EINSICHT in UNerhörtes

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1.2.3 Selbststeuerung

Selbststeuerung ist dann ab dem Alter von 3 Jahren, also vom vierten Lebensjahr an eine lebenslange Aufgabe, deren erfolgreiche Bewältigung und lebensgestaltendes Potenzial aber besonders von dem Beginn im vierten und fünften Lebensjahr abhängt. Bei gutem Gelingen in liebevollem, aber auch passend herausforderndem Umfeld bildet der präfrontale Kortex insgesamt seine Selbst-Steuerungsfunktion immer weiter aus und dehnt sie insbesondere auf die Fähigkeit der Wahl, das Planen mit allmählicher Einbeziehung von zeitlich späteren Zielen und der Entwicklung der intrinsischen Motivation (siehe Kapitel 5, Spielen).

Was heißt Selbststeuerung?

Idealtypisch möchte ich das so beschreiben: Ein Kind kann im Laufe des vierten Lebensjahres allmählich immer besser warten, bis seine Impulse erfüllt werden. Die Kinder quengeln und drängeln sicherlich immer wieder, schreien auch mal wütend, aber sie kommen mit dem Warten zunehmend zurecht, ohne dass übermäßiger Stress entsteht. Es bildet sich eine sogenannte Frustrationstoleranz aus, zu der aber die Erfahrung gehört, dass die Bedürfnisse meist später doch befriedigt werden. Vielfach können die Kinder dann schon erkennen, dass das Warten auch Vorteile bringt oder so etwas wie eine erste Vorfreude auftritt.

Das Kind kann dann z. B. beginnen, erste Pläne in der Vorstellung zu machen und das Ganze später ausprobieren. Parallel dazu kann eine erste Umsetzung bereits in der Fantasie und auch im Spiel stattfinden, bevor es dann tatsächlich stattfindet. Beispielsweise kann das Kind erst einmal die Puppe füttern, wenn die Mutter/der Vater das Essen noch nicht fertig hat.

Dazu gehören aber verlässliche Eltern, sonst wird die zeitweilige Frustration zur Bedrückung. Aber verlässliche Eltern können auch „Nein“ sagen, wenn es sinnvoll oder notwendig ist und das Kind kann mit der Klarheit der Eltern, wenn sie sich auch verlässlich auf das „Ja“ erstreckt, gut leben.

Diese Zeit ist an sich märchenhaft, die Kinder leben in einer Märchenwelt, bevor sie dann im sechsten/siebten Lebensjahr von sich aus mehr in die reale Alltagswelt mit ihren Anforderungen eindringen wollen, da unbändige Neugier sie treibt. Dann ist das Gehirn bereit dafür und kann es beginnend fassen.

Bis dahin gilt es, die Kinder immer wieder auch in dieser Märchenwelt zu lassen oder sie auch mit ihnen zu erleben. Für den Alltags-Realismus bleibt noch genug Zeit, man muss ihn in den ersten Jahren nicht überstrapazieren, weil er Kinder in seiner rationalen Erfassungsnotwendigkeit leicht überfordert. Denn Kinder denken noch nicht vernünftig, vielleicht manchmal schon in Ansätzen, aber das macht sie ja auch als Kinder aus und ermöglicht ihnen ihre Eroberung der Welt ohne übergroße Handlungshemmung durch zu viel (kaum zu bewältigende) rationale Abwägung.

Mancher mag glauben, ich übertreibe mit der Ausdehnung der Zeitphasen und sieht für sich und seine Kinder schnellere Phasenabläufe. Aber uns will vieles anders scheinen, wenn noch nicht klar ist, wie es entsteht.

1.2.4 Trotzphase

In der Zeit des beginnenden Wahrnehmens eines eigenen, von der Mutter unterscheidbaren „Ichs“ ist es normal, dass das Kind die Möglichkeiten des Ichs ausprobieren will. Dies findet insbesondere im dritten und vierten Lebensjahr, individuell auch später statt.

Nun sind die Kinder sehr verschieden und agieren sehr unterschiedlich in dieser Zeit und in eben ihrer speziellen Familie. Es kommt auch darauf an, wie gut Impulse schon kontrolliert werden können. Manche Kinder sind sehr offensiv und loten die Möglichkeiten und Grenzen sehr offensiv aus, was Eltern manchmal an den Rand ihrer Kräfte, Wirksamkeit und ihrer emotionalen Balance bringen kann, wieder andere machen dies kaum wahrnehmbar für die Eltern. Hier kommt es darauf an, dass Eltern diese Phase ihres Kindes akzeptieren und möglichst auf die Seele des kleinen Kindes passend reagieren lernen.

Das heißt u. a. auch, dass sie zaghaften Kindern gute Räume zum Ausprobieren und offensiven Kindern Räume und gute Grenzen für ihr Ausagieren geben. Unter anderem ist es wichtig, dass man bei den offensiven Kindern sehr darauf achtet, wann sie müde werden, weil sie dann oft noch mal ein Furioso starten und kaum mehr erreichbar sind. In der Folge ist die Gefahr für die Eltern, dass sie das z. B. dann schreiende und sich wehrende Kind auch anschreien und nur mit einer gewaltigen Kraftanstrengung und ggf. einem Ärger auf das Kind (es reagiert nicht mehr, weil es nicht mehr reagieren kann) ins Bett bringen können. Das erleben aber auch die gelassensten Eltern in dieser Phase immer wieder mal.

Im Alltag gibt es für die meist nicht durchgängige Trotzphase keine besten Regeln für Eltern, mal hilft ablenken, mal austoben lassen mit dem Aufpassen, dass das Kind sich nichts tut. Meist ist ein liebevolles Ignorieren, was bedeutet, dass man nicht gegen das Kind kämpft und möglichst wenig Energie in diese Momente gibt, hilfreich zum Auslaufenlassen des Agierens. Insgesamt ist aber die Klarheit der gemeinsamen Regeln beider Eltern wichtig, die das Kind dann allmählich als verbindlich und gesetzt in sein Ich-Kostüm einverleibt.

Wie die Kinder es machen, ist weder gut noch schlecht, sie probieren sich eben aus mit ihren jeweils neu wahrnehmbaren Möglichkeiten in eben dieser speziellen Familie, in die sie hineingeboren sind. Und man sollte Kinder niemals mit anderen vergleichen, sie sind alle so, wie sie sind, unvergleichlich und liebenswert (über das Drama des Vergleichens siehe auch Kapitel 2, S. 116).

1.2.5 Impuls-Unterdrückung beim kleinen Kind

Aufpassen muss man in dieser Phase jedoch mit Regeln, die das notwendige Ausprobieren unterschwellig, aber mit einer für das Kind doch wahrnehmbaren, auf Ärger oder Hilflosigkeit basierenden inneren Härte unterbinden, so dass es zu einer Impuls-Unterdrückung beim Kind kommt, die keine echte hirnphysiologisch wirksam gewachsene Impuls-Kontrolle ist.

Oft unmerklich, nicht stark ausgeprägt, aber mit großer Wirkung durch die tägliche regelmäßige Anforderung stehen viele Kinder z. B. unter

•dressurähnlicher Verhaltens-Konditionierung, ggf. auch aus kulturellen Gründen,

•unterliegen einem Zwang, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, weil schwierige Alltage dies oder jenes erfordern,

•nehmen sich zurück, weil sie Angst bei den Eltern spüren,

•ziehen sich resignierend zurück, weil sie nicht ausreichend Antwort auf ihre kommunikativen Handlungen bzw. keine Anregung für ihre Neugier bekommen,

•oder fühlen sich bedroht durch Liebesentzug bei nicht gewolltem Verhalten oder anderweitiger Strafandrohung usw.

Dann sieht es so aus, als könnten Kinder schon mit drei Jahren perfekt gehorchen, seien gut erzogen oder lernen brav, was die Eltern wünschen. Und die Eltern sind dabei ja in der Regel nicht boshaft oder schlecht, haben es z. B. so von ihren Eltern gelernt, sind darüber hinaus vielfach im Alltag stark belastet oder nicht in eigener Balance. Wir alle unterschätzen dabei aber die Wahrnehmung und innere Wirkung von solchen als nebensächlich eingeschätzten Details und sehen ggf. eher grobe Dinge, dann sogar natürlicherweise eher bei anderen, und bemerken unser eigenes Zutun oft selbst nicht.

Diese kindliche Anpassung ist aber keine echte Impulskontrolle oder Selbststeuerung, sondern ist eine archaische Reaktion aus der physiologischen Ruhigstellung bei Angst und bedeutet durchaus Stress für das Kind, beinhaltet für das weitere „auf die Welt Zugehen“ in gewissem Maße auch eine resignative Zurückhaltung. Da dies in den Erziehungssystemen der aktuellen Vergangenheit „normal“ ist, wird es vielfach nicht wahrgenommen. Die meisten von uns haben auch dieserart Stress auf die eine oder andere Weise erfahren, kennen ihn insofern zumindest unterbewusst.

Kinder mit zwei Jahren oder jünger für ihr „Ungezogensein“ zu bestrafen, bedeutet, wie gesagt, für das Kind eine traumatische Erfahrung. Es kann daraus niemals eine für das weitere Leben hilfreiche Lehre ziehen, sondern kommt nur in Angst und Hilflosigkeit.

Ich habe in einem Foto-Album ein Bild eines kleinen Jungen auf dem Töpfchen sitzend entdeckt, in einem Alter, wo er eben gerade sitzen konnte, noch nicht ein Jahr alt. Darunter hatte seine Mutter geschrieben: „Er ist unartig, er will nicht aufs Töpfchen“.

Verstehen Sie, das meine ich. Es war damals eine Erziehungskultur, die von bestimmtem Annahmen ausging, die unterschwellig aber wirksam waren, die heute natürlich nicht mehr haltbar sind in der Erziehungsdiskussion. Sie werden allerdings von vielen Eltern noch aufgrund des unterbewussten eigenen Erfahrungsschatzes an die Kinder weitergegeben und als „normal“ empfunden. Auch den Satz: „Kinder mit ‘nem Will‘n, kriegen was auf die Brill‘n“ kennen wahrscheinlich noch einige aus eigener Erfahrung als Kind.

Das kann sich alles behindernd auf die Entwicklung auswirken und ist verstärkt der Fall, wenn die Eltern praktisch nicht verlässlich für das Kind „da“ sind, z. B. aufgrund von eigener Krankheit, Stress, eigener Traumatisierung oder arbeitsbezogen oder wenn das Kind für die eigenen elterlichen ungelösten Lebensprobleme benutzt/missbraucht wird (dazu später Kapitel 3).

 

Übrigens, in der Pubertät und nachfolgenden Jugendjahren kann das Gehirn sich bei guten Umgebungsbedingungen noch einmal umfangreich umstrukturieren, man spricht bei der Pubertät auch von „der zweiten Chance“. So kann ggf. hier vieles noch einmal nachreifen. Die „erste Chance“ der ersten Lebensjahre ist allerdings die grundlegende Entwicklung und gibt den Rahmen, auf den die „zweite“ Chance dann noch gut aufbauen kann.

1.3 Die Bedeutung des autonomen Nervensystems für die Bindungsfähigkeit

Das autonome Nervensystem (ANS), auch vegetatives Nervensystem genannt, ist entwicklungsgeschichtlich ein seit Jahrmillionen bestehendes uraltes System, das alle Vitalfunktionen steuert und modifiziert je nach Anforderung des Lebens und der Umgebung. Es findet sich bei allen Tieren und auch beim Menschen. Es arbeitet blitzschnell und verarbeitet dabei alle verfügbaren Informationen über die Sinne, also aus der Umgebung und aus Rückkoppelungen von inneren Organen. Dies tut es permanent, Tag und Nacht. Es passt z. B. die Herztätigkeit sofort den Erfordernissen an, wenn die Informationen auf Gefahr deuten oder aber sichere Umgebung anzeigen. Es heißt autonom, weil ein direkter Zugriff z. B. im Denken durch eine Denk-Anweisung, z. B. „Puls werde langsamer!“ nicht funktioniert und nur indirekt über innere Bilder, Meditation oder Qigong usw. beeinflussbar ist.

Das ANS ist also viel schneller als das bewusste Denken und gibt daher auch dem Denken immer einen Rahmen vor, innerhalb dessen es arbeiten kann, insbesondere durch die Kategorien „sicher“, „gefährlich“ oder „lebensgefährlich“, sozusagen ein erstes Framing. Auf die Möglichkeiten bzw. Begrenzungen des Denkens in Abhängigkeit dieser Rahmen kommen wir später in Kapitel 4 zurück.

Anatomisch hatten die Forscher zwei Nerven gefunden, die sie als Gegenspieler identifizierten, Sympathikus und Parasympathikus. Beim Sympathikus fand man aktivierende Wirkungen, insbesondere im Herz-Kreislauf-System und den Skelettmuskeln, beim Parasympathikus beruhigende, entspannende und zur Verdauung gehörende Wirkungen. Der Parasympathikus gehört als Nervenleitbahn zum sogenannten Nervus vagus, einem Hirnnerv.

Heute sieht man Sympathikus und Parasympathikus nicht nur als Gegenspieler, vielmehr „spielen“ sie in der vegetativen Regulation und Feineinstellung von Funktionen, z. B. der passenden Herzfrequenz den ganzen Tag zusammen.

Ende der 1980er-Jahre hatte der amerikanische Psychiater und Biomedizin-Techniker Stephen W. Porges bei seiner Forschung herausgefunden, dass vom Nervus vagus ein weiterer Nervenzweig ausgeht mit ganz eigenen Funktionen, der entwicklungsgeschichtlich viel jünger ist und sich nur bei höheren Säugetieren und im besonderen Maße beim Menschen findet. Dieser Zweig wird ventraler Vaguszweig genannt (ventral: bauchseitig) im Gegensatz zum altbekannten Parasympathikus, der als dorsaler Vaguszweig bezeichnet wird (dorsal: rückenseitig).

Der neue jüngere ventrale Zweig wird nun nach intensiver Erforschung in der praktischen medizinischen Anwendung auch „soziales System“ genannt (Polyvagaltheorie). Diese Theorie wird nicht von allen Wissenschaftlern, die zum ANS forschen, als wissenschaftlich eindeutig stimmig gesehen, es handelt sich aber um einen praktikablen Ansatz für das Verständnis vieler menschlicher Kommunikations- und Verhaltensvorgänge.

Die Theorie des sozialen Systems des ANS hat sich dabei gerade in der Praxis der psychosomatischen und Trauma-Behandlung sehr bewährt und ist auch in der Bindungsforschung ein sehr hilfreicher Ansatz. Daher beschreibe ich das soziale System des ANS hier als eine gut verständliche Theorie, die allerdings noch weiteren Forschungsbedarf hat.

Die drei vegetativen Zweige oder Systeme arbeiten im ANS in gewisser Weise den ganzen Tag zusammen, aber es gibt doch eine Hierarchie bei der kommunikativen Bewertung von Sicherheit und Gefahr, die der ventrale Vaguszweig anführt und den Sympathikus in seinen Funktionen, insbesondere Stressantworten hemmt, dieser wiederum hemmt den dorsalen Parasympathikus für die von ihm ausgehenden ultimativen Stressantworten.

Man kann sagen, der ventrale Vaguszweig kann mit seinen Regulationen die meisten Alltagssituationen gut managen, sofern es sich um einen gesunden Menschen mit guter Bindungsfähigkeit handelt. Dann braucht der Sympathikus nur gebremst eingreifen und der dorsale Parasympathikus kann sich hauptsächlich um die Verdauung kümmern, muss also beim vegetativen Stress-Management im Grunde nicht eingreifen.

In gefährlichen oder als gefährlich eingeschätzten Situationen tritt dann der ventrale Vagus seine Führungsposition ab und der Sympathikus übernimmt und mobilisiert alle Kräfte, die zum Kampf oder zur Flucht gebraucht werden, bis die Gefahr vorüber ist. Dann kehrt sich die Führung wieder um und der Sympathikus, ebenso wie die Stress-Hormone Cortisol und Adrenalin kehren wieder in ihre Ausgangslage zurück. Bei Lebensgefahr erfolgt sozusagen als letzte Reaktionsmöglichkeit ein „Totstellreflex“, der über den dorsalen Parasympathikus läuft als Erstarren oder auch als Ohnmacht.

Die Funktionsbedeutung des jüngsten Vaguszweiges als soziales System möchte ich jetzt genauer erklären, denn er zeigt einige ganz zentral bedeutsame Zusammenhänge im menschlichen, sozialen Leben auf. Ich werde in diesem Buch an vielen verschiedenen Abschnitten darauf zurückkommen.

Der ventrale Vaguszweig – das soziale System des ANS

Dieses entwicklungsgeschichtlich jüngere Nerven-System beeinflusst viele Muskeln im Kopf/Hals-Bereich, also im Gesicht, speziell der Mimik, der Stimme durch Kehlkopf und Rachenmuskeln und der Seitneigung und Drehbewegung des Kopfes. Andere Hirnnerven sind dabei abgestimmt mitbeteiligt. Ich fasse dies hier im sozialen System des ANS zusammen.

Ein Mensch zeigt dadurch z. B., ob sie/er freundlich oder feindlich gesinnt ist. Das findet unbewusst statt, üblicherweise legt man sich darüber keine Rechenschaft ab. Das Gegenüber kann dann im Gesicht den emotionalen Ausdruck an der Kopfhaltung z. B. soziales Annehmen oder Ablehnen und in der Stimme die Stimmung quasi lesen und hören, also ob die aktuelle Situation sicher oder unsicher bzw. gefährlich ist. Auch das findet sehr rasch und unbewusst statt.

Die Feinheiten beispielsweise der Stimme, die sogenannte Prosodie (Intonation, Satzmelodie, Stimmungsvariationen usw.) werden durch vom ventralen Vaguszweig beeinflusste Muskeln im Kehlkopf/Stimmbandbereich und Schlundmuskulatur im Zusammenspiel mit anderen Hirnnerven hervorgerufen. Das ist so individuell, dass man jemanden am Telefon an seiner/ihrer Stimme erkennen kann, ja digital sogar die Stimme als Signatur zur Identifikation nutzen kann. Und die Stimmung wird dabei mittransportiert, allerdings bewusst nicht immer wahrgenommen.

Dieses System ist also, anders als die eher reaktiven, rückgekoppelten Nerven-Funktionen von Sympathikus und Parasympathikus, ein auch proaktives soziales System, es stellt einem Gegenüber einen Ausdruck der inneren Verfassung, Gestimmtheit und Einstellung zur Situation zur Verfügung. Das Gegenüber macht es ebenso. So können beide aus der Mimik, Stimme, Körperhaltung und Gestik herauslesen, wie die Situation weitergehen kann, welche kommunikativen Handlungen Sinn machen oder ob ein Rückzug angezeigt ist. Dieser jeweilige Ausdruck für andere ist kaum zu unterdrücken, quasi ein soziales, freiwilliges Angebot an die Umwelt, um die passende Kommunikation zu finden.

Bei der Wahrnehmung und dem Lesen im muskulären Muster des Gegenübers spielen die Sinne und auch die sogenannten Spiegelneurone mit dem ventralen Vaguszweig zusammen. Spiegelneurone sind Neurone, die optisch erfassbare muskuläre Muster eines Gegenübers im eigenen Gehirn abbilden können. Dies ist dann auch als Abbildung mit Empfindungen aus dem eigenen Erfahrungsschatz verbunden, die eine Ahnung vermitteln, was das Gegenüber gerade fühlt. Aufgrund spezieller Zusatzneurone, die ganze Handlungspläne speichern, kann dann bei ausreichender Erfahrung aus dem angedeuteten Bewegungsmuster auch auf das mögliche Weiterführen der muskulären Aktionen, also die Absichten, geschlossen werden.

Auch die Reaktion auf das Erfassen der Situation, also ein Eingehen auf die Begegnung oder Abwendung durch unbewusst erfolgende minimale Änderungen des eigenen muskulären Musters, teilt sich dem anderen dann sofort mit.

Das System ist dabei gut in der Lage, sozial adaptiv zu wirken, also ohne Kampfmodus kommunikativ flexibel zu reagieren, auch bei einem verbalen Angriff z. B. ins Gespräch zu kommen, im Gespräch zu bleiben oder auch zu gehen. Das ist die große Errungenschaft dieses Systems und es hat vermutlich zu einem besseren Überleben in größeren Gruppen geführt.

Der ventrale Vaguszweig kann aber nur die Führung im ANS halten, wenn er durch Balance im Leben des Menschen, Pausen und gutem Schlaf entspannt bleibt und durch interessante und herausfordernde Begegnungen gut trainiert wird. Damit entsteht dort ein kommunikatives Repertoire, was einen den Großteil der Situationen im Leben kommunikativ stressarm beantworten lässt ohne Hilfe von Stressantworten des Sympathikus, die immer etwas aufgeregter, heftiger und unreflektierter ausfallen.

Das ANS unter Führung des ventralen Vaguszweiges fragt also ständig in Windeseile Informationen aus der Umgebung und der inneren Verfassung ab auf Gefahren, stressige Herausforderungen oder ausreichend sichere Lage.

Dieses System reguliert dann z. B. auch unverzüglich den für die Situation notwendigen Herzschlag, und falls die Situation nicht dramatisch ist, hemmt das System auch Reaktionen aus dem Sympathikusanteil des ANS, andernfalls sinkt der Tonus im sozialen System und der Herausforderungs- bzw. Kampf- oder Fluchtmodus wird über den Sympathikus mobilisiert.

Diese Einschätzungen wurden in früheren Zeiten nur über die äußeren, mit den Sinnen zu erfassenden Situationen in der jeweiligen Umgebung getroffen im Abgleich zu archaischen, eigenen oder Gruppen-Erfahrungen.

Heutzutage kommen in stärkerem Umfang auch Informationen und Signale aus dem individuellen Inneren, insbesondere aus dem Denken bzw. emotionalem Erleben dazu, wie gefühlte Ablehnung, Erniedrigung, Selbstwertzweifel usw. als aufgespürte Gefahren, die den Tonus des ventralen Vaguszweiges drosseln und den Sympathikus mit Stressreaktionen auf den Plan rufen.

Das ist eine Bürde, manchmal auch Sackgasse des die starke Individualisierung befördernden und bindungsauflösenden „Fortschritts“ unserer heutigen Zeit, u. a. eine Auswirkung und Folge fehlender Liebe und Vertrauen ins Leben in den ersten Lebensjahren und nicht ausreichend gelungener Selbststeuerung.