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4.Theologische Anthropologie

Bereits an diesem Punkt zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit der theologischen Anthropologie sich der Theologengeneration der 60er Jahre von verschiedenen Seiten her nahe legt. Die Anliegen der Neopatristischen Synthese, eine an den existentiellen Fragen des modernen Menschen ausgerichtete Theologie zu formulieren, fordern zur Reflexion über das Menschenbild ebenso heraus wie die Unzufriedenheit mit den Engführungen einer »verwestlichten« und »rationalistischen« Theologie und mit einer auf ethische Fragen fixierten Spiritualität. Die in der Folge innerhalb der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhunderts diskutierten Themen stehen in engem Zusammenhang mit anthropologischen Fragen. Die philosophischen Strömungen ihrer Zeit, vor allem der Existentialismus heideggerscher und französischer Prägung, sowie der Marxismus konfrontieren mit einem anders gearteten Menschenbild und fordern dazu heraus, demgegenüber in Abgrenzung und Übereinstimmung das christliche Menschenbild zu profilieren.

Die Arbeit an den Texten der Kirchenväter des 4. Jahrhunderts gibt einen weiteren und wohl den entscheidenden inhaltlichen Impuls, sich anthropologischen Fragestellungen zu widmen. Insbesondere durch die Beschäftigung mit der Theologie der Großen Kappadozier rückt der Personbegriff neu ins Blickfeld. Er bildet, wie noch zu zeigen ist, die Mitte der theologischen Arbeit von Panagiotis Nellas, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas und fordert dazu heraus, von ihm her auf die anderen loci theologici zu schauen, den Personbegriff gewissermaßen in alle anderen Bereiche der Theologie »durchzubuchstabieren«, wie umgekehrt eine erneuertes Verständnis dieser loci, die Reflexion ihrer anthropologischen Prämissen erfordert.

105Vgl.: Georges Florovsky: Collected Works, Belmont/Mass. 1972-1979. Zum Werk Florovskys s. auch G. Williams: Georges Vasilievich Florovsky: His American Career (1948-1965), GOTR 11 (1965), 7-107. Eine umfassende deutschsprachige Darstellung der Theologie Florovskys bietet Künkel, a.a.O..

106Florovsky, Westliche Einflüsse in der russischen Theologie, in: Procès verbaux du Premier Congrès de Théologie Orthodoxe à Athènes. 29 novembre – 6 décembre 1936. Publiés par les soins du Président Hamilcar Alivisatos, Athen 1936, 212-231, 218. Vgl. auch: »Patristic texts are kept and repeated. Patristic mind is too often completely lost or forgotten.” (Florovsky. Patristics and Modern theology, in: Procès verbaux du Premier Congrès de Théologie Orthodoxe à Athènes. 29 novembre – 6 décembre 1936. Publiés par les soins du Président Hamilcar Alivisatos., Athen 1936, 238-242, 239); »Am gefährlichsten war es hierbei, dass seither die theologische Problematik ihre Lebensnähe verlor und die Lehre Gottes bald als Schulgezänk enger Fachleute erschien.« (Westliche Einflüsse, 230).

107»Eine westliche Kultur, ja eine westliche Theologie wird aufgebaut. Eine Schultheologie freilich, die keinen Untergrund hatte: Auf fremdem Boden entstanden und gewachsen wurde sie jetzt gleichsam Überbau über einer leeren Stelle; statt natürlicher Fundamente, ruht sie lediglich auf Pfählen. Eine Theologie auf Pfählen, - das ist das Resultat des theologischen Westlertums im russi-schen 18. Jahrhundert.«, Florovsky, Westliche Einflüsse, 221 (Hervor-hebungen Florovsky.)

108Florovsky, Westliche Einflüsse, 229f. Florovsky übernimmt diesen Begriff, der ursprünglich der Geologie entstammt, von Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«. Zum Begriff und zum Geschichtsverständnis, das sich daran zeigt, vgl. Künkel, 265. Vgl.: Felmy: Einführung, 7 38: »Man kann darüber streiten, ob der Begriff glücklich gewählt ist oder nicht, die mit ihm bezeichnete Sache ist jedoch von vielen Theologen, besonders von Georgij Florovskij selbst, klar erkannt worden.«

109Patristics and Modern theology, in: Procès-verbaux, 238-242.

110Im Folgenden werden die Grundlinien einer neopatristischen Synthese nach Georges Florovsky referiert. Auf das je eigene Profil, das sie bei Nellas, Yannaras und Zizioulas bekommen, wird bei der Untersuchung des jeweiligen Theologen im zweiten Teil dieser Arbeit eingegangen.

111G. Florovsky, Art. Theologie, IV. Orth. Theologie, in: RGG3 Bd. VI. (1963), 779-782, 781, Hervorhebung DG.

112Westliche Einflüsse, 231, Hervorhebungen Florovsky.

113Ebd.

114Künkel, 267. Wie sich diese Forderung aus dem Geschichtsverständnis, der Christologie und der Ekklesiologie Florovskys herleitet, hat ausführlich Christoph Künkel untersucht. Vgl. insbes. Künkel, 261-276. Florovsky ist wiederholt »Historismus« vorgeworfen worden. Speziell auf Florovskys Geschichtsverständnis kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Die Problematik, die sich auch bei Nellas, Yannaras und Zizioulas zeigt, wird später an entsprechender Stelle noch näher untersucht.

115Florovsky, Patristics and Modern Theology, 238.

116»'Moderne Philosophie' muss zuerst vom katholischen Selbstverständnis der Kirche her geprüft werden.«, Patristics and Modern Theology, 241.

117Florovsky, Westliche Einflüsse, 231, Hervorhebungen Florovsky.

118Patristics and Modern Theology, 238.

119Ortodossia, 7.

120Felmy: Einführung, 12. Als ein weiteres Beispiel nennt Felmy die dreibändige Moraltheologie des rumänischen Theologen D. Staniloae, die ebenfalls als »wichtigste patristische Zeugen« Theologen anführt, »die der Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis nachgesonnen haben, und nicht 'Moraltheologen' im eigentlichen Sinne« Vgl. Vl. Lossky, Théologie mystique de l’Église d’Orient, Paris 1944, dt. Übersetzung: Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche. Übers. von Mirjam Prager OSB, Graz - Wien -Köln 1961 (= GLOK; 1); D. Staniloae, Teologia morala ortodoxa pentru instituele teologice, Bd. III: Spiritualitatea ortodoxa, Bukarest 1981 (Die orthodoxe Moraltheologie für die theologischen Institute, Bd. III, Die orthodoxe Spiritualität).

121Viele Arbeiten tragen Titel in der Form »Orthodoxie und …« Ein charakteristisches Beispiel für die Arbeiten, die in dieser Zeit geschrieben wurden ist die Dissertation von Nikos Nissiotis: Sören Kierkegaard Karl Jaspers, Martin Heidegger Jean-Paul Sartre (»Existentialismus und christlicher Glaube bei Sören Kierkegaard und den zeitgenössischen Existenzphilosophen Karl Jaspers, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre«), Athen 1956.

122Vgl. die Einführungen in den einschlägigen Handbüchern und Überblickswerken. Eine kurze Zusammenfassung findet sich z.B. bei M. Begzos: Der Apophatismus in der ostkirchlichen Theologie. Die kritische Funktion einer traditionellen Theorie, in: . . , (Wissenschaftliche Gesellschaft der Theologischen Fakultät Athen: Festgabe für Markos Ant. Siotis«), hrsg. von A: Yannoulatos, (= Wissenschaftliche Gesellschaft der Theologischen Fakultät; 26), Athen 1986, 179-216, 216. sowie in vielen anderen seiner Veröffentlichungen.

123Diesen Vorwurf Losskys hat ausführlich J. Freitag untersucht: Geist-Vergessen – Geist-Erinnern, a.a.O..

124Ortodossia, 8.

125Vgl. z.B. I. Zizioulas: Christologie, Pneumatologie und kirchliche Institutionen in orthodoxer Sicht, in: Kirche im Wandel. Eine kritische Zwischenbilanz nach dem Zweiten Vatikanum, hrsg. von G. Alberigo, Y. Congar, H. J. Pottmeyer, Düsseldorf 1982, 124-140; Ders.: Die pneumatologische Dimension der Kirche, IKaZ 2 (1973), 133-147.

126Ortodossia, 8: »Questo tema ha acquisito una tale importanza nel lavoro teologico del nostro tempo da poter essere chiamato 'il' tema teologico del nostro secolo.” Dies gilt nicht nur für den Bereich orthodoxer Theologie. Im Westen ist hier z. B. an Otto Dibelius (1880-1967) oder an Romano Guardini (1885-1968) (»Die Kirche erwacht in den Seelen«) zu denken; vgl. R. Guardini: Vom Sinn der Kirche, Mainz 1922.

127»sobor« ist die altslavische Übersetzung des griechischen . Verwendet wird der Begriff der Sobornost vor allem im Blick auf das Verhältnis von Lokal- und Universalkirche. Vgl. hierzu G. Florovsky: Sobornost. Kirche, Bibel, Tradition. Werksausgabe Band 1, München 1989, bes. 41-86. S. auch die einschlägigen Passagen bei Zizioulas, Ortodossia, 8.

128Vgl. zur eucharistischen Ekklesiologie (außer den einschlägigen Schriften von Ioannis Zizioulas) auch P. Plank, Art. Eucharistische Ekklesiologie II. Ostkirchlich, LThK3 III (1995), 971-972; Ders.: Die Eucharistieversammlung als Kirche. Zur Entstehung und Entfaltung der eucharistischen Ekklesiologie Nikolaj Afanas'evs (1893-1966), Würzburg: Augustinus-Verlag 1980 (= Das östliche Christentum: N.F.; 31), eher zu westlichen Ansätzen einer Eucharistischen Ekklesiologie: A. Thaler: Gemeinde und Eucharistie. Grundlegung einer eucharistischen Ekklesiologie, Fribourg 1988 (= PTD; 2), 286-299, der den Ansatz Afanas'evs darstellt, auf Zizioulas aber nur am Rande Bezug nimmt; J. Freitag, Art. Eucharistische Ekklesiologie I. Systematisch-theologisch, LThK3 III (1995); Ders.: Vorrang der Universalkirche?, ÖR 44 (1995), 74-82.

 

129G. Baillargeon: Perspectives orthodoxes sur l'Église - Communion. L'oeuvre de Jean Zizioulas, Montréal 1989, 61: »L’eucharistie se trouve non seulement au point de départ de la pensée de Jean Zizioulas, mais encore apparaît-elle comme le cœur de celle-ci.«

130Vgl. zur orthodoxen apophatischen Theologie V. Lossky, Die mystische Theologie, a.a.O.; Felmy: Einführung, 1-39.

131Weder die Energienlehre an sich noch die Thesen Losskys sind Thema dieser Arbeit. Einen Überblick bietet M. Begzos, Apophatismus, a.a.O.. Vgl. hierzu neben den bereits genannten Titeln auch J. Hochstaffl: Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffs, München 1976; R. Roques: Art. Dionysios Areopagita, RAC Bd. III, (1957), 1075-1121; D. Wendebourg: Geist oder Energie. Zur Frage der innergöttlichen Verankerung des christlichen Lebens in der byzantinischen Theologie, München 1980 (= MMHST; 4).

132N. Nissiotis: : To (»Prolegomena einer theologischen Erkenntnislehre: Die Unfassbarkeit Gottes und die Möglichkeit der Gotteserkenntnis«), Athen 1965, bes. 17-39.93-107. Nikos Nissiotis gehört der gleichen Theologengeneration der 60er Jahre in Griechenland an. Einen leichten und guten Zugang zu Person und Werk von Nikos Nissiotis einschließlich einer Bibliographie bietet die Einführung seines Schülers Marios Begzos mit dem (den Ansatz Nissiotis' gut treffenden, aber ins Deutsche unübersetzbaren) Titel: . . (»'Logos als Dia-logos'. Eine Personenbeschreibung des Nikos Nissiotis«) Thessaloniki 1991.

ZWEITER TEIL
Drei Entwürfe griechisch-orthodoxer theologischer Anthropologie


Erstes Kapitel
Panagiotis Nellas: Der Mensch als Ikone Christi
I.Autor und Werk
1.Biographisches

Panagiotis Nellas wurde 1936 in Makrakomi in Lamia geboren.133 Sein Vater Athanasios stirbt, als Panagiotis gerade einmal zehn Jahre alt ist. Seine Mutter übernimmt die Erziehung. Zu ihr hat er zeit seines Lebens eine sehr enge Beziehung. Durch ihre Persönlichkeit und ihre Frömmigkeit wird er und später auch sein Freundeskreis sehr stark geprägt.134 1948 zieht die Familie nach Athen.

Dort studiert Nellas nach Abschluss seiner Schulzeit von 1954 bis 1959 an der Athener Universität Theologie. Während seiner Studienzeit kommt er in Kontakt mit der Zoi-Bewegung. Er wird Mitglied der Bruderschaft; wie eine Reihe anderer junger Theologen trennt er sich aber 1960 wieder von ihr. Nellas gehörte zum Kreis um Dimitris Koutroubis, der ihn stark beeinflusst hat.135 Diese Prägung spiegelt sich deutlich in den gemeinsamen Grundanliegen, in der späteren Hinwendung zu den russischen Exiltheologen und in der Rezeption westlicher Theologen wie Jean Daniélou, Teilhard de Chardin und anderen.

Nach Abschluss seines Studiums leistet Panagiotis Nellas seinen Wehrdienst (1959-1960). Anschließend tritt er eine Stelle in der Jugendabteilung der Apostoliki Diakonia ( - des »Apostolischen Dienstes«), des offiziellen katechetischen Instituts der griechischen Kirche136, an, die er bis 1960 innehat. Er arbeitet als Prediger und Katechet in verschiedenen Athener Pfarrgemeinden und beschäftigt sich in dieser Funktion theoretisch wie praktisch mit katechetischen Fragen. Der Bereich der Katechese und Pädagogik bleibt sein Leben lang ein wichtiges Anliegen und Tätigkeitsfeld.

In die gleiche Zeit fällt der Beginn von Nellas' Auseinandersetzung mit dem Mönchtum. Nellas verbringt sechs Monate auf dem Berg Athos und drei Monate im Katharinenkloster auf dem Sinai. Auch später ist er häufig zu Gast in Klöstern, insbesondere im Kloster Stavronikita auf dem Athos, zu dem er intensive Kontakte pflegt.137 Große Teile seiner wissenschaftlichen Arbeiten entstehen in der Bibliothek von Stavronikita. Enge Freundschaften pflegt er mit Basilios Gontikakis, dem späteren Abt des Ivironklosters, mit Chatziemmanouil und Kapsanis. Trotz dieser engen Kontakte und seiner intensiven theologischen Beschäftigung138 mit dem monastischen Leben lebt Nellas selbst jedoch als unverheirateter Laie in der Welt.

In den Jahren 1960-1964 setzt Nellas seine theologischen Studien im Ausland fort. Stipendien der römisch-katholischen Kirche ermöglichen ihm Studienaufenthalte in Lille und Paris. In Paris kommt Nellas in engen Kontakt mit den russischen Theologen der Diaspora am Institut St. Serge und ebenso auch mit den dort in dieser Zeit tätigen katholischen Theologen. Die Patrologie wird Schwerpunkt seiner Studien. Hier wird Jean Daniélou sein Lehrer. Panagiotis Nellas lernt die Theologen der Neopatristischen Synthese kennen und übernimmt ihre Anliegen und Methoden. Zugleich beschäftigt er sich intensiv mit römisch-katholischer und protestantischer Theologie und auch mit der geistlichen Tradition des Westens. In seinen Werken finden später vor allem die Einflüsse von George Florovsky, John Meyendorff, Vladimir Lossky und Paul Evdokimov sowie von Jean Daniélou und Teilhard de Chardin Niederschlag.

Bereits in der Zeit seiner Auslandsstudien nimmt Nellas an verschiedenen nationalen und internationalen Tagungen und Kongressen teil. Themenschwerpunkte sind neben der Patrologie Spiritualität, Pädagogik und der Ökumenische Dialog. 1966 bis 1967 hält sich Nellas noch einmal mit einem Stipendium der katholischen Kirche zu mariologischen Studien in Rom auf.

Von der Theologischen Fakultät Athen wird Panagiotis Nellas 1975 mit seiner Arbeit » . « (»Die Rechtfertigungslehre des Nikolaos Kabasilas. – Ein Beitrag zur orthodoxen Soteriologie«) zum Doktor der Theologie promoviert.139 Diese Arbeit erfuhr große Aufmerksamkeit in der griechischen Theologie, wurde mehrfach neu aufgelegt und in verschiedene Sprachen übersetzt. Von 1968 an bis zu seinem Tod arbeitet Panagiotis Nellas als Gymnasiallehrer am »«, einer renommierten Athener Privatschule. Diese Aufgabe füllt er mit großem Engagement und sehr viel Freude und Liebe zu seinen Schülerinnen und Schülern aus.140 Neben der Lehrtätigkeit setzt Nellas seine wissenschaftlichen Arbeiten als Autor und als Herausgeber fort. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitet er in Thessaloniki am Institut für Patristische Studien des Ökumenischen Patriarchats () und für die Zeitschrift (Klironomia – »Erbe«). Weiterhin ist er in Politik und Gesellschaft engagiert.

Ebenfalls 1968 begründet Panagiotis Nellas die Reihe » (»Zu den Quellen«), die in ihrer Konzeption in etwa der deutschen Reihe »Ad Fontes« oder den französischen »Sources Chrétiennes« entspricht.141 Jeder Band bietet eine zweisprachige Ausgabe von Vätertexten (Original und neugriechische Übersetzung), dazu eine Einleitung und einen kurzen Kommentar. Als erster Band dieser Reihe erscheinen drei Marienpredigten des Nikolaos Kabasilas (» – »Die Gottesmutter«), die Nellas selbst bearbeitet hat.142

Von 1968 an organisiert Nellas privat, unabhängig von der Universität, Seminare für Studierende. Als offenes Diskussionsforum zu theologischen und gesellschaftlichen Fragen finden sie sehr großen Zuspruch. Obwohl Panagiotis Nellas nie einen Lehrstuhl an einer Universität innehatte, bildet sich um ihn ein Schülerkreis. Zu diesem Kreis gehören neben Theologen auch Vertreter anderer Fachrichtungen. Sie eint das Anliegen der Suche nach einer zeitgemäßen Form, als orthodoxer Christ zu leben und die Gesellschaft mitzugestalten.

1971 arbeitet Panagiotis Nellas an dem Band » (Zeugnis der Orthodoxie«) mit, zu dem er mit seiner Studie »Orthodoxie und Politik – Drei biblische Voraussetzungen« einen viel beachteten Beitrag leistet143. Innerkirchlich arbeitet er im Büro zur Vorbereitung des Großen Orthodoxen Konzils mit.144 Er engagiert sich in internationalen orthodoxen Gremien und besucht in dieser Funktion viele internationale Kongresse und Symposien. Im Rahmen seines ökumenischen Engagements nimmt er 1975 an der 5. Generalversammlung des Weltkirchenrats in Nairobi teil. Für seine vielfältigen Verdienste wird er 1973 vom Ökumenischen Patriarchat eingeladen und von Patriarch Dimitrios mit dem Goldenen Kreuz des Berges Athos ausgezeichnet. 1979 erscheint sein theologisch-anthropologisches Hauptwerk » « das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.145 1982 setzt Nellas schließlich eine lange gereifte und lang vorbereitete Idee in die Tat um. Im Januar erscheint der erste Band der von ihm selbst begründeten Zeitschrift »Synaxi«, deren Herausgeber er bis zu seinem Tod bleibt.

Am 6. April 1986 wird Panagiotis Nellas durch plötzliches Herzversagen mitten aus seinen vielfältigen Tätigkeiten und Plänen gerissen. Die zahlreichen und sehr unterschiedlichen Nachrufe, die nach seinem Tod erschienen, zeichnen das Bild eines Menschen, der nicht nur durch seine Arbeit als Theologe und Pädagoge, sondern auch durch seine Persönlichkeit die Menschen seiner Umgebung nachhaltig geprägt hat.

2.Schwerpunkte und zentrale Anliegen

Im Blick auf Leben und Wirken von Panagiotis Nellas fällt zuerst das Nebeneinander und Ineinander von wissenschaftlicher und praktischer Tätigkeit auf. Die Verbindung von Theorie und Praxis ist zugleich ein Charakteristikum seiner Theologie.

Wie viele Theologen seiner Generation weiß sich Nellas der Neopatristischen Synthese verpflichtet, wie sie von den russischen Theologen in der französischen Diaspora entwickelt wurde. Das Anliegen, die Aktualität der Texte der Kirchenväter für die Menschen seiner Zeit aufzuzeigen, spiegelt sich in seinen philologischen Arbeiten. Seine Herausgebertätigkeit in der Reihe , seine Mitarbeit im Institut für patristische Studien in Thessaloniki, sein Hauptwerk » sowie viele kleinere Studien stehen für dieses philologische Interesse.

 

Der größte Teil der Arbeiten von Panagiotis Nellas ist Nikolaos Kabasilas, einem byzantinischen Theologen des 14. Jahrhunderts gewidmet.146 Neben Schriften, die sich explizit mit seinen Werken beschäftigen, sind es auch deren Themen – insbesondere Rechtfertigung und Erlösung oder auch die Mariologie, die sich in anderen systematischen Arbeiten von Nellas wiederfinden lassen. Als Grundlinie durch alle Schriften von Nikolaos Kabasilas zieht sich seine »christozentrische Anthropologie«. »Für mich ist Kabasilas mein geistlicher Vater«, sagt Nellas von sich und bringt damit zum Ausdruck, dass der Einfluss von Kabasilas sich längst nicht nur auf seine wissenschaftliche Arbeit beschränkt.147 Wie für Kabasilas ist auch für Nellas eine christozentrische Anthropologie das Grundthema der Theologie. Zugleich bildet sie die inhaltliche Grundlage seiner Interessensgebiete. Viele Veröffentlichungen von Panagiotis Nellas sind spirituellen Themen und pädagogischen Fragen gewidmet. Daneben hat sich Nellas auch immer wieder zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen geäußert.

Im Gefolge George Florovskys sieht sich Nellas in seinem Bemühen um eine Aktualisierung der Kirchenväter eng an die Tradition der Kirche gebunden. Diese Kirchlichkeit spiegelt sich nicht nur in Nellas' Engagement in ekklesiologischen Fragen und im ökumenischen Dialog. Sie zeigt sich auch daran, dass er nie einen »eigenen Ansatz« oder gar eine »eigene Theologie« entwickeln wollte. Sein Anliegen war es, die Tradition der Kirche, wie sie über die Jahrhunderte hinweg überliefert ist, ortho-dox in eine dem heutigen Menschen verständliche Sprache zu übersetzen. So erzählt der Archimandrit Vasilios von Stavronikita, Nellas habe alle seine Texte vor der Veröffentlichung zuerst anderen vorgelegt, eben weil er die Lehre der Kirche und nicht seine eigenen Ideen vorlegen wollte.148 Er wollte nicht »zurück in die Tradition« gehen, »sondern nach vorn mit der Tradition«149 und aus ihr heraus aktiv gestaltend in der Gesellschaft tätig werden. Dieses Anliegen zeigt sich in den Beiträgen von Panagiotis Nellas zur Politik ebenso wie in seinem Interesse an Kunst und Kultur. Aus der gleichen Motivation heraus ist es ihm ein wichtiges Anliegen, sich an alle Menschen, nicht nur an ein spezialisiertes Fachpublikum zu wenden.150

Nellas' Anliegen wird am deutlichsten in dem Projekt, mit dem er über seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten hinaus bis heute die weitreichendste und nachhaltigste Wirkung erzielt hat: der Zeitschrift »Synaxi«. Bereits ihr Name ist Programm: »Versammlung«. Sie soll ein Ort der Begegnung sein, der Synthese zwischen Theorie und Praxis. Sie versucht Theologie und moderne griechische Kultur, Kirche und Welt, Theologie und Wissenschaft miteinander zu verbinden. Hierzu will sie unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen miteinander ins Gespräch bringen und die theologische Diskussion Griechenlands über enge Landes- und Konfessionsgrenzen hinaus öffnen.151

Als Themenschwerpunkte der wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit von Panagiotis Nellas und als Kontext, in dem seine theologische Anthropologie entsteht, lassen sich somit folgende Spannungsbögen festhalten: Vätertexte und Gegenwart, Theologie und Spiritualität, Kirche und moderne Gesellschaft, wissenschaftliche Theologie und Verkündigung, orthodoxe geistliche Tradition und Ökumene.

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