Aus dir wird nie etwas!

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Das Ende

Laute Stimmen, mitten in der Nacht. Päuli erwacht, steht auf, tappt in die Küche, geblendet vom Licht. Vater, Mutter, der grosse Bruder streiten, streiten, schimpfen, ein Rie­senkrach. Die Mutter geht ins Elternschlafzimmer, knallt die Tür hinter sich zu. Päuli drückt zaghaft die Türfalle und folgt ihr.

Da liegt der offene Koffer auf dem Bett, wütend schmeisst sie Kleidungsstücke hinein, schluchzt, stösst italienische Schimpfwörter aus. Päuli, verängstigt und verstört, begreift: Jetzt geht sie weg. Er holt sein Sparschwein aus rosa Porzellan aus dem Versteck. Viel ist nicht drin – was er eben da und dort geschenkt bekommen oder erbettelt hat. Man kann die Münzen nur mit einem Messer herausangeln. Oder das Sparschwein zerbrechen. Seinen ganzen Besitz legt er in Mutters Koffer.

Kurz darauf klappt sie den Deckel zu, schlüpft in den Mantel, stürmt aus der Wohnung. Er hört ihre schnellen Schritte auf der Holztreppe, dann fällt die Haustür ins Schloss. Noch ist ihr Geruch da, eine Mischung von Körperschweiss und billigem Parfüm. Das Sparschwein hat sie verschmäht, es liegt auf ihrem Bett.

Es ist das Ende seiner Kindheit, er ist gerade mal fünf Jahre alt.

Pflegkind

Vom Fürsorgeamt ist vielleicht alle zwei Jahre mal ­jemand aufgetaucht. Die haben nur mit der Pflegmutter geredet. Mit mir nie.

Päuli sitzt auf dem Gepäckträger von Vaters Velo, hält sich mit beiden Armen am Vater fest, spürt die Wärme seines breiten Rückens. Eine holprige Fahrt über Pflaster­steine, er lässt die Stimme mitschwingen, «a-a-a-a-a-a-a». An der Lenkstange baumelt eine Tasche mit seinen Kleidern, viele sind es nicht. Sie fahren nach Riehen hinaus, einen Vorort von Basel, immer der Tramlinie nach. Päuli ist auf seinen Streifzügen noch nie so weit gekommen. Er ist traurig. Aber es ist gut, so nahe beim Papa zu sein, «a-a-a-a».

Bei einem kleinen Mehrfamilienhaus an der Rauracherstrasse am Ortsrand von Riehen sind sie am Ziel. Der Vater nimmt ihn an der Hand und klingelt. Eine mür­rische Frau mit strähnigem, aschblondem Haar öffnet die Tür. Päuli versteckt sich hinter dem Vater. Nein, ihr Mann sei nicht da. Widerwillig lässt Frau Grübler* sie eintreten. Es riecht nach Kohl im engen Hausgang. Ein rotznasiger Bub, etwas älter als Paul, schaut neugierig um die Ecke, verschwindet gleich wieder, um bald darauf mit dem grösseren Bruder zurückzukommen. Sie schneiden Grimassen, lachen und laufen davon.

Ist ja klar, dass der Päuli nicht daheimbleiben kann, Karl Richener hat das eingesehen und nach einem Platz für seinen Jüngsten gesucht. Sonst stecken die vom Amt auch den Päuli in ein Kinderheim, wie den Theo, wie die Grossen. Karl hat den Grübler gefragt, seinen Arbeitskollegen, ohne zu wissen, wie es bei dem zu Hause aussieht. Vielleicht hat er ihn sogar bedrängt: «Nimm ihn doch, der Päuli ist ein Lieber, es ist nur für kurze Zeit.»

Es ist unordentlich und schmutzig hier, aber das ist es zu Hause auch, man kann nicht wählerisch sein. Wenn er nur erst jemanden gefunden hat, der ihm den Haushalt macht – oder wenn Virginia zurückkommt –, holt er den Päuli wieder heim.

Widerwillige Pflegeltern

Der Grübler hat wohl nicht Nein sagen können. Aus Kinderliebe hat er jedenfalls bestimmt nicht eingewilligt. Er kann den Kleinen von Anfang an nicht riechen: «Der stinkt.» Das Kostgeld wird den Ausschlag gegeben haben. Neunzig Franken im Monat, das deckt mehr als den halben Mietzins. Die Frau hat er gar nicht erst gefragt. Sie ist verärgert, dass man ihr ein weiteres Kind aufbürdet, sie ist mit ihren zwei Buben schon überfordert.

Der kleine, wendige Päuli, der sich auf den Strassen Kleinbasels im Kielwasser von Theo so gut durchzuschlagen wusste! Zuerst ist die Mutter gegangen. Die war zwar schon vorher nicht immer da, man wusste eigentlich nie, ob sie zu Hause war oder nicht. Aber dann haben sie ihm den Theo weggenommen und ins Kinderheim in Hemberg gesteckt, seither hat Päuli keinen Boden mehr unter den Füssen. Und jetzt verliert er auch noch den Papa.

Bericht über erstmaligen Besuch

Pflegekind: Richener Paul

Pflegeeltern: G.-H.

Wohnung: Rauracherstrasse …, Riehen

besucht am: 9. Dezember 1954

Der Pflegeort macht mir keinen guten Eindruck. Die Wohnung ist ärmlich ausgestattet. Im Bubenzimmer stehen nur die drei Betten, welche eher verwahrlost aussehen. Ich erlaube mir, das Bett von Paul aufzudecken. Es ist mit einem zerrissenen Leintuch versehen. Frau G., welche an sich auch «hotschig» aussieht, meint, der Vater habe dieses Bett gegeben und bringe eben nie die nötige Bettwäsche. G.s selbst besitzen für sich kaum das Nötigste (die Betten der eigenen Buben sehen womöglich noch armseliger aus). – Als die Pflegemut­ter merkt, dass wir es mit der Kontrolle genau nehmen, ­begehrt sie auf, indem sie sagt, wenn man ihr zuviele Geschichten mache, so gebe sie den Knaben sofort wieder her. Ueberhaupt sei er nur vorübergehend hier, sobald der Kindsvater eine Haushälterin gefunden habe, nehme er den Paul wieder zu sich.

A.K..

12.1.55. Herr G. hat bereits Feierabend und zeigt sich viel umgänglicher, als ihn seine schnippische Frau geschildert hat. Mein Eindruck ist diesmal besser. Auf alle Fälle scheinen die Ehegatten gut miteinander auszukommen. Herr G. ist ein gutmütiger Typ, der offenbar mit der mangelhaften Haushaltführung seiner Frau zufrieden ist, weil er wahrscheinlich von Haus aus nichts anders gewöhnt ist.

A. K.

Mit Päuli hat die Fürsorgerin nicht gesprochen. Wahrscheinlich hätte er nicht gewagt zu erzählen, was ihm jeden Abend widerfuhr. Hätte sie ihm geglaubt?

Ausgeschlossen, gedemütigt

Abends, wenn die andern Kinder noch draussen spielen dürfen, ruft Frau Grübler den Bub ins Haus. Sie stellt ihm Reste vom Mittag auf den Küchentisch, er muss allein essen, während sie daneben die Kartoffeln für die Familie brät. Er darf nicht mit den andern an den Stubentisch und bekommt nicht, was sie bekommen. Er soll sich gleich den Pyjama anziehen und – barfuss steht er vor der Stubentür und zögert, hört das Klappern des Geschirrs, das Gezänk der beiden Brüder, hört Grüblers ärgerlich erhobene Stimme: «Wird’s bald, Päuli!»

Abend für Abend ist es dasselbe Ritual der Beschämung: Antreten zur Unterhosenkontrolle. Zwischen gespreizten Daumen und Zeigefingern aufgespannt, präsentiert er dem Pflegvater das Stück. Der beugt sich angewidert darüber – und wehe, wenn darin eine gelbliche oder gar braune Spur zu sehen ist! Dann muss Paul um den Tisch laufen und zum Gaudi der Pflegbrüder allen seine Unterhose zeigen, und schliesslich schlägt sie ihm der Grübler um die Ohren und versohlt ihm den Hintern, während die Buben am Tisch in plötzlicher Einigkeit quietschen vor Vergnügen.

Manchmal fahren sie am Sonntag mit dem Tram an die Birs in die Reinacher Heid zum Fischen, nehmen Picknick mit, machen ein Feuer und braten Würste. Ein- oder zweimal darf Paul mit. Aber die Frau Grübler ist schon am Samstag hässig, weil sie eine zusätzliche Wurst kaufen muss. So lässt man eben den Paul allein zu Hause.

Wenn aber der Grübler einen Helfer braucht, wird Paul bevorzugt. An manchen Samstagen nimmt er den Kleinen auf dem Velo mit nach Basel zu den Herrschaften an der Rittergasse. Dort gibt es Berge von Kohlen wegzuschaufeln. Die Kohlenmänner haben den Inhalt ihrer Säcke von der Strasse her durch die kleine Luke in den Kellerschacht geleert. Unten im Keller muss die Kohle in den Verschlag oder auch direkt in den Ofen geschaufelt werden. Die Schaufel ist für den Sechsjährigen viel zu gross und zu schwer. Manchmal verschwindet der Grübler, lässt den Paul allein schuften, und wenn er nach einer Weile zurückkommt, meckert er, weil dieser noch nicht fertig ist. Seine eigenen Buben kommen nie mit.

Atempause im Kinderspital

Zum Glück holt der Vater den Päuli hin und wieder am Wochenende heim an die Amerbachstrasse. Wenn er am Samstagnachmittag auf dem Gepäckträger des Velos sitzt und sich am Papa festklammert, ist das der schönste Moment der Woche. Einmal wird er von Fritz, dem ältes­ten Bruder, abgeholt. Vater wird auf dem Fussballplatz sein. Päuli johlt übermütig auf dem Gepäckträger und macht Kapriolen. Dabei gerät er mit dem nackten Fuss in die Speichen des Hinterrads, sie stürzen beide, es blutet und tut wahnsinnig weh. Er wird ins Kinderspital gebracht, der Knöchel ist gebrochen und die Wunde geht tief, bis auf den Knochen.

«Den kennen wir doch», sagen die Schwestern lachend und freuen sich, den kleinen Charmeur mit den goldbraunen Locken wieder bei sich zu haben. Es ist nicht allzu lange her, da war er wegen einer kleinen Operation auf derselben Abteilung. Der lädierte Fuss wird stillgelegt, ein Gestell sorgt dafür, dass die Decke nicht auf den Fuss drückt. Es sieht aus wie ein Veloständer.

Paul ist der Liebling der Schwestern, er macht Faxen, um sie zum Lachen zu bringen und sonnt sich in ihrer Zuneigung. Noch nie ist er so umsorgt worden. Wie gerne wäre er länger geblieben! Eine Narbe am Knöchel erinnert ihn bis heute an den Schmerz und an die Geborgenheit im weissen Spitalbett.

Päuli muss zurück zur Pflegfamilie

Bei den Grüblers hat sich nichts geändert, er ist genauso unwillkommen wie am ersten Tag. Nur das Heimweh ist noch grösser geworden, vor allem abends und nachts.

Am Tag hat die Rauracherstrasse auch erfreuliche Sei­ten. Das Ruthli zum Beispiel, seine liebste Freundin, es wohnt im selben Haus auf der gleichen Etage, gleich ge­genüber. Täglich klingelt er an seiner Wohnungstür und holt es zum Spielen. Einmal sagt seine Mutter, es kann nicht kommen, es ist krank, willst du es besuchen? Ja, klar. Wie er die kleine Patientin im Bett liegen sieht, tut sie ihm so leid, dass er zu ihr unter die Decke schlüpft und sich tröstend neben sie legt.

 

Überhaupt wohnen viele Kinder in der Nachbarschaft. Hinter dem Haus gibt es reichlich Platz zum Spielen. Unter den Kindern lebt Paul auf, er ist einer von vielen, niemand sagt zu ihm: «Geh weg» oder «Du bist blöd» oder «Den wollen wir nicht». Da weicht der Druck von ihm, er ist anders, lebhaft, wagemutig, übermütig. Bis zum Abend, als er lange vor den andern Kindern gerufen wird und mit hängendem Kopf ins Haus trottet. Er weiss, was ihn erwartet.

Was als Überbrückung gedacht war, zieht sich hin. In den spärlichen Besuchsprotokollen der Fürsorgerin H. F.-B. ist die Ungeduld der Frau Grübler zu spüren.

4.3.1955

Frau G. empfängt mich mit den Worten, dass sie Paul kein Jahr behalte.

19.12.1955

Frau G. erklärt mir sofort, dass Päuli immer noch bei ihnen sei, doch nächsten Monat gehe er bestimmt heim. Sie sei froh, denn das Kind lüge und sei nicht mehr so brav, die Kindergärtnerin bestätige dies auch. Wenn man bedenke, wie die Eltern seien, sei es nicht verwunderlich, dass das Kind schwierig sei.

Ob die Frau Grübler die Kindergärtnerin zitiert, um ihrer eigenen Meinung mehr Nachdruck zu verleihen? Paul geht jedenfalls gern in den Kindergarten und später auch in die Schule, zusammen mit den Nachbarskindern, ein ganzes Trüppchen wandert auf dem Rauracherweglein zwischen Schrebergärten dem dunkelrot gestrichenen Holzbau zu. Der Kindergarten liegt am Ende einer Ba­rackensiedlung von Reihenhäuschen auf Pfählen, ebenfalls aus rot gestrichenem Holz.

Etwa nach der Hälfte des Wegs zweigt rechts das Strässchen zu den Schulhäusern ab. Es unterquert die die Bahnlinie Basel – Lörrach. Dort in der Unterführung hat sich einer eine Bleibe eingerichtet, einen Bretter­ver­schlag, darin liegen zerknüllte, schmutzige Decken auf einer alten Matratze. Ganz verwegene Kindergärtler ha­ben sich schon erdreistet, einen Blick darauf zu werfen. Das ist hochgefährlich, man weiss nie, ob der Böse Mann dort ist. Einige behaupten, ihn schon gesehen zu haben, einen struppigen Kerl mit roter Nase und wildem Bart.

Vaters Fäuste

Mehr als zwei Jahre wohnt Paul bei den Grüblers, bis er sich dem Vater anvertraut und von der allabendlichen Demütigung zu erzählen wagt. Wutentbrannt stellt dieser den Grübler zur Rede, es kommt zu einem wüsten Wortwechsel, der Vater gebraucht seine Fäuste, wie es seine Art ist, sehr zur Genugtuung von Paul. Sie packen seine wenigen Sachen und gehen nach Hause.

Nur, da ist auch keine Bleibe. Der Vater ist den ganzen Tag weg, an der Arbeit. Sonja ist zwar wieder einmal da. Inzwischen hat sie ein Kind – dass es bereits das zweite ist, wird Paul erst viel später erfahren –, sie hat sich im Schwingkeller in den flotten Eduard verguckt, den Gewichtheber. Die Wohnung ist dreckig, Wäsche liegt ­her­um, auf dem Tisch stehen volle Aschenbecher und schmutziges Geschirr, auf dem Herd stapeln sich gebrauchte Pfannen. Und Paul müsste doch in die ­Schule. Schon vor einem Jahr hat die Fürsorgerin H. F.-B. vom Gesundheitsamt, Abteilung Pflegkinderwesen ihre Bedenken angemeldet:

Ist es richtig, dass das Kind nun heim kommt, wo seine 20-jährige Schwester, die zwei Kinder hat und auch schon vor Jugendgericht war, den Haushalt führen wird?

So dauert es denn nicht lange, bis die Vormundschaftsbehörde, Abteilung Jugendamt, in der Person von Fräulein Wiedmer vor der Tür steht. Kräftige Statur, das graue Haar am Hinterkopf zur Rolle eingeschlagen, randlose Brille, harter Mund, machtbewusst. Sie kennt die Familie Richener seit geraumer Zeit, Kategorie «asozial». Die Eltern wurden mehrmals beim Jugendamt wegen Vernachlässigung der Kinder angezeigt. Nach und nach hat Fräulein Wiedmer fast alle Richenerkinder für kürzere oder längere Zeit in Kinderheimen versorgt. Aus diesem Grund hat Paul nur bruchstückhafte Erinnerungen an die Jugendzeit seiner Geschwister.

Zwischenspiel

Und nun also auch Paul? Hat Fräulein Wiedmer versucht, ihn im Kinderheim in Hemberg zu platzieren, in dem Theo schon seit zwei oder drei Jahren untergebracht ist? Akten gibt es nicht darüber, aber eine Erinnerung. Eine lange Fahrt im Zug, dann im gelben Postauto, Päuli allein mit der Mutter. In Hemberg steigen sie aus. Die Mamma nimmt ihn an der Hand, und zusammen betreten sie unter Türgebimmel den kleinen Konsumladen, in dem sich die Gerüche so merkwürdig vermischen, Äpfel, Dauerwurst, Seife und vieles mehr. Die Mutter kauft Päulis Lieblingsgutzi, längliche, flache, braune Waffeln mit Schokofüllung, im Waffelmuster ist der Schriftzug «Wernli» eingeprägt. Sie sind köstlich knusprig zum Abbeissen und angenehm süss auf der Zunge. Ein ganzes Pack für Päuli allein. Noch nie – und nie wieder – hat die Mutter das gemacht.

Dann besuchen sie Theo im Kinderheim. Paul muss im Heim bleiben, die Waffeln sollten ihn wohl über den Abschied hinwegtrösten. Wie lange bleibt er dort? Ein paar Wochen? Monate? Vom Jahreswechsel, vermutlich 1956/57, hat sich eine Erinnerung gehalten: Theo, knapp zehnjährig, darf am Silvester mit dem Seil die Glocke läuten und Päuli ist dabei, voller Bewunderung für den grossen Bruder.

Für Theo ist das Heim ein schlimmer Ort. Und die Mutter besucht ihn in all den Jahren, die er dort verbringt, nur zweimal, das eine Mal, als sie den Päuli hinbringt.

Vom Regen in die Traufe

Warum er schon bald wieder nach Basel, genauer: nach Riehen, kommt, ist nicht bekannt. Fräulein K., die Für­sor­gerin vom Pflegkinderwesen, ist verärgert über die mangelhaften Informationen von Fräulein Wiedmer. Der erste Bericht über den Pflegplatz bei Familie Blaser* klingt gedämpft zufriedenstellend:

18.6.1957

Frl. Wiedmer, Jugendamt, meldete uns das Pflege­ver­hält­nis verspätet an. Päuli befindet sich seit einigen Monaten in Familie B. (…) Bei meinem Besuch treffe ich leider den Knaben nicht an, doch habe ich einen recht guten Eindruck von der Pflegemutter. Frau B. hat es nicht leicht mit Päuli, denn er wurde durch das Hin und Her in seinem Leben ziemlich verwahrlost. Anfangs hat er Geld stibiezt, doch jetzt bekommt er ein kleines Taschengeld und lernt mit diesem haushalten. Päuli sei auch ein Nimmersatt im Essen. Solange noch etwas auf der Platte ist, meint er, er müsse es in sich hineinstopfen. Auf Wurst und Fleisch ist er besonders scharf.

Nun, die Pflegeeltern scheinen geduldig und wohlwollend zu sein und verlangen von Päuli vorläufig nichts Unmögliches.

Die zweigeschossigen Reihenhäuschen in der Habermat­te in Riehen sind schmal, die Zimmer klein. Im Erdgeschoss Küche und Wohnzimmer, im ersten Stock die Schlafzimmer, das eine für die Eltern, das andere für die beiden grossen Mädchen und das dritte, kleinste für den Jüngsten, den etwa 15-jährigen Willy*.

Der Ort im Hause Blaser, den Paul am besten kennt, ist der Estrich. Man muss durch Willys Zimmer hindurchgehen und gelangt durch eine zweite Tür und über eine enge, steile Treppe unters Dach. Paul muss den Kopf einziehen, damit er nicht an die Dachbalken stösst. Nur unter dem Firstbalken kann der Achtjährige aufrecht stehen. Fräulein K. hat es versäumt, bei ihrem Besuch an der Habermatte Pauls Bett zu inspizieren. «Bett» ist beschönigend, eine alte Wolldecke als Unterlage, ein paar lumpige Decken darüber müssen genügen. Hunde haben es besser.

Allerlei Gerümpel steht herum, eine alte Kommode, ein Schaukelpferd, eine kaputte Ständerlampe, leere Kartonschachteln, ein alter Koffer. Es gibt nur ein Dachfensterchen, durch das man ein viereckiges Stück Himmel sieht, getrübt von altem Schmutz und Staub. Im Sommer ist es drückend heiss und im Winter bitterkalt. Wenn Schnee auf dem Dach liegt, glitzert drinnen der Frost an den Ziegeln. Bei Tauwetter und bei Regen tropft es da und dort, es ist schwierig, einen trockenen Schlafplatz zu finden.

Meistens steht Willy vor Paul auf, er geht schon in die Lehre. Aber am Sonntagmorgen, wenn Paul das Zimmer durchqueren will, liegt der Grosse noch im Bett – in ei­nem richtigen, warmen Bett! – und macht sich einen Spass daraus, den Kleinen zu sich hineinzuziehen. Paul lässt sich sogar das Kitzeln und Betatschen gefallen, so wohlig fühlt sich Bettwärme an. Es kommt ihm nicht im Traum in den Sinn, sich über Willy zu beklagen. Er würde ja doch nur als Lügner hingestellt, er ist gewohnt, dass man ihm nicht glaubt.

Vater Blaser ist streng, sehr streng, jedenfalls mit Paul. Genau das Richtige, wird Fräulein K. wohl gedacht haben, und dass Paul eine starke Hand braucht. Die grossen Blaserkinder nicht? Mit Paul redet er in harschem Befehlston. Besonders an den Samstagnachmittagen, dann braucht er einen Laufburschen. Blaser verkauft im Materialschuppen der Schrebergärten an der Äusseren Baselstrasse Samen, Dünger, Schneckengift und die grossen, unförmigen Torfballen. Letztere muss Paul auf den Leiterwagen laden und den Käufern in ihren Hobbygarten bringen. Aber dalli!

Weggesperrt …

Auf hunderterlei Weisen sagen ihm die Blasers: Du gehörst nicht zu uns. Am Morgen vor der Schule hockt er in der Küche, kaut ein trockenes Stück Brot und schaut zu, wie sich die grosse Pflegschwester genüsslich Kon­fitüre aufs Butterbrot schmiert und im Abreisskalender den Tagesspruch liest. Das Schlimmste ist, wenn sie am Sonntagnachmittag ohne ihn wegfahren. Dann sperren sie ihn zu Hause in den Estrich. Weil er stören würde beim Verwandtenbesuch? Damit er nichts Dummes macht im Haus? Als Strafe für irgendetwas?

Dann liegt er auf seinen Lumpen und schluchzt, dass ihm fast die Luft wegbleibt, immer in der vergeblichen Hoffnung, dass ihn jemand hört. Er weint und weint, bis er keine Tränen mehr hat, dann lauscht er auf die Geräusche von draussen, auf die spielenden Kinder, die vor­beifahrenden Autos. Sehen kann er nichts, das Dachfens­terchen gibt nur den Blick nach oben frei, man kann den Kopf nicht hinausstrecken, selbst wenn man es öffnet. Er legt sich wieder hin und starrt ins Gebälk und denkt nach, Stunde um Stunde, ganze öde Sonntagnachmit­tage lang. Er kennt jedes Astloch in den Dachsparren, jeden Nagel, jeden Ziegel, jede Stelle, wo einer verrutscht ist und das Sonnenlicht hereinfällt. Oder der Regen.

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