Grenzgängerin

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ETAPPE 1 | Geissholz (Schweiz) >> Frankfurt am Main, Lübeck-Travemünde (Deutschland) >> Malmö (Schweden) >> Drevsjø, Trondheim, Bodø, Lofoten, Tromsø, Nordkap (Norwegen) | Rund 5000 km


Von Geissholz bis ans Nordkap mit dem Fahrrad
21. Mai bis 2. Juli 2016

Am 21. Mai steige ich endlich daheim auf mein Fahrrad. Insgesamt habe ich 35 Kilogramm Gepäck auf vier Satteltaschen und einen Rucksack verteilt: Mein Zelt samt Schlafsack und Liegematte, meine kleine mobile Küche, meinen Computer, leichtere Sachen wie Ersatzwäsche, Stirnlampe, Taschenlampe und Sackmesser, Essen für die ersten zwei, drei Tage und – nicht zu vergessen – meine Fotoausrüstung. Im Gegensatz zu den intensiven Vorbereitungen in der jüngsten Vergangenheit wird meine nahe Zukunft wunderbar simpel sein: Mein Ausgangspunkt heißt Geissholz, mein erstes Etappenziel Nordkap. Dazwischen liegen rund 5000 Kilometer, in denen ich in die Pedale treten werde. Das ist alles. Keine Termine. Keine Verpflichtungen. Nur Fahrrad fahren, essen, schlafen. Doch zuerst gilt es, jenen Kloß in meinem Hals loszuwerden, der mich heute, wie bei all meinen Abschieden, begleitet. Er wird sich, das weiß ich aus Erfahrung, erst langsam aufzulösen beginnen, wenn meine Freunde, die mir zum Abschied winken, aus meinem Blickfeld verschwunden sind.

Ich verlasse die Schweiz östlich von Basel und folge dem Rhein nordwärts. Bald werde ich bei schlechtem Wetter fahren müssen, denn ich durchquere Deutschland genau während der Zeit der vielen Überschwemmungen, die unseren nördlichen Nachbarn im Jahr 2016 heimgesucht haben. Im Grunde bin ich von Anfang an auf der Flucht Richtung Norden, wo das Wetter besser zu werden verspricht. Die Landschaften in Deutschland präsentieren sich schöner als erwartet, die ersten 1300 Kilometer aber härter. Zwar habe ich auf die Unwetter meistens einen Vorsprung von ein, zwei Tagen, es fühlt sich aber trotzdem an, als hätten sie sich an mein Hinterrad geheftet. So flüchte ich vor den immensen Regengüssen, werde von ihnen eingeholt, flüchte erneut und werde Zeugin der immer höher anschwellenden Flüsse, die über die Ufer treten, Dörfer verwüsten und sogar Menschen töten. So muss sich ein verfolgtes Tier auf der Treibjagd fühlen.

Als Alpinistin und Berufsbergführerin bin ich sommers wie winters mit drastischen Wetterwechseln konfrontiert, sei es auf Gletschertouren, im Eis oder an Felswänden. Die Natur in den Bergen ist gefährlich und bedrohlich, ja. Aber die Gefahren sind Teil des Alltags, keine Überraschungen. Mein Feingespür und meine langjährige Erfahrung sind darauf ausgerichtet, im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dass ich schon zu Beginn meiner ersten und einfachsten Etappe mit derart garstigem Wetter zu kämpfen habe, damit habe ich allerdings nicht gerechnet.

Durch die Klimaveränderung wird der Jetstream abgebremst. Wenn der Jetstream verlangsamt wird, wird das Wetter gestaut, so wie Autos auf der Autobahn vor einer Baustelle. Wenn das Wetter staut, bleibt es länger dort sitzen, wo es gerade ist. Dadurch gibt es zwar längere Schönwetterphasen, aber eben auch längere Schlechtwetterphasen. Das bedeutet lang anhaltende, verheerende Dürren in den einen Teilen und lang anhaltende, verheerende Niederschläge in anderen Teilen unserer Welt. Aber nicht nur der Wind, auch das Wasser spielt verrückt. Die große Umwälzströmung im Atlantik, die sogenannte Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC), hat sich im 20. Jahrhundert deutlich abgeschwächt. Der Golfstrom ist Teil dieser Umwälzströmung.

Sogar meine Planung der Nordpolexpedition hat sich wegen der Klimaveränderung dauernd verändert. Schon 2002 hatte ich zum ersten Mal die Idee, den Nordpol vom letzten kanadischen Festland aus zu erreichen. Doch in den vergangenen Jahren ist dort das Meer in Landnähe gar nicht mehr zugefroren, und wenn doch, war die Eisdecke für eine Begehung zu dünn. Kenn Borek Air, eine kanadische Fluggesellschaft, hat deswegen sämtliche Aktivitäten auf der Nordpolarmeer-Eiskappe eingestellt, weil ihr bei der Landung auf dem arktischen Meer-Eispanzer beinahe zwei Flugzeuge samt Piloten und Crew abgesoffen wären. Für Expeditionen zum Nordpol von der kanadischen Festlandseite her bedeutet das, dass die einst einzige mögliche Rettung bei Problemen nicht mehr verfügbar ist. Kenn Borek Air war für Expeditionen von 1970 bis 2014 die letzte Hoffnung – dann, wenn alle Stricke auf dem Eis gerissen waren und dringend Hilfe benötigt wurde. Ich ließ die Idee, diese Route zu wählen, deshalb rasch wieder fallen.

Natürlich mache auch ich mir Sorgen um unseren Globus. Doch auf meiner Expedition richten sich die unmittelbaren und pragmatischen Fragen auf das Hier und Jetzt: Wo finde ich etwas zu essen? Wo trinkbares Wasser? Wie trockne ich das durchnässte Zelt, wenn es weiterhin regnet? Wie schlafe ich im durchnässten Schlafsack? Wie erkälte ich mich nicht bei diesen garstigen Wetterbedingungen? Es sind die immer gleichen Fragen, die ich mir jeden Tag aufs Neue stelle.


Obwohl meine Beine von unzähligen Trainings und Skitouren-Höhenmetern kräftig sind, ist das Fahrradfahren für sie eine ungewohnte Disziplin. Am Anfang mochte ich deshalb noch nicht so viel aus meinen Muskeln herausholen. Erst mit der Zeit spüre ich, dass ich jeden Tag ein bisschen mehr zu leisten vermag. Und je stärker meine Füße in die Pedale treten, desto leichter werden meine Gedanken. Ich pfeife Melodien, die längst vergessen schienen, lasse mich verführen von hübschen, kleinen Cafés am Straßenrand, zelte neben Kühen auf sattgrünen Weiden und teile flüchtige Augenblicke mit Menschen, denen ich wohl nie wieder begegnen werde. Niemals hätte mich mein Bergführer-Beruf zu Städten wie Straßburg geführt. Mit dem Cellospieler vor dem Wahrzeichen der wunderschönen Stadt, dem beeindruckenden Münster, fühle ich mich sofort verbunden. Beide sind wir Figuren, die schwierig in einen Rahmen passen. Eine Art Lebenskünstler, jeder auf seine Weise. Und beide stellen wir uns vermutlich oft die Frage: »Wie weiter?« Eine Frage, in der viel Kreativität, Mut und Antrieb, aber auch viel Verletzlichkeit steckt. Eine Empfindsamkeit, von der ich überzeugt bin, dass sie uns weniger wertend gegenüber anderen Menschen macht.

Jeden Abend, bevor ich in meinem Zelt die Stirnlampe ausknipse, lege ich mir die ungefähre Etappe für den kommenden Tag zurecht. Jeden Morgen starte ich voller Energie in den Tag hinein und freue mich auf die neuen Eindrücke, die mir das Unterwegssein bescheren wird. Ich verlasse den Rhein weiter nördlich und radle der Fulda entlang, wechsle erneut den Fluss und folge der Weser, die inzwischen so hoch angestiegen ist, dass Teile des Radweges unter Wasser stehen. Nachdem ich nördlich der Weser eine schöne Route durch die Lüneburger Heide bis Lübeck gefunden und mich dort auf die Fähre nach Malmö begeben habe, genieße ich jetzt die Überfahrt nach Schweden in meiner kleinen und vor allem trockenen Kajüte. Ich bin dankbar, dass ich mich – im Gegensatz zu den Menschen, deren Keller zuhauf überflutet werden und die teilweise aufgrund der Unwetter ihr ganzes Hab und Gut verlieren – in diesem Moment nur mit einem Luxusproblem zu befassen habe. Vom vielen Regen hatte ich nämlich ständig nasse Haarsträhnen im Gesicht. Und weil ich gerade nichts Besseres zu tun habe, schneide ich sie mir in meinem Mini-Badezimmer kurzerhand mit meinem Sackmesser ab. Das Resultat sieht schrecklich aus. Aber immerhin kommen mir die lästigen Haare jetzt nicht mehr in die Quere.

1300 Kilometer habe ich seit meinem Aufbruch auf dem Fahrrad zurückgelegt. Nun erreiche ich nach einer kurzen Überfahrt schwedisches Festland. Trotz Vorfreude überfordert mich das Land in seiner Größe ein wenig. Welche Route soll ich wählen? Eher die bergige Variante Oslo–Trondheim–Tromsø–Nordkap? Oder fahre ich doch lieber durch das flache, aber fahrradtechnisch etwas langweilige Schweden? Ich entscheide mich für die goldene Mitte. Zuerst werde ich ein Stück durch Schweden radeln und dann, nördlich von Oslo, zur bergigen Küste Norwegens wechseln.

Seit ich Norwegens Grenze durch das schwedische Hinterland erreicht habe, kämpfe ich mit massivem Gegenwind. Dieser ist so stark, dass ich sogar auf flachen Strecken in die niedrigen Gänge schalten muss. Gut, dass es kaum Verkehr gibt, denn die Windböen drücken mich oft aus dem Nichts heraus mitten auf die Straße und in die Gegenspur hinein. Nach drei Tagen Kämpfen und Strampeln und trotzdem täglich über hundert zurückgelegten Kilometern mit über dreißig Kilogramm Gepäck bin ich, mit sehr müden Beinen, in einem kleinen Dorf namens Drevsjø angelangt. Als es nach einer kühlen Nacht am Morgen sogar weiße Flocken schneit, scheint mir der Zeitpunkt perfekt, einen Tag Pause einzulegen. Im nahe gelegenen Dorfladen besorge ich frische Lebensmittel und entdecke dabei einen hübschen Coiffeursalon. Spontan frage ich nach einem Termin und finde mich schon kurze Zeit später mit einem Frottiertuch um den Hals auf einem modernen Friseurstuhl wieder.

Während die zierliche Friseurin, eine Japanerin, das Dilemma mit meinen Haaren in Ordnung bringt, erfahre ich ihre bemerkenswerte Geschichte. Offen erzählt sie mir davon, wie sie vor ihrem gewalttätigen Exmann von Japan nach London flüchtete, dort eine Ausbildung zur Hairstylistin machte, sich über eine Kontaktanzeige im Internet in einen norwegischen Bauern verliebte, zu ihm nach Norwegen zog und sich hier, in diesem abgelegenen Dorf, mit einem eigenen Friseursalon selbständig machte. Heute, erzählt sie weiter, kommen Frauen und Männer von weit her, um sich von ihr beraten und die Haare schneiden und färben zu lassen, während sie Hochglanzmagazine auf der Suche nach Neuigkeiten über die Prominenz durchblättern. Ich mag es, wenn Welten aufeinandertreffen. Mit hübscher Frisur und neuem Elan steige ich nach einer erholsamen Nacht wieder auf mein Fahrrad. Der Wind hat sich zurückgezogen.

 

Ich bin nun seit drei Wochen unterwegs und habe es in dieser Zeit von daheim bis ins 2000 Kilometer entfernte Trondheim geschafft. Noch einmal ungefähr dieselbe Distanz, und ich werde am Nordkap und damit am Ende der ersten meiner insgesamt vier Etappen zum Nordpol angelangt sein. Gegen Abend finde ich einen hübschen Campingplatz in der Nähe von Trondheim. Für einmal verzichte ich darauf, mein Zelt aufzubauen, und miete zur Feier des Tages eine »hytta«, eine kleine Hütte, die zwar auch spartanisch, aber immerhin mit einem richtigen Bett ausgestattet ist.

Ich bin in Stadtnähe. Das merke ich an der Geschäftigkeit der Menschen, die hier viel ausgeprägter ist als bei jenen, denen ich während meiner Fahrt übers Land begegnete, als ich mich in stetigem Rauf und Runter, bei Gegenwind und Sturm durch das karge Bergland kämpfte. Seit ich meine Füße nach dem schrecklich nassen Deutschland auf trockenen, schwedischen Boden gesetzt habe, hatte ich viel Wetterglück, abgesehen von den Tagen mit starkem Gegenwind. Zehn Tage am Stück genoss ich Sonnenschein. Ich bin dankbar für diese guten Tage, denn ich weiß: Der nächste Wetterwechsel kommt bestimmt, und mit ihm wird auch der Frust zurückkommen und die Unsicherheit, die eine derartige Reise immer mit sich bringt. Die Unsicherheit zum Beispiel, wo ich die kommende Nacht verbringen oder wann ich das nächste Mal feste Nahrung zu mir nehmen werde. Manchmal ernähre ich mich tagelang nur von Früchtemüesli und Nüssen, weil es weit und breit kein Restaurant und keinen Dorfladen gibt. Und wenn, dann sind sie oft geschlossen. Die Industrie hat den Kleinhandel verdrängt, die Supermärkte haben die Dorfläden weggefegt.

Die Auflagen in der Lebensmittelbranche und die Agrarpolitik haben ein Überleben der Kleinbauern nahezu verunmöglicht. Heutzutage werden ohne nachzudenken fünfzig Kilometer mit dem Auto zurückgelegt, um in einem Supermarkt einzukaufen. Und das nicht nur in Skandinavien. Mit dem Tourenvelo samt Gepäck bedeutet dies eine halbe Tagesetappe – bei Gegenwind und vielen Steigungen ein unglaublicher Kraftaufwand. Auch deshalb reise ich so, wie ich reise. Ich werde feinfühlig für Dinge, die Menschen und die Zusammenhänge.

Trolle, Naturgeister, Energien

Ich bin im südlichen Teil Nord-Norwegens angelangt, einer schönen Gegend, wären da bloß nicht diese vielen Tunnels. Die norwegischen Tunnels sind bei Fahrrad-Tourenfahrern ein großes Thema, denn sie sind nicht etwa fachmännisch betoniert und beleuchtet wie bei uns in der Schweiz, sondern mehr schlecht als recht aus dem Felsen geschlagen. In ihrem Innern sind sie nicht nur stockfinster, sondern auch bitterkalt. Ihre Dunkelheit schluckt jegliches Licht, auch das meiner Stirnlampe. Zudem sind sie eng und schmal. So schmal, dass ich nur hoffen kann, dass sich nicht zwei Lastwagen oder Wohnmobile auf meiner Höhe kreuzen. Sollte dies trotzdem der Fall sein, steigt man am besten so schnell wie möglich vom Sattel, presst sich mitsamt Fahrrad an die Tunnelwand, kneift die Augen zusammen und hofft, dass der Spuk bald vorbei sein möge. Noch schlimmer als Enge, Dunkelheit und Kälte ist der monströse Lärm. Kurzum: Norwegische Tunnels sind der reine Horror für jeden Fahrradfahrer. Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber diese schwarzen Löcher bedeuten für mich puren Stress. In ihnen wohnt der Teufel, dessen bin ich mir sicher.

Aber nicht nur der Teufel haust in den Tunnels, sondern auch die Trolle, diese kleinen, frechen Naturgeister, die normalerweise in den Wäldern und Dörfern hocken oder an den Wegrändern sitzen. Sie sind nicht böse, nur etwas hinterlistig. Man sieht sie nicht, aber man spürt sie dafür umso mehr. So wie neulich: Es hatte den ganzen Tag geregnet, und meine Beine waren müde, weshalb ich mir auf dem nächstbesten Campingplatz wieder eine »hytta« leistete. Zuvor kaufte ich mir im nahe gelegenen Supermarkt ein Stück Lachs und etwas Rohschinken. Meinem Gefühl nach hatte ich mir diesen kleinen Luxus verdient. Ich freute mich über das feudale Nachtessen und packte die Reste in den Kühlschrank in meiner Hütte. Sie würden mir am kommenden Tag ein willkommenes Znüni sein. Wie immer überprüfte ich alles akribisch, bevor ich am nächsten Morgen weiterfuhr. Schließlich wollte ich nicht viele Kilometer zurückfahren, weil ich beim Packen meinen Kopf nicht bei der Sache und etwas vergessen hatte. Nach ein paar Stunden machte ich eine Pause und freute mich auf meinen Snack. Doch so sehr ich in den Satteltaschen und meinem Rucksack auch suchte, da waren weder Lachs noch Rohschinken.

Nun ist es so, dass dich die Trolle nicht einfach beklauen, sie gehen viel subtiler vor: Sie machen dich vergesslich. Diesen feinen Lachs, den wollten sie wohl unbedingt für sich behalten. Ich konnte nicht fassen, dass mir das passiert war, ärgerte mich und schimpfte innerlich, dann schlug ich den frechen Geistern einen Deal vor: »Dafür, dass ihr meinen guten Lachs und Schinken behalten habt, müsst ihr mich nun sicher durch diese fürchterlichen Tunnels führen.«

Das taten sie dann auch, ziemlich gut sogar. Fortan fuhren die Lastwagen und Wohnmobile erst in einen Tunnel hinein, wenn ich gerade wieder hinausfuhr. Ich kam sicher und heil durch. Das Leben war wieder in Ordnung. Ein paar Tage später entdeckte ich in einem kleinen Supermarkt Schweizer Schokolade, die mit den Nüssen, die ich so gern mag. Für umgerechnet sechs Franken! Ich überlegte: Alles auf dieser Reise kostete viel Geld, und ich war noch weit weg vom Nordpol. Brauchte ich diese Schokolade wirklich? Natürlich kaufte ich sie, genoss ein paar Stückchen und legte den Rest zur Seite. Am nächsten Tag ging ich wieder akribisch vor. Ich überprüfte alles doppelt und dreifach, bevor ich meine Satteltaschen auf das Fahrrad hievte und weiterzog. Bei der ersten Pause realisierte ich: Ich hatte tatsächlich meine teure Schokolade vergessen. Mist! Es war Sonntag, die wenigen Tankstellen und Shops, die sowieso nur alle Dutzend Kilometer vorhanden waren, hatten geschlossen. Langsam ging mir die Energie aus, und weit und breit war kein Café in Sicht. Ich stieg vom Fahrrad und fluchte leise: »Ihr Trolle nehmt mir meine guten Sachen weg, während ich im roten Bereich laufe und langsam, aber sicher in eine Unterzuckerung komme!« Ich sagte ihnen, dass sie diese Sache nun irgendwie wiedergutmachen müssten, dann fuhr ich entnervt weiter.

Schon nach zwei, drei Kurven sah ich eine kleine Tankstelle. Sie hatte tatsächlich geöffnet. Erleichtert stieg ich vom Rad, bestellte einen Kaffee mit viel Milchschaum und dazu eine mit Puderzucker bestäubte Waffel. Und das Beste? Die freundliche Frau von der Tankstelle schenkte mir eine zusätzliche Waffel.

Meine Begegnungen mit den Trollen waren witzig. Manchmal fühlte es sich an, als würden sie mir hinten am Velo hängen. Dann rief ich ihnen zu: »Schieben! Schieben! Nicht ziehen!« Oder ich wollte unbedingt die nächste Fähre erwischen und rief: »Schieben, schieben! Helft mir!«, und radelte dann gleich ein bisschen schneller. Ich weiß, es war nur eine Vorstellung, eine mentale Hilfe. Aber je länger ich allein unterwegs bin, desto empfindsamer werde ich und desto stärker trete ich in Dialog mit der Natur und ihren übersinnlichen Wesen. Egal, ob Trolle, Elfen, Feen oder Zwerge – die Fantasiewesen waren für mich in diesen Momenten absolut real. So real wie die Tatsache, dass auch Berge Wächter sein können.


Ich habe das schon auf meinem Weg zum Südpol gelernt, am Fuß des Berges Ampato in den Anden, im südlichen Peru: Die Indios sagen, dieser Berg sei der Wächter über das ganze Tal, auf ihm würden die Götter thronen. So kletterten die Inkas – lange bevor bei uns der Alpinismus erfunden wurde – auf den über 6000 Meter hohen Gipfel, um Schnee und Eis ins Tal zu bringen. Mit dem heiligen Wasser konnten sich dann die Dorfbewohner reinigen. Diese Reinigungszeremonie muss den Inkas sehr wichtig gewesen sein, denn es wird die Geschichte erzählt, dass die Welt untergeht, sobald der Ampato kein Eis mehr auf seinem Haupt trägt.

Auch in Nepal und Tibet sind die Berge von jeher heilig. Man kann die Geister entweder erzürnen oder sie gut stimmen. Ich spüre, dass darin viel Wahrheit steckt, auch wenn es für unseren westlichen Verstand wenig Sinn ergibt. Es war 2003, als ich für eine kleine Vortragsreihe mit Tashi Tenzing und Reinhold Messner unterwegs war. Tashi Tenzing ist ein Enkel des legendären Sherpa Tenzing Norgay, der 1953, gemeinsam mit dem Neuseeländer Edmund Hillary, Erstbesteiger des Mount Everest war. 1996 wollte Tashi Tenzing, damals 31-jährig, seinen ersten Gipfelversuch wagen und ließ sich vorher von einem Lama, einem buddhistischen Priester, für den Berg segnen. Der Lama sagte, er müsse sehr vorsichtig sein, es sei kein gutes Jahr an der Chomolungma – so der tibetische Name des Mount Everest. Tashi Tenzing verschob darauf sein Vorhaben und stieg erst 1997 zum ersten Mal auf den höchsten Gipfel der Welt. Eine weise Entscheidung, denn am 10. und 11. Mai 1996 wurden mehr als dreißig Bergsteiger beim Versuch, den Gipfel des Everest zu erreichen, von einem heftigen Wetterwechsel überrascht. Acht von ihnen kamen dabei ums Leben. Der Lama hatte das Unglück erahnt. Auch ich spüre, wenn ich sehr lang unterwegs bin, ob sich etwas tendenziell eher in eine gute oder in eine schlechte Richtung entwickelt; ahne, ob sich eine Gefahr anbahnt oder ob etwas gut bleibt. Einzelne Lamas haben diese Fähigkeit sehr viel ausgeprägter. Sie spüren vermutlich nicht nur Tendenzen, sondern haben reale Vorahnungen.

Von verschiedenen spirituellen Quellen hört man, ein Geist namens »Vista« throne über dem Mount Everest. Dieser Geist sei ein Erderschaffungswesen, dem die Kraft der Reinigung innewohne. Die Reinigung geschehe, so wird erzählt, indem negative Emotionen wie Ehrgeiz, Stolz, Übermut, Ungeduld oder Wut, die in niedriger Energie schwingen und bewusst oder unbewusst von Menschen ausgehen, von den höher schwingenden Energien am Mount Everest zurückgesandt werden. Wie der Schall eines Rufs, der an einer Felswand abprallt und als Echo zurückkommt, wird der Mensch auf seine eigenen Schwächen und Schatten zurückgeworfen und mit diesen am Berg konfrontiert.

Ich war insgesamt dreimal am Mount Everest – 2001, 2005 und zuletzt 2013. Im Jahr 2001 erreichte ich als erste Schweizerin den Gipfel, und dies, obwohl ich mich während der Akklimatisationsphase überforderte und zu früh und zu schnell zu hoch aufstieg. Zum Glück warnte mich die Höhenkrankheit in jener Nacht im Lager 2 auf einer Höhe von rund 7600 Metern. Sobald ich ins vorgeschobene Basislager zurückstieg, klang sie wieder ab. Ich erkannte, dass sich am Everest die eigenen Schwächen spiegeln. Und zwar in einer ungeschminkten Art und Weise. Mir wurde klar, dass mein Thema der Ehrgeiz und die Ungeduld waren. Zu früh, zu schnell, zu hoch.

Ich empfinde es wohl wie die Sherpas und die Tibeter, nämlich, dass der Everest eine vollkommen reine Energie in sich trägt. Nicht umsonst nennt man den höchsten Berg der Welt Muttergöttin der Erde. Sie wird verehrt und gepriesen. Deshalb findet vor jedem Aufbruch eine sogenannte Puja statt, eine Zeremonie der Ehrerweisung, um die Muttergöttin um Nachsicht zu bitten, dass wir mit Steigeisen an den Füßen auf ihrem Haupt herumtrampeln. Wie in meinem Buch »Schritte an der Grenze« beschrieben, bauen die Sherpas für diese Zeremonie einen kleinen Altar aus Steinen und schmücken ihn mit Gebetsfahnen – kleinen, quadratischen Tüchern, auf denen Gebete und Pferde aufgedruckt sind. In der tibetischen Sprache werden diese »Lung-ta« genannt, was übersetzt »Windpferde« bedeutet. Flattern die Fahnen im Wind, galoppieren die Pferde mit den Segenswünschen zum Wohle aller lebenden Wesen in das Universum hinaus.

Kein Sherpa würde ohne die Puja-Zeremonie auf den Berg steigen und nicht ohne vorher links am Altar vorbeizugehen und sich mit dem Reis zu segnen, den er aus einem Schälchen nimmt und dreimal in die Luft wirft. Mich erinnert dieses Ritual an den christlichen Segen der Heiligen Dreifaltigkeit. Wobei es meiner Meinung nach bei diesen Riten nicht darum geht, einen erzürnten Gott oder eine erzürnte Göttin zu besänftigen, sondern vielmehr darum, die eigenen Emotionen, Gedanken und Absichten ins Lot zu bringen, sodass sie nicht von einer egozentrischen Natur geprägt sein mögen und sich im Einklang mit einer höheren Kraft befinden.

 

Noch bewusster wurde mir dieses Phänomen, als ich 2005 zum Everest zurückkehrte. Das Wetter war schlecht, das Team nicht homogen, innerhalb der Expeditionen am Berg gab es Konflikte, und Mitglieder aus der eigenen Gruppe hatten mich sehr enttäuscht. Kurzum, es war mir unter diesen Umständen nicht möglich, auf den Gipfel zu steigen. Ich war sehr wütend, packte meine Sachen zusammen, machte mich auf den Heimweg durch das Khumbu-Tal und knickte unterwegs mit einem Fuß so unglücklich ein, dass drei von fünf Bändern rissen. Dazu kam, wie sich später herausstellen sollte, ein Knorpelschaden am vorderen Mittelfußknochen. Glücklicherweise kam mir damals ein Junge entgegen, der mir – gegen eine Belohnung – sein Pferd auslieh, auf dem ich ins nächste Dorf ritt, von wo ich mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus nach Kathmandu ausgeflogen wurde.

Der Spezialarzt in der Schweiz, der später meinen Fuß untersuchte, mochte es kaum glauben, dass man sich einen Fuß lediglich durch Einknicken dermaßen verletzen kann. Etwas später erzählte ich die Geschichte einem Bekannten, der sich mit den Phänomenen von Energien und Mystik auskennt. Er grinste nur und sagte, ihm sei klar, warum ich mir den Fuß so schlimm verletzt habe. Zum ersten Mal hörte ich nun von einem Nichtbergsteiger, dass die Energie am Everest dermaßen stark schwinge, dass niedrige Emotionen wie Ehrgeiz, Wut, Eifersucht, aber auch Gier oder Neid wie ein Bumerang auf einen zurückgeworfen würden. Die Wut-Energie, die ich in mir getragen hätte, sei in dem Moment, als ich mich verletzte, explosionsartig aufgelöst und durch den Vorfall neutralisiert worden. Mein Verstand dachte: So ein Quatsch! Aber das Gefühl wusste: Genau so ist es.

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