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III.Die Zoi-Bewegung
1.Geschichte

Von weitreichender Bedeutung für die Veränderungen in der griechischen Theologie und Kirche des 20. Jahrhunderts war die Zoi-Bewegung. Panagiotis Bratsiotis bezeichnet sie im Jahr 1960 als »die wichtigste religiöse Bewegung in der Autokephalen Kirche Griechenlands – und vielleicht der Orthodoxen Kirche überhaupt«63. Obwohl ihre Mitglieder kaum direkt in der universitären Theologie in Erscheinung treten und »trotz ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem akademischen Leben hat … [sie] in einem allgemeineren Sinn auf die gesamte theologische Mentalität und das Leben in Griechenland einen tiefen Einfluss ausgeübt.«64 Das Spektrum der Einschätzungen dieser umstrittenen Bewegung zeigen die Bezeichnungen, mit denen sie versehen wird. Sie reichen von solch positiven Einschätzungen wie »neugriechische Erneuerungsbewegung« (Maczewski) über ein relativ neutrales »eine neugriechische pietistische Bewegung« bis hin zu »eine Häresie im Bereich der Ekklesiologie« (Yannaras) oder »religiöses Pfadfindertum« (Tsakonas).

Den Kern der »Zoi-Bewegung« bildet die monastische Theologenbruderschaft »Zoi« (»« = Leben), die sich 190765 um Eusebios Matthopoulos zusammenschließt. Diese Bruderschaft ist eine apostolische Gemeinschaft von Laientheologen und Klerikern, die sich den Evangelischen Räten verpflichten und ein Gemeinschaftsleben nach strengen Regeln führen. Zur Bruderschaft treten später Schwesternschaften und eine Fülle von Laiengemeinschaften und –vereinigungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Stände in unterschiedlichem Organisationsgrad hinzu. Sie alle werden unter dem Namen »Zoi-Bewegung« zusammengefasst. Die Bewegung erlebt ihre Blütezeit in den 40er und 50er Jahren. Anfänglich treffen die Aktivitäten der Bewegung auf ein geteiltes Echo, das von Skepsis vor allem in offiziellen Kirchenkreisen bis zur Begeisterung in Theologenkreisen und Teilen der Bevölkerung reicht. Später gewinnt die Zoi zunehmend an Bedeutung und Einfluss in Kirche und Gesellschaft bis in die Leitungsgremien hinein.66

1959 kommt es nach starken Kontroversen innerhalb der Bewegung zu einer Spaltung. Die älteren, eher konservativen Kräfte bilden eine eigene Gemeinschaft unter dem Namen »Sotir« ( = Erlöser), die jüngeren, eher reformfreudigen verbleiben in der »Zoi«. Gründung und Organisation der »Sotir« erfolgen nach den gleichen Prinzipien wie bei der »Zoi«.67 Etwa zu dieser Zeit wenden sich zunehmend junge Theologen von der Bewegung ab, so auch Panagiotis Nellas und Christos Yannaras. Beide waren Mitglieder der Bruderschaft und dort in unterschiedlichem Ausmaß engagiert.

Ab dem Zeitpunkt ihrer Spaltung verliert die »Zoi« sowohl aufgrund ihrer internen Schwierigkeiten als auch aufgrund der immer lauter werdenden Kritik an ihrem Wirken zunehmend an Bedeutung, so dass die heute noch existierenden Reste in ihrer Bedeutung als marginal einzustufen sind und wohl auch weniger in der Form organisierter Mitglieder als in einem Nachleben vereinzelter Spuren der von der Bewegung propagierten Frömmigkeit und ihres Schrifttums zu finden ist.

2.Anliegen und Ziel

In ihrer Satzung aus dem Jahr 1950 gibt die Theologenbruderschaft als ihr Ziel an:

»Das Ziel der Bruderschaft ist einerseits die gegenseitige Hilfe der Mitglieder zu ihrer sittlichen Vervollkommnung in der christusgemäßen Tugend und zu einer besseren Verwirklichung ihres Tuns und andererseits der Dienst am Werke der Ausbreitung der christlichen Grundsätze und Wahrheiten unter dem Volk mit Selbstverleugnung und Selbstaufopferung in der Orthodoxen Kirche im Allgemeinen und im Besonderen in der griechischen Gesellschaft.«68

Bereits in dieser Zielsetzung sind die wichtigsten Charakteristika der Bewegung zusammengefasst: Zentralen Stellenwert haben die Frömmigkeit und sittliche Lebensführung des Einzelnen. Die Mitglieder kennzeichnet ein »eigentümliche[r] Puritanismus und eine Mentalität des Auserwähltseins«.69

»Obwohl das Ziel dieser Gemeinschaften der Schutz und die Förderung der Volksfrömmigkeit war, entwickelten sich bald schon geschlossene, abgesonderte Gruppen, wobei als Mitglieder nur die Guten im Sinne ihrer neu entwickelten Auffassung der Ethik aufgenommen wurden. Vorherrschend war ein heuchlerischer Egoismus und die Tendenz, die anderen als Sünder zu verurteilen.«70

Ihre Sendung sieht die Bruderschaft in der Verkündigung und Inneren Mission. Sie übernimmt dabei Motive, Inhalte und Formen westlicher pietistischer Gruppen. In Griechenland stellt ihr Wirken daher in vielerlei Hinsicht ein absolutes Novum dar. Zugleich verbleibt die »Zoi« jedoch im Rahmen traditioneller orthodoxer Theologie und Frömmigkeit auch in einer eigenartigen Spannung zu diesen Neuerungen.

Straff organisiert betreibt die Zoi-Bewegung eine systematische Evangelisation. Intensive Predigttätigkeit, die Einrichtung zielgruppenspezifischer Angebote und Vereinigungen sowie die Organisation von Bibelkreisen sind dabei wichtige Mittel. Ein Schwerpunkt liegt auf der Jugendarbeit, die vor allem durch die Einführung von Sonntagsschulen und Ferienlagern vorangetrieben wird. Eine besondere Bedeutung erlangt die Zoi-Bewegung schließlich durch die massive Verbreitung geistlichen Schrifttums und Bildmaterials oft westlicher Provenienz in der Form von Büchern und Zeitschriften. Hierzu zählt vor allem ihre deutlich missionarisch und pädagogisch ausgerichtete Zeitschrift »Zoi«, später auch eine Reihe anderer Publikationsorgane und Schriften, die sich an bestimmte Zielgruppen (Eltern, Studierende, Kinder, …) wandten.71 Maczewski fasst zusammen:

»Dogmatisch untadelig und kirchlich erneuernd schien die Zoi … die Wende aus dem hoffnungslosen kirchlichen Verfall Neugriechenlands zu bringen: bestehende Traditionen wurden aus einem missionarischen Geist umgestaltet und neu interpretiert, verlorengegangene Traditionen aus der Alten Kirche und der Urchristenheit wieder aufgenommen und für die Ostkirche neue Traditionen wie gemeinsames Bibelstudium und selbständiges Vereinswesen aus westlichen kirchlichen Traditionen übernommen. Ost und West, Alt und Neu verbanden sich zu einer neuartigen Gestaltung griechischen Gemeindelebens auf dem Boden der überlieferten dogmatischen Tradition. Darin liegt die historische Bedeutung der Zoi.«72

3.Das theologische Profil der Bewegung

Was macht das theologische Profil der Zoi-Bewegung aus? Im Folgenden werden einige grundlegende, theologisch besonders für die Anthropologie relevante Punkte skizziert, die das Bild der Zoi prägen, welches Nellas, Yannaras und Zizioulas vermitteln.73

a)Christologie

Als ein wesentliches Verdienst der Zoi-Bewegung sieht Maczewski die »christozentrische Erneuerung«. »Die Predigt ist durch die Zoi wieder Christus-Predigt geworden. … Christus wird jetzt zum ausschließlichen Inhalt der Predigt, und zwar Christus als der für die Welt Gekreuzigte, Christus als das Sühnopfer für die Sünden der Welt.«74 Dieser Christozentrismus geht zurück auf den Gründer der Bewegung Eusebios Matthopoulos. Er hatte seine wichtigsten theologischen und ethischen Grundthesen in einer Schrift mit dem Titel » » (»Die Bestimmung des Menschen«) systematisiert, die »fortan zur ethischen ‚Magna Charta' für die gesamte religiöse Bewegung avancierte«75 Matthopoulos entwirft dort ein Menschenbild, das die Zoi-Bewegung über lange Zeit prägte und auf das die zentralen Elemente ihrer Lehre und ihres Wirkens zurückgeführt werden können. In Übereinstimmung mit der Tradition liegt für Matthopoulos die Bestimmung des Menschen darin, »Christus gleichgestaltet zu werden«. Bezeichnend ist jedoch, worin der Mensch Christus ähnlich werden soll:

»Wir sagen also, dass er [sc. der Mensch] die Bestimmung hat, … [Christus] gleich zu werden: sich geistig und ethisch Christus anzunähern, d.h. er hat die Bestimmung, sich so weit wie nur möglich innerlich und äußerlich nach Christus zu formen und zu bilden, damit er dessen sittlichen Charakter erlange. …

Er wird ihm gleichgestaltet, wenn er auf Christus als das vollkommene Vorbild der Tugend schaut und dieses sein Vorbild, so weit es ihm nur möglich ist, nachahmt und wenn er in Übereinstimmung mit seinem Wort und seinen Geboten lebt und sich danach verhält. Denn dann wird er, so weit es möglich ist, das Denken, Fühlen und Wollen Christi erlangen und wirken und arbeiten, wie es Christus gemäß ist, dann wird er auch in seinem sittlichen Charakter ihm ähnlich werden, so weit es möglich ist.«76

Christus tritt hier zwar deutlich ins Zentrum der Verkündigung. Der Ruf in die persönliche Christusnachfolge ist ein zentrales Moment der Verkündigung der Zoi-Bewegung. Christus wird jedoch fast ausschließlich im Kontext der Sünde gesehen: als Erlöser durch seinen einseitig als Sühnopfer verstandenen Kreuzestod und als Vorbild tugendhaften Verhaltens für jeden Christen. Seine Bedeutung wird weitgehend auf die einer ethischen Leitfigur reduziert.77. Aus diesem Christusbild leitet sich die starke Betonung der individuellen Frömmigkeit in der Zoi-Bewegung ebenso ab wie die Vorrangstellung einer individualistischen Ethik.

 

b)Umgang mit der Schrift

Während die persönliche Beschäftigung mit der Heiligen Schrift in der Frömmigkeit der meisten orthodoxen Christen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum eine Rolle spielt, gewinnt sie in der Zoi-Bewegung eine große Bedeutung. Insbesondere das Neue Testament wird in neuer Form Mittel und Gegenstand der Verkündigung. Auf vielfältige Weise setzt sich die Zoi für die Verbreitung der Schrift in allen Bevölkerungsgruppen ein: durch die von ihr publizierten Schriften, durch die Herausgabe von Bibeln in neugriechischer Übersetzung, durch die Anregung zu persönlicher Schriftlesung durch Wortgottesdienste, vor allem aber durch die Einrichtung von »Bibelkreisen«78, in denen im Rahmen von Hauskreisen ein regelmäßiges Schriftgespräch geführt wird. Die Zoi kennzeichnet dabei ein biblizistisches, unkritisch wortwörtliches Verständnis der Heiligen Schrift. Zudem ist die Schriftlesung ausschließlich auf die praktische Verwertbarkeit des Gelesenen ausgerichtet. Leitende Frage für die Schriftlesung bei den Schriftgesprächen ist: »Was will mir der Herr heute sagen? – Was soll ich tun?« Die Begegnung mit dem Wort Gottes, dessen Autorität als normativer Katalog ethischer Weisungen unhinterfragt bleibt, soll dem sittlichen Fortschritt des Einzelnen dienen. Die Schrift dient als Sammlung primär moralischer Anweisungen für alle Lebenslagen.

c)Liturgie

Um die aktive Teilnahme an der Liturgie zu fördern, verbreitet die Zoi-Bewegung zweisprachige Textausgaben der Chrysostomus-Liturgie mit neugriechischer Übersetzung und Erläuterungen.79 Nach westlichem Vorbild versucht man durch Veränderungen in der Liturgie die auf »Unkenntnis« zurückgeführten Missstände und den vermeintlichen oder tatsächlichen Mangel an innerer Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst zu überwinden. Der Inhalt der Liturgie bleibt dabei unangetastet, verändert wird lediglich die Gestaltung. So legt man - entgegen der üblichen Praxis vieler orthodoxer Christen - nun Wert darauf, dass die Gläubigen der Liturgie vom Anfang bis zum Ende beiwohnen. Um dies zu erleichtern, wird sie auf die Dauer von etwa einer Stunde verkürzt. Außerdem wird es üblich, dass sich die Gläubigen während des Gottesdienstes setzen. Epistel und Evangelium werden nicht mehr gesungen, sondern der besseren Verständlichkeit wegen verlesen. Zusätzlich werden von Laien geleitete Wortgottesdienste eingeführt. Größere Bedeutung gewinnt auch die Predigt. Der gesamte Gottesdienst wird darauf ausgerichtet »wachgewordenen Christen Hilfe für ihr Leben, Trost für ihr Leid und Weisung für ihr Denken zu geben.«80 Alle diese Maßnahmen zielen darauf, die einzelnen Gläubigen zu einem vertieften Verständnis der Liturgie zu führen. Im Mittelpunkt steht der individuelle Fortschritt der Einzelnen in der Begegnung mit dem Wort Gottes wie durch den Empfang des Sakraments. Die Veränderungen gegenüber der Tradition im Bereich der Liturgie sind daher vor allem von der Sakramententheologie der Zoi-Bewegung her zu verstehen.

d)Sakramente

Die Zoi-Bewegung »rückte die Sakramente der Beichte und des Abendmahls wieder stärker in den Vordergrund. Vor allem das Sakrament der Beichte.«81 Von Anfang an hat der Gründer Eusebios Matthopoulos auf diese beiden Sakramente besonderen Wert gelegt. In der Verkündigung wird zum häufigen Empfang der Eucharistie und des Bußsakramentes aufgefordert. Besonders in der Jugendarbeit wird viel Wert auf die Beichterziehung gelegt, in der wiederum Fragen der Sexualmoral den breitesten Raum einnehmen.

Entscheidend für das Sakramentsverständnis der Zoi-Bewegung und ein Unterschied zur orthodoxen Tradition besteht darin, dass beide Sakramente in enge Verbindung miteinander gebracht werden. Der Empfang des Bußsakramentes gilt als Voraussetzung für den Empfang der Eucharistie. Dabei werden beide Sakramente, so lautet der Vorwurf von Christos Yannaras, einseitig unter individualistischem Blickwinkel als Mittel auf dem Weg zur sittlichen Vervollkommnung des Einzelnen gesehen. Das gleiche Denken lässt sich auch am Verständnis der anderen Sakramente zeigen.82 Obwohl das dogmatische Verständnis der Sakramente gegenüber der patristischen Tradition nicht verändert wird, tritt ihr ekklesiologischer und soteriologischer Gehalt komplett in den Hintergrund.

e)Theologie

Das Verhältnis der Zoi-Bewegung zur wissenschaftlichen Theologie ist zwiespältig. Der Kern der Bewegung ist zunächst eine Theologen-Bruderschaft. Ein abgeschlossenes theologisches Hochschulstudium ist Voraussetzung für die Aufnahme in die Bruderschaft. Aufgrund dieser Tatsache könnte man vermuten, dass die Bewegung ein differenziertes theologisches System für ihr Evangelisierungsprogramm entwickelt oder dass sie als geistliche Bewegung von Theologen auch Akzente in der wissenschaftlichen Theologie setzt. Tatsächlich spielt die Theologie in der Zoi-Bewegung jedoch nur eine sehr untergeordnete Rolle. Abgesehen von Theologen wie Panagiotis Trembelas und Panagiotis Bratsiotis, die als Ausnahmen gelten können, treten kaum Zoi-Mitglieder als universitäre Theologen in Erscheinung. Die wissenschaftliche Theologie erfährt generell in der Bewegung nur eine sehr geringe Wertschätzung. Yannaras wirft ihr sogar »« (Gnosiomachia - »Wissenschaftsfeindlichkeit«) vor.83 »Die Frage des Wissens ist nebensächlich. Von der ganzen Last des theologischen Wissens der Universität ist für uns nur ein Bruchteil von Bedeutung«, heißt es in einem Protokoll der Zoi-Bruderschaft aus dem Jahr 1930.84 Charakteristisch für die Zoi-Bewegung sind denn auch weniger inhaltliche theologische Standpunkte, sondern eher ihr Verhältnis zur und ihr Umgang mit der Theologie. Maczewski beschreibt die Missstände der akademischen Theologie Griechenlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Theologiefeindlichkeit des Mönchtums. Er kommt dabei zu dem Schluss:

»Durch die Zoi wurde die Theologie aus dieser theoretisierenden Existenz herausgeholt und mitten ins neugriechische Leben hineingestellt. Jetzt hatte sie die Exegese für die Predigt, eine Apologie der orthodoxen Lehre gegenüber den nach Griechenland einströmenden heterodoxen Konfessionen, jetzt hatte sie die Ausarbeitung eines Lehrsystems für die Sonntagsschule bereitzustellen. Sie hatte Richtlinien zu schaffen für die Bibelkreisarbeit und den theologischen Rahmen für die Interpretation der Sakramente und der Liturgie zu setzen. Schließlich kam ihr die Erarbeitung einer ausführlichen Ethik zu, die in der Zoi-Bewegung einen zentralen Rang erhielt. … Nicht mehr Philologie und Philosophie, Historie und Dogmatik, sondern Exegese und Homiletik, Methodik und Pädagogik, Ethik und Liturgik wurden ihr [der Theologie] abverlangt«85

Unter diesen drei Aspekten ändert sich also in der Zoi-Bewegung die Rolle der Theologie gegenüber der Tradition: Ihre Isolierung vom Leben der Gläubigen soll überwunden werden, sie steht in einer Dienstfunktion für die Verkündigung, und sie wird auf die praktische Theologie beschränkt.86 Gegenüber dogmatischen Themen legt die Zoi-Bewegung in ihren Veröffentlichungen und Aktivitäten eine sehr große Zurückhaltung an den Tag. Man hält an den traditionellen Formulierungen fest, auch wenn deren Inhalt durch die einseitige Betonung einer individualistischen Ethik erhebliche Engführungen erleidet.

Geradezu paradox mutet es an, dass es in den 60er Jahren gerade die Zoi-Bewegung war, die durch ihre rege Publikationstätigkeit die Schriften der russischen Diaspora-Theologen wie Lossky, Florovsky, Schmemann, Meyendorff u.a. in Griechenland bekannt machte. Sie trug damit selbst maßgeblich zur Verbreitung des Gedankenguts bei, das die Fragwürdigkeit der Zoi-Bewegung erkennen ließ.

f)Kirchenväter

Wie die Liturgie erfuhren auch die Kirchenväter neue Aufmerksamkeit. »Die Kirchenväter wurden wieder gelesen, ihre Gedanken meditiert und weitergegeben. Man lebte wieder mit ihnen«, schreibt Maczewski87. Welcher Art die Wiederentdeckung der Kirchenväter ist, wird jedoch gleich in seinem folgenden Satz deutlich: »In Predigten und Evangelisationsreden haben die Zoi-Brüder und ihre Mitarbeiter ständig die Kirchenväter zitiert und sie als Vorbilder des Glaubens hingestellt.« Es ist somit weniger die Lehre der Kirchenväter, die neue Beachtung erfährt; vielmehr dienen auch die Kirchenväter fast ausschließlich als Vorbilder im Glauben und in der Lebensführung. Schon Maczewski räumt ein, dass »der Verzicht der Zoi auf dogmatische Theologie eine adäquate Entfaltung der Vätertheologie nicht möglich [hat] werden lassen.«88 Nicht ihre Theologie, sondern die Lebensführung der Kirchenväter ist von Interesse, d.h. ihre praktische Verwertbarkeit.

g)Kirche

Die Zoi-Bewegung wendet sich besonders den Laien zu. Ihr Ziel ist es, die Frömmigkeit der Laien zu unterstützen, sie in ihrem sittlichen Lebenswandel zu fördern und sie aufzufordern, zur Missionierung ihrer Mitmenschen beizutragen. In dieser Form stellt die Praxis der Bruderschaft hinsichtlich des Apostolats und der Führungsstellung von Laien innerhalb der Bewegung Form ein absolutes Novum in der Orthodoxie dar. Selbst die Theologenbruderschaft bestand nur zu einem geringen Teil aus Klerikern. Laien wird der Predigtdienst anvertraut. Vor allem aber sind sie die Träger der Evangelisation in ihren verschiedenen Formen. Die starke Betonung der individuellen Frömmigkeit lässt die Bedeutung der Kirche und - in der Übernahme protestantischen Gedankenguts - die des Amtes in den Hintergrund treten. Die Mitglieder der Bewegung zeichnen sich zudem durch ein ausgesprochen elitäres Selbstverständnis aus, das sich von anderen Gruppen in der Kirche deutlich abgrenzt.89

Rechtlich ist die Theologenbruderschaft »Zoi« eine Körperschaft des Privatrechts. Institutionell ist sie somit unabhängig von der offiziellen Kirche. Das Verhältnis zwischen der Bewegung und der Kirche bleibt immer problematisch. Lange Zeit überwiegt das Misstrauen der Kirche gegenüber der Zoi, die man als Konkurrentin betrachtet. Später gewinnt sie zunehmend auch innerhalb der Kirche an Einfluss. Dies geschieht direkt durch Zoi-Mitglieder und auch indirekt, indem die Kirche Methoden und Organisationsformen der »Zoi« zum Beispiel im Bereich der Katechese weitgehend übernimmt.90

Die Zoi-Bewegung ist gekennzeichnet durch eine große Spannung zwischen Kontinuität mit der Tradition und Neuerungen gegenüber der Tradition. Ihr Wirken lässt sich zum einen als Reaktion auf Missstände in der Kirche ihrer Zeit verstehen. Ihr sicherlich in vielem fragwürdiger Reformversuch bedient sich der Formen, die sie im protestantischen Pietismus vorfindet und die sie auf die orthodoxe Situation adaptiert. In dieser Übernahme westlicher Formen führt die Zoi-Bewegung jedoch genau die Entwicklungslinien weiter, die oben für die Geschichte der neuzeitlichen orthodoxen Theologie und Kirche skizziert wurden. Sie überführt diese Entwicklungen in den Bereich der Frömmigkeit. Yannaras sieht darin das schlimmste Beispiel der »Verwestlichung« der Orthodoxie, das in der Zoi-Bewegung gar häretische Dimensionen annehme.91 Das Wirken der Zoi-Bewegung ergänzt das problematische Erbe der griechischen Theologie des 20. Jahrhunderts um eine Form, wie dieses Erbe im Leben der einzelnen Gläubigen Gestalt annimmt. Es ist gekennzeichnet durch eine einseitige Betonung der individuellen Frömmigkeit und eine weitgehende Reduktion des Glaubens auf moralische Fragen.

32Oft erscheint der Begriff als Eigenname mit Majuskel geschrieben auch nur als »Dekaetía - Jahrzehnt«. Zur Bezeichnung, Bedeutung und Abgrenzung dieser Theologengeneration vgl. die differenzierten und kritischen Analysen von Athanasios Papathanasiou (Schüler von Panagiotis Nellas und Schriftleiter der Zeitschrift Synaxi) in Th. Papathanasiou: (Provlimata tis theologias stin Ellada. Dekapente simiomata. – »Probleme der Theologie in Griechenland. Fünfzehn Punkte«), in: Ders.: , (Anestiotita ki parapemptikotita. Kritikes Prosengisis sta theologika dromena. - »Heimatlosigkeit und Verwiesenheit. Kritische Annäherungen an aktuelle Tendenzen in der Theologie«) Athen 1998, 19-48, 22f. Vgl. auch M. Begzos: Die Rezeption der Aufklärung in Griechenland, ThZ 57 (2001), 326-334 und Ders.: Die Religionsphilosophie in Griechenland (1916-1986), NZSTh 35 (1993), 215-229. Aufgrund ihres Lebensalters und in Abgrenzung sowohl von der Generation ihrer Lehrer als auch von der ihrer Schüler wurde sie auch als die »mittlere Generation« der heute in Griechenland tätigen Theologen bezeichnet. S. z.B. Ware, Foreword, 9f.

 

33Vgl. die Formulierungen des Athosmönchs Theoklitos Dionysiatis, der derselben Theologengeneration angehört: »ein Wechsel () in der geistlichen und theologischen Ausrichtung, eine Wende (), oder vielmehr eine Kehrtwende () zu den Quellen unserer orthodoxen Väter.«; Ders.: Vorwort zu Nikodimos Agioritis: , Athen 1974, XI, zitiert nach Papathanasiou, , 23.

34Papathanasiou, , 23f.

35Zur Problematik der Begriffszuweisung vgl. Papathanasiou, , 23. Dort illustriert Papathanasiou die Veränderungen innerhalb der theologischen Landschaft bewusst (»der kundige Leser wird erkennen, dass die Auswahl der Personen gewollt ist«) mit Zitaten dreier völlig unterschiedlicher Theologen, die von manchen undifferenziert unter dem Etikett der »Neoorthodoxen« in einem Atemzug genannt werden, nämlich Christos Yannaras, Theoklitos Dionysiatis und Panagiotis Nellas.

36Vgl. P. Nellas: (»Marxismus und Orthodoxie«), bearb. von P. Makris, Athen 1983, 77. Dort wendet sich Nellas deutlich gegen die Rede von einer »neoorthodoxen Strömung«. Schließlich sei ja nicht die Orthodoxie verändert worden. Eher könne man von einer orthodoxie-freundlichen, »philorthodoxen Strömung« z.B. bei Künstlern und Intellektuellen zu sprechen.

37Papathanasiou, , 23.

38Zum Begriff der Pseudomorphose, den Georges Florovsky geprägt hat, s.u. S. 45 ff..

39S. hierzu ausführlicher unten in den Kapiteln zur Biographie von Nellas, Yannaras und Zizioulas.

40Wie stark diese Ereignisse (und auch die vorausgegangenen, die die drei Theologen nicht mehr selbst miterlebt haben, wie der Balkankrieg und die Kleinasiatische Katastrophe«) das geistige und kulturelle Klima in Griechenland bis in die Gegenwart hinein prägen, zeigt sich deutlich in der neugriechischen Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts. Vgl. P. Tzermias: Die neugriechische Literatur. Homers Erbe als Bürde und Chance, Tübingen 2001. Zur neueren Geschichte Griechenlands vgl. Ders.: Neugriechische Geschichte. Eine Einführung, Tübingen 31999; Ders.: Politik im neuen Hellas: Strukturen, Theorien und Parteien im Wandel, Tübingen 1997. Neben dem Ringen des noch jungen griechischen Staates um seine Identität, der Auseinandersetzung mit Säkularisierungstendenzen etc. gehört zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Themenfeldern dieser Zeit auch die Auseinandersetzungen um die »Diglossie« von Alltagssprache ‚Dhimotiki’ und offizieller Amtssprache ‚Katharevousa’. Diese Debatte wie auch die anderen gesellschaftlichen Entwicklungen in Griechenland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet ausführlich Angelos Giannakopoulos in seiner soziologischen Dissertation über die Theologen-Bruderschaften in Griechenland nach: A. Giannakopoulos: Die Theologen-Bruderschaften in Griechenland. Ihr Wirken und ihre Funktion im Hinblick auf die Modernisierung und Säkularisierung der griechischen Gesellschaft, Frankfurt 1999 (= EHS.Reihe 22, Soziologie; 336), dort auch weiterführende Literatur.

41An der öffentlichen Diskussion dieser gesellschaftlichen Fragen nehmen griechische Theologen sehr aktiv Anteil. Zur Personalausweisdebatte vgl. M. Begzos: »…«, (»Wir gehen nicht mit Polizeigenehmigung in die Kirche…«), Adesmeutos 21.05.2000, 2. Ein weiteres Beispiel ist die Diskussion der staatlichen Eheschließung, die für griechische Bürger erst seit 1982 als gesetzlich gleichberechtigte Möglichkeit neben der kirchlichen besteht.

42G. Florovsky, Puti russkago bogoslovija, Paris 1937, 21981 (engl. Übers.: Ways of Russian Theology, in: Ders.: Collected Works Bd. 5 u.6, Belmont, Mass. 1972-1987). Die Vorträge des Athener Kongresses sind dokumentiert in: Procès-verbaux du Premier Congrès de Théologie Orthodoxe à Athènes. 29 novembre – 6 décembre 1936. Publiés par les soins du Président Hamilcar Alivisatos., Athen 1936. Darin: G. Florovsky: Westliche Einflüsse in der russischen Theologie, 212-231.

43Eröffnungsrede des Kongresses, in: Procés verbaux, 67-79 (dt.), 42-54 (griech.).

44Vgl. K. Felmy: Die orthodoxe Theologie in kritischer Selbstdarstellung, KO 28 (1985), 53-79.

45Damit steht sie in der Gefahr einer einseitigen Darstellung. Ob die hier vorgetragene Deutung im Einzelnen der Sache wirklich gerecht wird und von anderen orthodoxen Theologen geteilt wird, kann hier nicht im Detail überprüft werden. Dies zu untersuchen, liegt nicht in der Intention dieser Arbeit. Die Sichtweise von Nellas. Yannaras und Zizioulas bildet jedoch, auch wenn sie im Einzelfall einseitig oder gar falsch sein sollte, in jedem Fall die Grundlage für ihr theologisches Denken.

46I. Zizioulas: Ortodossia, in: Enciclopedia del Novecento. Bd. 5, hrsg. vom Istituto dell’Enciclopedia italiana, Rom 1980, 1-18, bes. 5-10.

47Diese Sicht, nach der der Fall Konstantinopel den Beginn des Niedergangs markiert, findet sich in den meisten Darstellungen der orthodoxen Theologiegeschichte. Ähnlich in Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Staat A. M. Wittig: Die orthodoxe Kirche in Griechenland. Ihr Beziehung zum Staat gemäß der Theorie und der Entwicklung von 1821-1977, Würzburg 1987 (=ÖC,N.F.; 37), 13: »Die Geschichte des neuen Griechenland muss man eigentlich mit dem Niedergang des Byzantinischen Reiches beginnen.« Diese Darstellung beschränkt sich auf einen kurzen Abriss unter für die theologische Anthropologie relevanten, theologisch-systematischen Gesichtspunkten. Zur geschichtlichen Entwicklung in der Zeit bis zur Gründung des modernen griechischen Staates vgl. G. Podskalsky: Griechische Theologie in der Zeit der Türkenherrschaft (1453-1821): die Orthodoxie im Spannungsfeld der nachreformatorischen Konfessionen des Westens, München 1988; Vgl. auch den, nicht auf Griechenland beschränkten, Beitrag von P. Plank: Die geschichtliche Entwicklung der orthodoxen Kirchen im Südosten und Osten Europas, in: HOK Bd. 1 (1984), 133-208. Einen guten ersten Überblick bietet Th. Bremer: Art. Orthodoxe Kirchen, LThK3 Bd. 7 (1998), 1144- 1148.

48Zizioulas, Ortodossia, 5-6.

49»La teologia ortodossa concentró i suoi sforzi nel dare risposta a questioni già poste dalla problematica occidentale, che era accettata senza discussioni.” Zizioulas, Ortodossia, 6. Das von Zizioulas in diesem Zusammenhang mehrfach angeführte Beispiel ist die Transsubstantiationslehre.

50Zizioulas sieht im Festhalten an der Praxis der Väter, vor allem in der Liturgie, einen Grund dafür, warum es die Ostkirchen u.U. bei der Überwindung scholastischer Engführungen leichter haben als der Westen. Ebd. Dass es keinen Bruch in der geistlichen Erfahrung gegeben habe, hat auch Florovsky immer wieder betont. Vgl. Florovsky, Einflüsse, 221.

51»At this time the East, struggling as it were to relate somehow to the ongoing debate between Roman Catholics and Protestants produced its own 'Confessions', which assumed without any criticism the problematic inherited in the West from medieval Scholasticism, and tried to reply to the Protestant views by using Roman Catholic arguments and vice-versa.«, Presuppositions, 338, Hervorhebung Zizioulas. Vgl. auch I. Zizioulas: Die Eucharistie in der neuzeitlichen orthodoxen Theologie, in: Die Anrufung des Heiligen Geistes im Abendmahl. Viertes theologisches Gespräch zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und der EKD vom 6.-9. Oktober 1975 in der Evangelischen Sozialakademie Friedewald, hrsg. vom Kirchlichen Außenamt der EKD (Studienheft 7), 163-179 = ÖR.B. 31 (1977), 163-179, 166.

52So übernahm Dositheos von Jerusalem z.B. die Eucharistielehre des Thomas von Aquin und des Trienter Konzils ohne Einschränkung. (G. Podskalsky: Art. Dositheos, LThK3 Bd. 3 (1995), 350. Der russische Theologe Petrus Mogilas (1597-1647), Metropolit von Kiew und der Ukraine, verfasste die Confessio Fidei Orthodoxae zur Grundlegung der Eigenständigkeit der Litauischen orthodoxen Kirche. Er wandte sich gegen römische Bestrebungen, die russische Kirche zu integrieren, versuchte dagegen, katholisches Denken in die russischorthodoxe Dogmatik einzubringen, indem er ein »nach gegenreformatorischem Muster geführte[s] Bildungswesen aufbaute«. Vgl.: P. Plank: Art. Mogila, Petr, LThK3 Bd. 7 (1998), 372. Ausführlicheres hierzu bei Podskalsky: Griechische Theologie, 162-180 (Kyrillos Lukaris); 219-229 (Metrophanes); 229-236 (Mogilas); 282-294 (Dositheos), dort auch weitere Literatur.