Einen geliebten Menschen verlieren

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Einen geliebten Menschen verlieren
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DR. DORIS WOLF

Einen geliebten Menschen verlieren

Eine Begleitung durch die Trauer


Mit dem Verlust

und Schmerz leben.

Kraft für die Zeit

der Trauer finden.

PAL Verlagsgesellschaft mbH

Seit 35 Jahren der Verlag für praktisch anwendbare Lebenshilfen erfahrener Psychotherapeuten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, abrufbar im Internet über http://dnb.d-nb.de

© PAL Verlagsgesellschaft, München

www.palverlag.de

ISBN 978-3-923614-48-6 eISBN 978-3-923614-89-9

24. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

Bild Umschlag: © karandaev – fotolia.com

Cover: Karin Etzold

Dr. Doris Wolf arbeitet zusammen mit ihrem Partner und Kollegen Dr. Rolf Merkle seit 35 Jahren als Psychotherapeutin in eigener Praxis. Die Internetseite der Autorin: www.doriswolf.de

Die Ratschläge dieses Buches sind von der Autorin und vom Verlag sorgfältig geprüft. Autorin und Verlag können jedoch keine Garantie geben und schließen jede Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden aus. Dieser Ratgeber ersetzt keine psychotherapeutische Behandlung.

Inhalt

Einleitung

Teil I Was wir über den Tod wissen müssen

1Der Umgang mit dem Tod in verschiedenen Kulturen

2Phasen der Trauerverarbeitung

3Wie Kinder trauern

4Die verschiedenen Formen des Verlustes

5Mythen zum Thema Tod

6Tod und Religion

7Die Macht unserer Gedanken

Teil II Konkrete Strategien der Trauerarbeit

8Die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens: Schock und Verleugnung

9Die Phase der aufbrechenden Gefühle: Depression und Wut, Schuld, Angst, Einsamkeit, körperliche Reaktionen

10Die Phase der Akzeptanz und Neuorientierung

11Neues Lebenskonzept

Schlusswort

Organisationen, bei denen Sie eine Trauerbewältigungsgruppe in Ihrer Nähe erfragen können

Weitere Informationen

Widmung

Ich möchte dieses Buch meiner Mutter widmen. Nie habe ich mich ihr so nahe und verbunden gefühlt wie beim Schreiben dieses Buches. Der Tod meines Vaters brach über unsere kleine Familie herein, als ich zehn Jahre und sie gerade 37 Jahre alt war. Wir waren alle überfordert, mit diesem Schicksalsschlag umzugehen.

Aus meiner kindlichen Hilflosigkeit heraus, aber auch dem berechtigten Wunsch nach einer glücklichen Familie habe ich ihr oftmals unrecht getan und sie verurteilt. Heute verstehe ich ihren Schmerz und wie sie sich gefühlt haben muss in einer Welt, die sich vor ihren Augen aufgelöst hat. Ich möchte ihr an dieser Stelle für all ihr Bemühen und ihren Kampf danken, uns dennoch eine schöne Kindheit zu gestalten, und sie bitten, mir meine Ungeduld und meinen Zorn zu verzeihen.

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir begegnen uns in einem der schwersten Lebensabschnitte Ihres Lebens. Sie haben einen lieben Menschen verloren und sind überwältigt von all dem, was sich in Ihrem Inneren abspielt. Sie fühlen Verzweiflung, Wut, Schuld, Angst und haben eine Vielzahl von körperlichen Beschwerden. Zugegeben, ich hätte Sie lieber auch an einer anderen Stelle in Ihrem Leben getroffen, an der wir gemeinsam hätten lachen können. Doch vielleicht ist diese Stelle jetzt sogar die Stelle, an der Sie mehr Unterstützung brauchen. Vielleicht können wir beide an dieser Erfahrung viel mehr wachsen als an dem gemeinsamen Lachen und der Freude.

Ich weiß, dass ich Ihnen diesen lieben Menschen nicht ersetzen kann. Niemand kann das. Der Tod eines lieben Menschen ist vergleichbar mit einer schweren Operation, der Sie sich unterziehen. Er hinterlässt eine Wunde, die sehr schmerzt und die nur sehr langsam heilen wird. Es wird eine Narbe bleiben, aber Ihr Körper und Ihre Seele können mit ihr leben lernen. Sie können Vertrauen haben, die Wunde wird sich schließen. Sie wird sich schließen, wenn Sie alles dafür tun, dass sie sich schließen kann. Es wird immer eine Narbe bleiben, aber Ihr Körper und Ihre Seele können lernen, mit ihr zu leben.

Ich habe mich entschlossen, ein Buch zum Thema Tod und Trauer zu schreiben, weil ich jeden Tag in meiner Praxis erlebe, wie hilflos wir Menschen bei diesem Thema sind. Der Tod verbindet uns Menschen miteinander, denn jeder von uns wird einmal sterben, aber gleichzeitig trennt er uns auch. Wenn wir einen nahen Angehörigen verlieren, fühlen wir uns meist sehr allein. Keiner kann unseren Schmerz verstehen und nachempfinden. Um uns herum läuft die Welt weiter, als ob nichts geschehen wäre, während für uns die Welt stehen zu bleiben scheint.

Ich selbst wurde schon mehrmals mit dem Tod in unmittelbarer Nähe konfrontiert. Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater an Krebs. Ich erlebte, wie hilflos man sich fühlt, wenn man einen lieben Menschen verliert, und ich erlebte die Hilflosigkeit meiner Mutter, mit ihrer Trauer und der ihrer Kinder umzugehen. Wie dankbar wäre ich gewesen, jemand hätte mir damals beigestanden und mir erklärt, was in einem vorgeht, wenn man trauert. Später verstarb der Schwiegervater sehr plötzlich an einem Herzinfarkt, was in mir erneuten Schmerz und auch nochmals viele Erinnerungen an den Tod meines Vaters wachrief. Schließlich wurde meine Mutter zu Grabe getragen und damit rückt dann der Tod als „nächste Generation“ noch ein wenig näher zu mir heran.

Um Trauer zu empfinden, muss der Tote jedoch nicht zu den nächsten Familienangehörigen gehören. Jeder Mensch, der für uns wichtig ist, den wir in unser Herz geschlossen haben, hinterlässt, wenn er geht, eine Lücke, die für uns schmerzhaft ist und uns Kraft kostet, zu schließen. Ja, sogar der Mensch, den wir hassen, hinterlässt nach seinem Tod in unseren Gefühlen eine Spur.

Ich weiß nicht, ob Ihr Verlust schon viele Monate zurückliegt oder gerade erst vor kurzem eingetreten ist. Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Partner, Ihr Kind, Ihren Freund oder Ihre Freundin, Mutter oder Vater, einen Schulkameraden oder Geschäftskollegen verloren haben.

Ich möchte hier nicht so tun, als wüsste ich, wie Sie sich fühlen. Sie sind der einzige Mensch, der wirklich weiß, wie sich Ihre Trauer anfühlt. Trauer ist eine einzigartige Reaktion, die sich bei jedem Menschen anders äußern kann. So kann ich Ihnen nur sagen, dass ich weiß, wie sich meine Trauer anfühlt, und dass eine Zeit kommen wird, in der an die Stelle Ihrer Verzweiflung ein neues Lebensgefühl treten wird. Aus eigener Erfahrung und der meiner Patienten kann ich Ihnen versichern, dass wir Menschen mit der Fähigkeit geboren werden, zu trauern und nach der Trauer zu einem inneren Frieden zu gelangen.

Ich möchte Ihnen mit diesem Buch helfen, Ihre Gefühle und Ihr Verhalten besser zu verstehen und sich in Ihrer Trauer zunächst einmal anzunehmen. Dann möchte ich Sie durch die verschiedenen Phasen begleiten, die jeder vom tiefsten Schmerz bis zu langsam wieder erwachender neuer Lebensfreude durchläuft. Auch Sie können in Ihrem Leben wieder Freude empfinden, lachen und einen neuen Lebenssinn finden, auch wenn dies im Augenblick für Sie unvorstellbar oder sogar sarkastisch klingen mag.

Folgen Sie mir bitte durch dieses Buch. Ich kann Ihnen Ihre Trauer nicht ersparen, abnehmen oder wegnehmen, aber ich möchte Ihnen helfen, Ihre Gefühle, die Sie überwältigen, zu verstehen, zu akzeptieren, und Ihnen Mut machen, dass Sie sie beeinflussen und verändern können. Sie dürfen traurig sein. Ihre Trauer ist normal und menschlich. Ihre Trauer ist ein Teil Ihres Lebens, aber Sie können lernen, mit ihr umzugehen. Sie können lernen, Trauer als eine Aufgabe anzusehen, die SIE bewältigen können.

 

Haben Sie den Eindruck, unter diesen Umständen nicht weiterleben zu können? Dann geben Sie sich noch eine Chance. Suchen Sie einen Psychotherapeuten auf. Er kann Ihnen die Entscheidung über Leben und Tod nicht abnehmen. Er kann Ihnen aber helfen, die einzelnen Möglichkeiten und Lebensperspektiven, die Ihnen bleiben, noch einmal behutsam anzuschauen. Sie mögen im Augenblick verwirrt und unfähig sein, sie zu erkennen. Mit ihm können Sie offen über Ihre Gefühle sprechen. Sie brauchen sich nicht zu verstecken oder zu verurteilen, dass Sie sich so elend und hilflos fühlen. Im Anhang finden Sie Adressen, an die Sie sich wenden können. Versprechen Sie mir, es zu tun. Sie können sich auch an mich wenden, wenn in der Liste kein Therapeut in Ihrer Nähe ist. Ich werde Ihnen dann auf alle Fälle persönlich antworten und Adressen von Therapeuten zuschicken.

Auch wenn Sie Ihren Partner schon vor mehreren Jahren verloren haben, kann es ein, dass Sie die Phase der Trauer noch nicht überwunden haben. Sie empfinden noch immer heftigen Schmerz, wenn der Name des verlorenen Partners fällt, wenn Sie mit ihm in der Erinnerung verknüpfte Orte aufsuchen oder von ihm träumen. Wenn das, was Sie vor sechs Monaten schmerzte, heute noch mit der gleichen Heftigkeit weh tut, wenn Sie noch immer gleich häufig an den Toten denken, dann ist es hilfreich für Sie, einen Therapeuten aufzusuchen.

Ich schreibe der Einfachheit halber immer nur von dem Verlust des Partners. Damit könnte gemeint sein: der Verlust einer guten Freundin, eines Freundes, der Mutter, des Vaters, eines Kindes, von Geschwistern.

Was erwartet Sie in diesem Buch?

Ich habe dieses Buch in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil möchte ich Ihnen darüber berichten, wie unterschiedlich verschiedene Kulturen mit dem Tod umgehen, welche Phasen alle Trauernden durchlaufen und welche Mythen in unserer Gesellschaft zum Tod existieren. Ferner erfahren Sie, auf welche Weise sich die Trauer bei Kindern äußern kann, welche Hilfe uns die Religion für den Umgang mit dem Tod gibt und welche inneren Kräfte wir einsetzen können, um mit dem Verlust fertig zu werden. Im zweiten Teil möchte ich Sie durch die unterschiedlichen Phasen Ihrer Trauer begleiten und Ihnen dabei behilflich sein, sich zu verstehen, anzunehmen und die Phasen zu überwinden.

Was kommt nach der Trauer?

Am Ende der Trauer werden Sie sich stärker, reifer und unabhängiger fühlen und besser für kommende Krisen gerüstet sein. In Ihrer Krise steckt auch für Sie die Chance einer positiven Veränderung. Bitte bleiben Sie bei mir und lesen Sie mit mir zusammen dieses Buch. Sie können lernen, Ihren Verlust zu akzeptieren, ohne Ihren Partner zu vergessen. Sie werden wieder ein gesundes, normales Leben führen können, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Wie viel Zeit Sie dafür benötigen, können Sie mitbestimmen. Haken Sie sich bei mir unter und wir werden uns gemeinsam auf den Weg machen.

Ihre

Doris Wolf

Teil I Was wir über den Tod wissen müssen

Eine große Bitte zu Beginn: Auch wenn Ihnen vor Schmerz überhaupt nicht nach Lesen zumute ist, beginnen Sie dennoch damit. Sie werden sich nicht gut konzentrieren können und den Eindruck haben, nichts und niemand könne Ihnen in Ihrer Lage helfen. Lesen Sie dennoch ein wenig weiter – auch wenn Sie dabei weinen. Nehmen Sie das Buch immer wieder zur Hand und lesen Sie ein wenig darin.

1Der Umgang mit dem Tod in verschiedenen Kulturen

Wir können dem Tod nicht entrinnen. Er steht am Ende unseres Lebens, zumindest auf dieser Welt. Jede Kultur hat im Laufe der Jahrhunderte ihren eigenen Umgang mit dem Tod und auch damit, ob etwas nach dem Tode kommt oder nicht, entwickelt. Es gibt Beweise dafür, dass sich alle Menschen um einen erlittenen Verlust grämen, wenn auch in unterschiedlicher Stärke. Laut Berichten von Wissenschaftlern, die andere Kulturen und ihre Reaktionen auf den Verlust eines Menschen untersucht haben, gibt es überall kurz nach dem Verlust ein allgemeines Bemühen um die Wiedererlangung der geliebten Person und/oder es wird an ein Wiedersehen nach dem Tode geglaubt.

Schon früh in unserem Leben lernen wir den Umgang mit dem Tod. Wir bekommen mit, wie sich unsere Eltern verhalten, wenn unser Hamster stirbt oder wir die Großmutter oder eine Nachbarin verlieren. Vielleicht hat man uns erzählt, dass man traurig sein muss, wenn jemand stirbt, dass man schwarze Kleiderträgt, dass der Tod Gottes Wille ist, dass es ein Weiterleben nach dem Tod gibt, dass man nicht weinen darf und stark sein muss, dass man nicht über den Tod reden darf, dass der Tod nur andere betrifft, oder dass wir in den Himmel oder in die Hölle kommen usw. Alles in allem bietet unsere westliche Kultur keine allzu große Unterstützung, wenn es um den Tod geht.

Bis ins 18. Jahrhundert war der Tod noch Bestandteil des Alltags. Auf dem Friedhof vor der Kirche wurden Gerichtsversammlungen abgehalten, Krämer stellten dort ihre Stände auf und man sah beim Vorbeigehen die Gebeine der Toten liegen. Totenschädel wurden sogar als Schmuckstück auf dem Schreibtisch benutzt. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich der Umgang mit dem Tod. Der Friedhof wurde vor die Stadt verlagert, der Tod wurde zur unerträglichen Erinnerung. Es wurden Leichenhäuser eingeführt. Immer mehr Menschen, insbesondere in den Städten wünschen eine anonyme Bestattung, bei der sie ohne Angehörige und ohne Grabstein auf einem Gräberfeld bestattet werden. Der Tod wird hierbei sozusagen unsichtbar.

In ländlichen Gegenden war und ist es heute auch manchmal noch anders. Ich habe noch miterlebt, wie der Großvater zuhause in einem Zimmer bis zur Beerdigung aufgebahrt wurde, wie die Großmutter seinen Sarg liebevoll schmückte und wie dann nahezu die ganze Dorfbevölkerung hinter dem Sarg durch das Dorf bis zum Friedhof zog und die Nachbarn den Sarg trugen. Ich habe erlebt, wie der tägliche Gang zum Friedhof, das tägliche Schmücken des Grabes, die weiterhin bestehende Anteilnahme der Nachbarn meine Großmutter stützte und ihr half, sich behutsam vom Großvater zu lösen. Sie trug ein Jahr schwarze Kleidung und zeigte damit nach außen ihre Trauer. Sicher war der langsame Weg zu einer neuen Lebensperspektive ohne Partner auch nicht einfacher wie heute, aber das Geborgensein in einer bekannten Umgebung war sicherlich sehr förderlich.

Wenn wir beginnen, die Trauer als eine normale menschliche Reaktion auf Verlust anzusehen, dann brauchen wir uns deshalb nicht mehr schuldig oder schwach zu fühlen.

Unser Umgang mit dem Tod

Tod ist ein Thema, das in unserer Gesellschaft gemieden wird. Tod passiert anderen oder zu einem anderen Zeitpunkt – nicht jetzt. Über Tod und Sterben spricht man nicht. Wir lernen nicht, zu trauern, die Trauer anzunehmen und zu durchleben. Stattdessen lernen wir, unsere Trauer zu verstecken oder gar zu leugnen. Wir erhalten keine oder nur für eine kurze Zeit Gelegenheit, unsere Gefühle des Schmerzes und des Zorns auszudrücken und über den Verlust zu sprechen. Wir vermeiden es, uns mit dem Tod zu beschäftigen. Viele scheuen sich sogar, ein Buch zum Thema Tod zu lesen. Wir umgehen es, uns mit dem Angehörigen über Sterben, seine Angst vor dem Tod, über seine Wünsche bezüglich seiner Bestattung, die Aufteilung des Erbes etc. zu unterhalten. Wir vermeiden es, uns mit einem todkranken Menschen über den Tod zu unterhalten, aus Angst, er könnte denken, wir würden nur auf seinen Tod warten, ihn schon aufgeben, oder aus Angst, dass er merken könnte, wie traurig und hilflos wir sind. Manche Menschen haben sogar die magische Vorstellung: „Wenn man sich mit dem Tod beschäftigt, dann fordern wir ihn an.” Oder umgekehrt: „Wenn wir uns nicht damit beschäftigen, werden wir davon verschont.” Allenfalls die Kirche spricht über den Tod, aber wiederum nur mit dem Trost auf ein mögliches jenseitiges Leben. Werden wir mit dem Tod eines nahen Angehörigen konfrontiert, schalten wir ein Beerdigungsinstitut ein, das uns die Formalitäten abnimmt. Der Tote wird, falls er zuhause gestorben ist, noch am gleichen Tag in die Leichenhalle gebracht. Viele todkranke Menschen werden in die Klinik abgeschoben, um das Leiden nicht mitansehen zu müssen. Der Einzige, der vielleicht das Thema Sterben anspricht, ist der Pfarrer, wenn er ein letztes Mal zum Kranken kommt. Das Beerdigungsinstitut übernimmt die Ausschmückung des Sarges, wäscht den toten Körper und zieht ihm das Leichenhemd über. Was bleibt ist der kurze Blick in den Sarg kurz vor der Beerdigung. Am Tage der Beerdigung zählt der am meisten, der am tapfersten war und keine Tränen vergossen hat. Eine Gärtnerei übernimmt die Grabpflege. An Festtagen geht man pflichtbewusst auf den Friedhof, „weil die Nachbarn sonst denken, dass man den Toten nicht geliebt hat”. Nach drei Monaten beginnen die ersten Angehörigen zu fragen: „Was, du bist immer noch nicht darüber hinweg. Du solltest jetzt an dich denken und wieder zu leben beginnen.” Nach einer Umfrage sind die meisten Menschen der Ansicht, dass man sich mit dem Verlust spätestens zwei Wochen nach dem Tod abgefunden haben sollte. Die katholische Kirche liest noch ein paar Messen zu Ehren des Toten, dann „sollte man die Trauer gepackt haben“. Nach einem Jahr schwarzer Kleidung beginnt der Trauernde wieder bunte Kleidung zu tragen.

Der französische Historiker Aries untersuchte die Einstellung der europäischen Menschen gegenüber dem Tod. Bis 1950 erhielt sich nach seinen Ergebnissen die Vertrautheit des einzelnen dem Tod gegenüber. Sterben war eine Zeremonie im Kreis der Familie. Seit etwa vierzig Jahren herrscht dem Sterben eine Einstellung gegenüber, die Aries mit ‚der verbotene Tod’ bezeichnet. „Der Tod ist den Menschen weniger vertraut als früher, wird zum verbotenen Objekt. Man hält es heutzutage für ausgemacht, dass das Leben – zumindest dem Anschein nach – Glück bedeutet. Der Ort des Todes verschiebt sich, man stirbt nicht mehr zuhause sondern im Krankenhaus. In dieser Atmosphäre ist der Tod zu einem technischen Problem geworden. Hier werden Emotionen vermieden. Der augenfällige Ausdruck von Schmerz erweckt Widerwillen, die einsame und verschämte Trauer ist die einzige Flucht. Die neue Konvention erfordert es, dass verheimlicht wird, was früher zur Schau gestellt, sogar vorgetäuscht werden musste: das eigene Leid. Die Angehörigen der Toten sind gezwungen, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Sie bemühen sich, nichts von ihrer Trauer zu zeigen, weil sie niemanden enttäuschen wollen.”

Wie gehen andere Völker mit dem Tod um?

Wenn wir verschiedene Völker miteinander darin vergleichen, wie sie mit dem Tod umgehen, müssen wir dabei Folgendes berücksichtigen. Es gibt zum einen die Gefühle, körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen, die in jedem einzelnen Menschen nach einem Verlust ablaufen, und zum anderen Regeln und Sitten, wie die Gesellschaft sich den Umgang mit dem Tod vorstellt. Die Reaktionen des einzelnen hängen von seiner persönlichen Einstellung zum Tod ab, die jedoch meist von der gesellschaftlichen Einstellung zum Thema Tod beeinflusst ist. Im folgenden kann ich Ihnen lediglich einen Überblick über die Regeln geben, die andere Kulturen aufstellen, um dem einzelnen beim Tod seines Angehörigen zu helfen.

Beim Vergleich zu unseren Trauersitten kommt man zu den Schluss, dass in den Trauersitten der außereuropäischen Kulturen das, was bei jedem Menschen während der Trauerphase vor sich geht, zur Regel erhoben wird.

Bei den Trauersitten der außereuropäischen Kulturen steht das künstlich erzeugte und übersteigerte Trauerweinen im Vordergrund. Es wird übermäßig lange und laut, zum Teil regelmäßig zu bestimmten Tageszeiten geklagt und geweint. Man weint demonstrativ in der Öffentlichkeit und die Tränenspuren sollen deutlich sichtbar sein. In manchen Völkern lässt man die Tränen auf den Leichnam tropfen oder sammelt sie in einem Tuch, das man dem Grab beilegt. Nach Meili sind diese Tränenopfer ‚eine Demonstration vollzogener Trauer für den Toten’.

Fast allen Trauernden verschlägt es die Lust zu essen, bei den außereuropäischen Kulturen gibt es das Fastengebot während der Trauerzeit. Der Trauernde hat keine Energie, was sich dort in dem Verbot der Arbeit niederschlägt. Er empfindet keine Freude und hat kein Interesse an anderen Menschen, was sich bei den außereuropäischen Kulturen im strikten Redeverbot und in der Trauertracht zeigt. Er zieht sich in die Wohnung zurück, in der er tage- und wochenlang, ohne sich zu rühren, im Schmerz erstarrt, sitzt. Der Trauernde vernachlässigt sein Äusseres und zum Teil auch seine Hygiene, was sich in den außereuropäischen Trauersitten so zeigt, dass sich der Trauernde gezielt mit Asche und Schmutz bestreut oder das Gesicht beschmiert und keine bunte Kleidung trägt. Der Trauernde bei uns hat kein Interesse mehr an Besitz, bei den außereuropäischen Völkern wird der Besitz zum Teil verschenkt. Der Trauernde ist wütend auf sich und die Welt, was sich in außereuropäischen Kulturen in den Sitten, Kleider zu zerreißen, Haare auszureißen und sich Wunden beispielsweise durch Wangen Zerkratzen zuzufügen, widerspiegelt.

 

Nach Ende der Trauerzeit wird bei den außereuropäischen Völkern der Trauerschmutz oder das verkrustete Blut der selbst zugefügten Wunden abgewaschen, werden die lang gewordenen Fingernägel geschnitten oder das schmutzige Badewasser wird dem Verstorbenen als Trauerbeweis auf das Grab geleert.

In allen Kulturregionen lassen sich Trauerregeln zu folgenden Bereichen feststellen:

•Trauerweinen und Wehklagen, zum Beispiel:

Tränenopfer und Klagerufe, Klagefrauen, das Füllen eines Tränenkrügleins

•Körperliche Haltung des Trauernden, zum Beispiel:

hockend, hängende Schultern

•Verzichte und Verbote bezogen auf den Körper, zum Beispiel:

Fastengebot, Arbeitsverbot, Verbot bestimmter Speisen, Redeverbot, Schlafverbot, Verbot sexueller Handlungen, Verbot von Kontakten mit anderen Menschen

•Selbstaggression, zum Beispiel:

Verstümmelung von Fingern und Zähnen, Raufen der Haare, Tätowierung, Blutopfer, Raufen des Bartes

•Haarschur und Haaropfer, zum Beispiel:

ungeordnetes Haar, Wachsen oder Schneidenlassen der Haare oder des Bartes

•Behandlung des Körpers, zum Beispiel:

nackt oder barfuß gehen, sich mit Asche beschmutzen, auf der Erde wälzen, sich mit Trauerfarben bemalen

•Trauerkleidung, zum Beispiel:

Bedecken des Kopfes, Schleier, Trauerschmuck oder Schmuckverbot, Trauerkleidung, Ablegen der Trauerkleidung nach bestimmter Zeit

•nach außen gerichtete Aggression, zum Beispiel:

Zerreißen der Kleider, Zerstören der Gegenstände des Toten, Kampfspiele

•Zeremonien nach der Beisetzung, zum Beispiel:

Trauermahl

•Einhaltung einer bestimmten Trauerzeit, zum Beispiel:

ein Jahr

•Zeremonien nach Beendigung der Trauer, zum Beispiel:

Reinigung

All diese Riten helfen dem Trauernden, seine Trauer auf sozial anerkannte Weise zum Ausdruck bringen zu können, ohne dass sich eine schwere Depression oder andere krankhafte Prozesse entwickeln müssen.

In unserer Gesellschaft bleiben wir meist mit unseren Gefühlen und körperlichen Reaktionen allein. Wir weinen still, wenn wir es uns nicht überhaupt verbieten. Wir verlangen von unserem Körper, dass er uns schlafen lässt, aktiv ist und Appetit hat, obwohl er es in einer solchen Situation nicht kann. Unsere Umwelt verlangt oft, dass wir unserer Arbeit normal nachgehen und unsere Pflichten erfüllen, obwohl wir uns weder konzentrieren, noch etwas merken können. Wir dürfen nicht unserem Bedürfnis nachgeben, zu seufzen und über unser Schicksal zu klagen. Wir dürfen nicht endlos über unseren verstorbenen Partner reden. Unser Wunsch, uns von der Menschheit zurückzuziehen und einfach stundenlang vor uns hinzustarren, wird nicht akzeptiert. Von uns wird erwartet, dass wir uns äußerlich zurechtmachen und „wieder gut aussehen“. Wutausbrüche und Ungeduld werden ebenfalls nicht gerne von unserer Umwelt gesehen; oder mißverstanden. Nach Möglichkeit soll unsere Trauerarbeit nach kürzester Zeit abgeschlossen sein.

Da unsere Gesellschaft uns kaum Hilfestellungen für den Umgang mit dem Tod und der Trauer anbietet, möchte ich Ihnen in diesem Buch Hilfestellungen geben. Ich kann Ihnen Ihre Gefühle weder wegnehmen, noch kann ich die gesellschaftlichen Regeln aufheben. Mit diesem Kapitel wollte ich Ihnen zeigen, dass Ihre Gefühle, Ihre körperlichen Reaktionen und Ihr Verhalten uns Menschen eigen sind. Wann immer wir uns auf einen anderen Menschen einlassen und ihn lieben, werden wir über seinen Verlust trauern. Auch wenn die Gesellschaft uns diese Reaktion nicht zugesteht, werden wir dennoch mit Schmerz, Wut, Angst und all den körperlichen Reaktionen reagieren. Wir müssen uns deshalb unsere eigenen Regel, wie wir mit unserer Trauer umgehen wollen, schaffen.

Akzeptieren Sie Ihre Gefühle, die Sie im Augenblick verspüren. Sie sind menschlich. Wenn Sie Ihre Gefühle besser verstehen, akzeptieren und sich durch sie hindurcharbeiten, werden Sie sich wieder wohlfühlen können. Ich werde Ihnen in Teil 2 Übungen anbieten, wie Sie Ihre Gefühle ausdrücken können, ohne in der Gesellschaft aufzufallen, und dennoch nicht in Ihrer Trauer steckenbleiben. Sie können sich Zeiten wählen, in denen Sie sich ganz Ihrer Trauer widmen, und Zeiten, in denen Sie die Anforderungen der Gesellschaft erfüllen.