
1971 empfahl Linus Pauling (doppelter Nobelpreisträger) die Supplementierung von Vitamin C in hohen Dosen, sowohl um Erkältungen als auch Krebs- und Herzerkrankungen vorzubeugen und zu behandeln. Viele Vorteile von Vitamin C wurden seiner Rolle als Cofaktor in der Herstellung von Bindegewebe (Kollagen) zugeschrieben, welches in Knochen-, Haut- und Gefäßstoffwechsel vorkommt. Die Dosis wurde auf 10–12 Gramm pro Tag festgelegt. Um Arteriosklerose (Arterienverkalkung) rückgängig zu machen, empfahl er 3–5 Gramm Vitamin C pro Tag und 2 Gramm L-Lysin pro Tag. Aber er ging noch weiter und empfahl Vitamin C auch zur Krebstherapie. Pauling hielt die für Erwachsene als ausreichend angesehene Dosierung von 50 bis 100 Milligramm pro Tag für zu gering, um eine optimale Wirkung zu entfalten. Seine Ansichten und seine Vitamin C-Studien wurden allerdings von der Wissenschaft nicht ernst genommen, da die von ihm vermuteten Wirkungen in mehreren klinischen Studien nicht nachgewiesen werden konnten. Eine 2015 in der Zeitschrift „Science“ publizierte Untersuchung ließ aber auf Grund neuer molekular-biologischer Befunde vermuten, dass Vitamin C tatsächlich eine anti-tumoröse Wirkung aufweist (1–5). Vor einigen Jahren konnte an der John Hopkins Universität gezeigt werden, dass das Wachstum von Dickdarm Krebszellen (und auch andere Arten) durch Mutationen in zwei Genen getrieben wird, was die Bildung von ungewöhnlich vielen Membrantransportproteinen für Glucose, also Zucker, förderte. Glucose und Glutamin sind die hauptsächlichen Nährstoffe für Krebszellen, daher werden in ihnen auch mehr Transportproteine genau dafür gebraucht. Vitamin C führt in den Zellen zu einer Hemmung des Glucosestoffwechsels, die Krebszellen erleiden sozusagen Hunger, da ihnen die Energiequelle versagt bleibt. Die Gabe von Vitamin C zur Tumortherapie hat eine kontroverse Geschichte. Während in einigen klinischen Studien ein Nutzen nachgewiesen werden konnte, konnte dieser in anderen Studien nicht bestätigt werden11. Diese Diskrepanz kann zumindest teilweise auf die Art der Vitamin C-Zuführung zurückgeführt werden. Bei der oralen Vitamin C-Therapie können im Gegensatz zur parenteralen (in die Venen oder Muskeln gespritzt) Therapie keine für die Krebszellen tödlichen Konzentrationen erreicht werden. Die intravenöse Therapie kann mit Dosierungen von 7,5–45 Gramm pro Infusionen eine deutlich höhere Konzentration im Blut erreichen.
11 Cancer and Vitamin C: a discussion of the nature, causes, prevention, and treatment of cancer with special reference to the value of vitamin C (1979), Cameron, Ewan Pauling, Linus Carl, The National Agricultural Library
Es gibt weitere Studien, die nahelegen, dass Vitamin C eine positive Rolle bei Krebserkrankten spielen könnte, bisher wurden die Daten bei Tieren ausgewertet und nicht in die Standards der klinischen Behandlung von Menschen aufgenommen12 13.
12 Vitamin C and cancer prevention: the epidemiologic evidence, G. Block, The American Journal of Clinical Nutrition, Volume 53, Issue 1, January 1991, Pages 270S-282S
13 Vitamin C selectively kills KRAS and BRAF mutant colorectal cancer cells by targeting GAPSH, J. Yun et al, Science 11 Dec 2015, Vol. 350, Issue 6266, pp. 1391–1396
Pauling selbst soll jahrelang 18 Gramm Vitamin C zu sich genommen haben und wurde 93 Jahre alt, er starb allerdings an Krebs.
Die Einsicht, dass ein Mangel an einem bestimmten Nährstoff zu einer Erkrankung führen kann, ist seit nun über 100 Jahren bekannt und akzeptiert. Allerdings bilden die Vitamine nur einen Teil der insgesamt 90 essenziellen Nährstoffe für Menschen, die täglich gebraucht werden:

1 Vitamine: Vitamin A, B1 (Thiamin), B2 (Riboflavin), B3 (Niacin), B5 (Pantothensäure), B6 (Pyridoxin), B12 (Cyanocobalamin), C, D, E, K, Biotin, Cholin, Flavonoide und Bioflavonoide, Folsäure und Inositol. Weitere essenzielle Nährstoffe sind

 

2 Aminosäuren: Valin, Lysin, Threonin, Leucin, Isoleucin, Tryptophan, Phenylalanin, Methionin, Histidin, Arginin, Taurin und Tyrosin (die letzten drei werden zwar nicht als essenziell bezeichnet, können aber bei einem Mangel bestimmte Erkrankungen verursachen).

3 Fettsäuren/Cholesterin: Linolsäure, Linolensäure, Arachidonsäure und Cholesterin (Cholesterin kann auch vom Körper hergestellt werden, ein Mangel resultiert einigen Wissenschaftlern zufolge in Alzheimer Demenz, Diabetes mellitus Typ II, erektile Dysfunktion, Burn-out u. a.)