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Die Mumie von Rotterdam, Zweiter Theil

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Ihre Lage wurde immer mißlicher. Wie ein geheztes Wild flogen sie über den Boden hin, allein die Feinde drängten allenthalben heran, sie schienen der Erde zu entsteigen. Mit einer raschen Bewegung schleuderte Cornelius die schwarzen Regentücher von den Schultern seiner Begleiterinnen, die sie auf der glänzenden Schneedecke verrathen konnten. Allein diese Vorsicht kam zu spät. Sie waren schon von einigen feindlichen Soldaten, die hinter einem Busche verborgen gelegen, entdeckt. Sie sahen sich verfolgt. Ausrufungen, sie zum Stehen zu bringen, Flüche und Verwünschungen klangen hinter ihnen her und wurden in Augenblicken, wo der Kanonendonner ruhete, um desto kräftiger wieder zu beginnen, von den ängstlich Lauschenden vernommen. Sie eilten unaufhaltsam weiter, aber die Verfolger säumten auch nicht. Cornelius erkannte ihre Gestalten in geringer Entfernung, er sah, wie sie jetzt stehen blieben, ihre Feuergewehre anlegten, und wenige Augenblicke darauf hörte er die Kugeln, die sich das theuerste Leben zum Ziele gesetzt hatten, zu seinem Entzücken unschädlich vorüber pfeifen. Zur höchsten Wuth gereizt, riß er im Fliehen seine Pistolen aus dem Gürtel und schoß sie auf die Nachsetzenden ab. Er mußte getroffen haben, er vernahm einen Schrei, er gewann einen Vorsprung, indem die Gegner einige Augenblicke bei dem verwundeten Cameraden verweilten.

Die Flüchtlinge standen jetzt in der düsteren Vertiefung, die der Junker früher für eine Stelle gehalten hatte, welche ihnen Sicherheit gewähren könne. Aber die Nähe der Verfolger machte jetzt auch diese Hoffnung sehr zweifelhaft. Er vernahm schon wieder ihr wildes Gebrüll, das Geräusch ihrer herannahenden Schritte, den Knall ihrer Musketen, die sie auf’s Geradewohl abfeuerten. Er sandte ängstliche, verzweiflungsvolle Blicke umher, die in der Dämmerung, welche hier herrschte, irgend einen sichern Versteck erforschen sollten. Da zeigte ihm das Licht einer Rakete, die aus der Mitte eines feindlichen Haufens am Flussesufer, wahrscheinlich zu einem bedeutungsvollen Signale, aufstieg, eine dunkele, in das Innere des Berges führende Oeffnung.

»Da hinein!« stöhnte er aus gepreßter Brust und drängte die zögernden Frauen nach dem Höhleneingange. »Hier allein ist Rettung zu hoffen. Diese Zuflucht wird vielleicht gar nicht entdeckt und im Nothfalle kann ein einzelner Mann den schmalen Eingang gegen ein Dutzend solcher Schurken vertheidigen.«

Sie traten in die finstere Wölbung. Schon wurden die dunkelen Gestalten der Verfolger am äußeren Rande der Vertiefung sichtbar, man hörte, wie sie einander zuriefen und nach den Verschwundenen forschten.

Cornelius hatte für nichts anderes Sinn, als für die Gefahr, in der Clelia schwebte. Er hatte mit beiden Händen seine Begleiterinnen ergriffen und zog sie tiefer in die Höhle, die sich weit in das Innere der Erde auszudehnen schien. Er horchte zurück. Welche Beruhigung für ihn, als er kein Geräusch vernahm, das auf eine Entdeckung ihres Schlupfwinkels durch die Nachsetzenden schließen ließ! Dunkelheit umgab sie von allen Seiten. Er ließ jetzt nur Clelien eine Hand, während er sich mit der andern an den feuchten Höhlenwänden hingriff. Philippintje faßte mit beiden Händen die freigebliebene ihrer Gebieterin. Der Boden, auf dem sie hinschritten, war eben und schien aus einem dünngelockerten Sande zu bestehen, der ihrem weitern Gange keine Schwierigkeiten entgegenstellte. Bald befanden sie sich so tief im Schooße der Erde, daß sie das Musketenfeuer nur wenig noch vernahmen und selbst der Donner der Geschütze, dumpf wie aus weiter Entfernung, über ihren Häuptern hinrollte. In dem Gewölbe selbst waltete tiefes Schweigen. Kein anderer Laut war zu vernehmen, als die Schritte der Flüchtigen, als ihre Odemzüge, die sich schwer der angsterfüllten Brust entrangen.

Ueber eine Viertelstunde weit mochten sie in dem finstern Höhlenschlund vorwärts gedrungen seyn, als Cornelius Halt machte und in einem Tone, als wälze sich eine Centnerlast von seiner Brust, ausrief:

»Ihr seyd gerettet, theuere Clelia! Hört Ihr, wie Kampf und Blutvergießen weit von uns fern sind, als gehörten sie einer andern Welt an, die mit unserem Leben in keiner Verbindung steht, die das Euere nicht bedrohen kann? Nassau und Oranien! Sie werden gut bedient die Heern Franzosen. Sie glaubten still und unbemerkt als ungeladene Gäste zum Mahle zu kommen, aber man hatte sie erwartet, man hatte für sie zugerichtet, um sie nach Verdienst zu bewirthen und sie heimzusenden, wenn sie satt wären des reichlichen Gastmahles.«

»Ich bin Zeuge eines großen Schauspieles gewesen,« sagte das Mädchen, indem sie in die Dunkelheit starrte, in deren tiefem Hintergrunde ihre Phantasie einzelne Gegenstände des erlebten Ereignisses erscheinen ließ: »ich habe zum Erstenmal den ganzen Werth des Gefühls, ein ruhmwürdiges Vaterland zu besitzen, erkannt. Glaubt nicht, Junker Cornelius, daß meine Seele einen Augenblick gezagt habe, nur der Körper war nicht immer stark genug, der Gewalt der äußeren Eindrücke zu widerstehen.«

»Es ist vorbei mit mir!« begann mit schwacher Stimme Philippintje und setzte sich, ohne jedoch Cleliens Hand los zu lassen, am Boden nieder. »Hier werdet Ihr meinen letzten Seufzer hören, hier werdet Ihr mich begraben. Der Schreck hat mir nichts gethan, die Kugeln haben mich nicht getroffen, aber die Dunkelheit, die entsetzliche, furchtbare Dunkelheit, in der jedwedes Unglück unbemerkt heran kommen kann, weil man es nicht sieht, die bringt mich um’s Leben.«

»Beruhige dich, Philippintje!« tröstete Clelia. »Deine beste Freundin ist dir nahe und in Junker Cornelius haben wir einen Beschützer, der uns in keiner Gefahr verläßt.«

»Beruhigen?« lachte convulsivisch die Hausjungfer. »Kann der Junker sehen in dieser egyptischen Finsterniß? O, Clötje, die Nacht ist keines Menschen Freund! Am Himmel, wo die lieben Englein wohnen, da ist es hell, da scheint die Sonne, da leuchtet der Mond, da glänzen die Sternlein: alles Licht gehört dem Himmel! Aber die Dunkelheit ist schwarz, schwarz wie der gräßliche Schiwa in Eueres Vaters Staatszimmer, schwarz, wie der hochwürdige Domine die Höllengeister beschreibt. Ich habe es gesagt: hier ist mein Grab. Wir kommen nimmer wieder heraus an das Tageslicht.«

Da fühlte plötzlich Clelia die Hand des Junkers, die in der ihrigen lag, heftig erbeben. Sie nahm voll Besorgniß seinen Arm; sie bemerkte, daß gewaltige Schauer seinen ganzen Körper erschütterten, er wankte, er hielt sich sogar einen Augenblick an seiner Begleiterin aufrecht.

»Um Gotteswillen, was ist Euch?« rief diese, von Schrecken erfüllt. »Wird Euch unwohl, hat Euch ein Schwindel ergriffen?«

»O, daß nur ich es wäre, daß nur mich das gräßliche Schicksal träfe, dem wir nun Alle nicht entgehen können!« brach er im Tone der höchsten Verzweiflung aus. »Gerettet wäret Ihr, sagte ich? Ich Thor – ich unbesonnener, vergeßlicher Thor! Ihr seyd verloren, Clelia, mit weit entsetzlicherer Gewißheit verloren, als Ihr es mitten unter dem Feuer der Geschütze, verfolgt von den beutegierigen Feinden waret! Die Kugel ist vom Zufalle geleitet, in der Brust des Menschen wohnt Erbarmen, ein wohlwollendes Gefühl für die schwächer Geborne; aber hier, hier – und ich selbst, ich Unglückseliger, führte Euch herein!«

Ein Schluchzen, das der bitter aufsteigende Groll gegen sich selbst hervorbrachte, erstickte seine Stimme. Seine Hand bebte nicht mehr; aber sie hielt die Rechte Cleliens krampfhaft gepreßt, sie erschütterte diese in unwillkürlichen Zuckungen.

»Erklärt Euch deutlicher!« flehete das Mädchen, mehr von inniger Theilnahme an dem beunruhigenden Zustande ihres Freundes, als von Furcht vor dem ihr noch unbekannten Gegenstande seiner Aufregung, bewegt. »Sagt mir Alles. Ich bin nicht so schwach, wie Ihr vielleicht glaubt. Ich habe zwar nur eine kurze Lehrzeit in der Schule der Erfahrungen gemacht, aber, seyd überzeugt, sie ist mir nicht nutzlos vorübergegangen.«

»Es würde auch zu nichts führen, das Unabwendbare Euch verbergen zu wollen;« erwiederte mit erkünstelter Ruhe, während die krampfhaften Zuckungen seiner Hand fortdauernd den Sturm im Innern verriethen, der Junker. »Wir befinden uns hier in einem weiten Grabe, aus dem es keine Erlösung giebt, als durch den Tod. Diese Gänge, in die wir uns schon zu tief verirrt, sind endlos, tausendfach verschlungen, auf viele Stunden weit hinführend in ihren unzähligen Windungen. Habt Ihr nie von dem Petersberge gehört, nie von dem wunderbaren Bau seines Innern, der seit vielen Jahrhunderten durch Menschenhände gebildet worden, indem sie ihn nach allen Richtungen hin ausgehölt, um seine herrlichen Mauersteine zu gewinnen? Die Dunkelheit vor Euren Blicken verbürgt Euch den weit gewölbten, vielleicht haushohen Gang. Nur die Bewohner der Umgegend sind mit den labyrinthischen Wegen, die ihn durchkreuzen, bekannt. Aber auch sie würden nicht wagen, diese ohne Licht zu betreten. Wehe dem, welchem die Fackel, dieses einzige schwache Werkzeug der Lebenserhaltung, dieser Bürge für den Wiederanblick des himmlischen Tageslichtes, erlischt! Wehe uns, die meine Tollheit, die ein unseliges Verhängniß in diesen Aufenthalt des unentrinnbaren Todes geführt hat!«

»Ich habe es ja gesagt!« stöhnte Philippintje in dumpfem Hinbrüten vom Boden auf. »An der Dunkelheit müssen wir sterben.«

»Macht Euch keine Vorwürfe! Rechnet Euch das nicht zum Fehler an, was der Drang des Augenblickes gebieterisch verlangte!« nahm Clelia mit bewunderungswürdiger Gelassenheit das Wort. »Meint Ihr, es gäbe keinen Führer, der auch in der Nacht dieser Grüfte über uns wacht, dessen Hand uns leitet, dessen Odem uns umweht?« fuhr sie dann begeistert fort. »Wie eitel ist nicht Menschenhülfe und Menschenthun auf Erden? Unser Vertrauen muß höher wohnen. Auch über diesem Berge wölbt sich das Himmelszelt und der Führer, von dem ich spreche, durchschaut Felsen und Gestein und sein liebevolles Auge leitet diejenigen, die nicht an ihm zweifeln. O Cornelius, Ihr habt mich wenig gekannt, wenn Ihr glaubtet, die Offenbarung unserer Lage würde mich niederbeugen! Besser hier, als draußen im blutigen Zwiespalt des Weltgewühls, besser in der Hand Gottes, als in der der Menschen!«

 

»Und dennoch« – fuhr in diesem Augenblicke der Junker auf und es war ihm, als erhelle ein Blitz die Nacht, die sie verhüllte, »und dennoch ist eine Möglichkeit der Rettung denkbar. Noch dauert das Schießen, noch dauert außerhalb der Streit. Was andern Verderben, uns kann es Rettung bringen. Ja, Clelia! Wir wollen diese Stelle verlassen, wir wollen dem Schalle von Außen nachgehen, vielleicht erreichen wir glücklich wieder den Eingang, vielleicht – O kommt nur, kommt! Die Augenblicke sind kostbar. Wie leicht können nicht in dem nächsten schon diese Geschütze verstummen, wie leicht ist nicht die letzte schwache Hoffnung vernichtet!«

Sie begannen auf’s Neue die mühsame Wanderung durch die dunkeln Räume. Cornelius drängte Clelien in unruhiger Hast vorwärts, Philippintje hatte sich wie früher angeschlossen. Bald tönte das Schießen nahe, bald wieder ferne. Die äußerste Aufmerksamkeit gehörte dazu, sich immer in einer bestimmten Richtung zu erhalten, da das ganze Innere des Petersberges eigentlich nur ein ungeheueres Gewölbe bildet, von unzähligen dicken Sandsteinpfeilern getragen, zwischen denen sich die tausendfältigen Gänge hinwinden. Und welche Bürgschaft war, daß man in der eingeschlagenen Richtung nicht schon irre? Klangen doch die immer seltener werdenden Schüsse bald rechts, bald links, bald vor den Bedrängten, bald über ihren Köpfen!

Dennoch waren sie es allein, die Cornelius Hoffnung aufrecht hielten. Als sie jetzt nur in langen Zwischenräumen noch ertönten, schien ihm ein jeder wie ein neuer Ruf zum Leben, wie ein Gruß der bald eintreffenden Hülfe. Seine bebende Hand griff sich von Pfeiler zu Pfeiler, hastige Worte, von zitternder Lippe ausgestoßen, suchten Clelien mehr zu beruhigen, als sie dessen bedurfte.

Endlich war der letzte Kanonendonner über ihre Häupter hingerollt, matt, hinschwindend, wie das Abschiedswort eines Sterbenden. In unsäglicher Spannung wartete Cornelius auf einen folgenden. Es kam keiner. Sein Herz pochte schwer, das Blut erstarrte in seinen Adern, Minuten schlichen wie Stunden vorüber. Alles blieb still, nur die Odemzüge der Verlassenen, Philippintje’s Stöhnen, das von Zeit zu Zeit diese unterbrach, tönten in die schweigende Nacht.

Ohne zu wissen, was er that, drängte der Junker seine Begleiterinnen noch eine kurze Strecke fort. Dann blieb er stehen und sprach in einem leisen Tone der Entsagung:

»Der Kampf ist zu Ende und mit ihm unsere letzte Hoffnung!«

Er bemerkte, indem er an der Bergwand hintastete, eine Stelle, die wie ein Ruhesitz ausgehauen war. Hier ließ er Clelien nieder. Er setzte sich neben sie. Die ältere Begleiterin nahm auf der anderen Seite Platz. Philippintje konnte die für ihre Kräfte übermäßige Anstrengung nicht länger ertragen. Sie fiel nach wenigen Augenblicken in einen tiefen Schlaf.

Cornelius befand sich in einem qualvollen Zustande. Er konnte den Gefühlen, die sein Herz zerrissen, nicht Worte leihen. Selbst der sanfte Händedruck der Geliebten, mit dem sie ihm die Versicherung zu geben schien, daß sie ihr Schicksal nicht schmerze, daß sie ruhig in eine Zukunft sehe, die ihm so gräßlich dünkte, konnte keinen flüchtigen Trost, keinen Augenblick der Ruhe in seine Seele bringen. Trostlos, erbittert gegen sich und das Verhängniß starrte er in die öde, todte Nacht.

Aus dieser Geistesdumpfheit wurde er plötzlich durch einen hellen, klingenden Ton, ganz in seiner Nähe, erweckt. Er fuhr von seinem Sitze auf, ohne jedoch die Hand Clelia’s loszulassen, welche, selbst betroffen über den Klang, der so unerwartet die rings herrschende Stille unterbrochen hatte, zusammengefahren war. Er griff mit der freien Rechten, soweit er reichen konnte, umher, er berührte einen feuchten, steinigen Gegenstand, den seine Hände umspannen konnten, der, frei vom Boden in die Höhe stehend, die Gestalt eines dünnen Baumstammes zu haben schien.

Der Zufall hatte sie an die Stelle geführt, wo eine seltsame Laune der Natur, mitten im Dome des Petersberges, zwischen dessen unendliche Sandsteingeklüfte eine Tropfsteinader eingeschoben hat. Dieses im Laufe von Jahrhunderten erzeugte Gebilde ist das einzige dieser Art in dem weiten, unterirdischen Raume. Die Leute, denen das Innere des Petersberges nicht fremd ist, kennen es wohl und bezeichnen es in ihrer Unwissenheit und nur mit Berücksichtigung seiner äußeren Merkmale, mit dem Namen des versteinerten Baumes.

Cornelius war nur im Allgemeinen von dem Wunderwerke, das sich hier im Schooße der Erde verbarg, nicht von dessen Einzelnheiten unterrichtet. Er glaubte nicht anders, als daß er glücklicherweise auf ein von Menschenhänden errichtetes Kennzeichen, auf eine Art von Wegweiser gestoßen sey, der denjenigen, die mit seinen näheren Beziehungen vertraut waren, den Ausgang aus den labyrinthischen Gängen erleichtern konnte. Die ausgehauenen Sitze in der Steinwand schienen seine Vermuthung zu bestätigen. Er theilte sie, indem ein Strahl von Hoffnung in seine Seele drang, Clelien mit.

»Ich kann mich noch nicht in den Gedanken ergeben, Euch, in dem Wahne Euch zu retten, in das sichere Verderben geführt zu haben!« fügte er in einem Tone, der die fortdauernde Bewegung seines Innern zeigte, hinzu. »Nein, nein! So schrecklich kann eine einzige Unbesonnenheit nicht bestraft werden. Laßt mich noch einen Versuch wagen! Dieses Merkmal ist nicht umsonst hier aufgestellt. Wer weiß, ob es mir nicht gelingt, den Rettungsweg, auf den es hindeutet, zu finden? Als ich genöthigt war, selbst die Leitung unseres Fuhrwerkes zu übernehmen, dachte ich wohl nicht, daß an den Fäden der Stricke, mit denen ich auf den Nothfall mich versehen mußte, die Möglichkeit einer Hülfe aus dem entsetzlichsten Verderben geknüpft sey! Ja, Clelia, ich hoffe, von dem Geschicke, das unsere Schritte so wunderbar geleitet, auch das Werkzeug erhalten zu haben, Euer theueres Leben zu retten! Laßt mich nur machen! Schon fühle ich mich von schöner Hoffnung belebt, mein alter Muth, mein Selbstvertrauen sind zurückgekehrt!«

Noch während er sprach, war er bereits beschäftigt gewesen, die einzelnen Fäden der Stricke, mit denen er sich umgürtet hatte, loszuwickeln. Er knüpfte sie aneinander, das Band, das er aus ihnen bildete, wuchs rasch zu einer bedeutenden Länge, obschon die herrschende Dunkelheit ihm seine Arbeit sehr erschwerte.

»Ihr habt Recht!« nahm indessen Clelia das Wort. »Die Pflicht der Selbsterhaltung, welche die Vorsehung in die Seele des Menschen gelegt, gebietet uns, auch das Letzte zu versuchen, wie der Schiffbrüchige nach einem dünnen Zweig greift, um, indem er sein Leben zu retten bemüht ist, den letzten Zoll des Dankes für dieses Geschenk abzutragen. Man hat mir von einem Mädchen des Alterthums erzählt, das ihrem Geliebten in einem ähnlichen Falle ein Gespinnst von ihren Händen mitgab, das ihn auch glücklich wieder an das Tageslicht zurückführte. Geht, Cornelius! Ihr müßt allein gehen, wie der Freund jenes Mädchens, denn ich darf die Arme nicht verlassen, die keiner weiteren Anstrengung fähig ist. Geht und sucht einen Rettungspfad! Aber wenn Ihr zurückkehrt und es ist Euch nicht gelungen, ihn zu finden, so laßt Euch nicht von allzu großem Schmerze ergreifen – Gott hat wohl noch andere Mittel, uns zu helfen, und die Stunden der Prüfung gehen schnell vorüber.«

»Ich bin darauf vorbereitet, allein zu gehen;« versetzte der junge Mann. »Auch Euere Kräfte dürfen nicht mehr erschöpft werden, als sie es schon sind. Es können Augenblicke kommen, in denen ein geringer Grad von mehr oder minderer Stärke über Leben und Tod entscheidet! Ja, Clelia, ich muß Euch verlassen; aber ich kehre hoffentlich als ein Bote der Rettung zurück. Dasselbe unbedeutende Werkzeug, das uns diese bringen kann, führt mich auch wieder in Euere beseligende Nähe.«

Unter diesen Worten hatte er das eine Ende des Fadens fest um den einzeln stehenden Pfahl geschlungen, den er für ein von Menschenhänden errichtetes Werk hielt. Oft stieg, während dieser Arbeit, der Gedanke in ihm auf, sein Versuch könne doch unnütz seyn, er könne ihn vielleicht ganz von Clelien trennen; aber er entfernte den quälenden Gedanken mit Gewalt aus seiner Brust und gab nur der Hoffnung Raum, Hülfe und Rettung zurückzubringen. Er sagte der Geliebten auch kein Lebewohl, er drückte ihr nur die Hand und der Gegendruck, den er empfand, erhöhete seinen Muth und sein Vertrauen. An dem Pfahle hatte er eine erhöhete Stelle gefunden, die ihm die Richtung zu bezeichnen schien, welche er nehmen müsse. Mit kühner Hoffnung auf sein gutes Glück trat er die zweifelhafte Wanderung an. Seine Hand hielt den verhängnißvollen Faden. Bald waren seine Schritte in den weiten Gewölben verhallt.

Clelia hatte ihnen nachgelauscht, so lange sie sie vernehmen konnte. Als sie verstummten, ergriff sie ein sehr natürliches Gefühl von Beängstigung, von Verlassenheit, das nur durch Philippintje’s Nähe, die sich durch die schweren Odemzüge der Schlafenden bemerklich machte, durch den Klang des in gemessenen Zwischenräumen niederfallenden Wassertropfens, einigermaßen beruhigt wurde. Die milde Luft, die in dem eingeschlossenen, gegen jeden Zudrang stürmischer Winde geschützten Raum herrschte, wirkte wohlthuend auf Clelien. Aber auch sie empfand die Folgen der Anstrengungen des Tages. Ihre Augenlieder sanken schwer herab und sie hatte Mühe, sich des Schlafes zu erwehren. Sie kämpfte dagegen, so sehr sie vermochte. Sie hielt mit Gewalt die Augen offen und starrte in die Dunkelheit. Allein selbst dieses angestrengte Hinschauen in eine gegenstandlose Finsterniß, die nichts bot, den Geist zerstreuend zu beleben, vermehrte ihre Abspannung. Endlich konnte sie nicht länger widerstehen. Wie aus weiter Ferne hörte sie noch einmal den Fall des Wassertropfens, Philippintje’s Odemzüge verstummeten vor ihrem Ohre: sie fiel in einen tiefen und festen Schlaf.

Mehrere Stunden mochten die beiden Frauen, in dieser ungestörten Abgeschiedenheit von der Welt, fortgeschlummert haben, als ein Geräusch in ihrer Nähe, ein Laut von menschlichen Stimmen sie plötzlich erweckte. Sie versuchten die Augen zu öffnen, aber ein blendender Lichtglanz, der ihnen entgegenstrahlte, nöthigte sie, diesen Versuch noch aufzuschieben.

»Cornelius, seyd Ihr es?« sagte in dem halblauten Tone einer eben Erwachten Clelia. »Habt Ihr den Ausgang gefunden, bringt Ihr Hülfe?«

Sie erhielt keine Antwort, aber, indem sie sich völlig ermunterte, vernahm sie das Flüstern mehrerer Menschen untereinander, sie hörte ihren Namen nennen von Stimmen, die ihr unbekannt waren. Endlich konnte sie den Glanz des Lichtes ertragen. Sie blickte auf, sie sah sich und Philippintje von mehreren fremden Männern umgeben, die sie mit dem Ausdrucke freudiger Ueberraschung in ihren Mienen betrachteten. Sie konnte sich nicht gleich fassen. Erst, als sie bei dem Glanze der brennenden Fackeln, mit denen einige von den Männern versehen waren, das weite, weiße Gewölbe über ihrem Haupte, die hochaufstrebenden Steinpfeiler zu beiden Seiten erkannte, kehrte die Erinnerung der vergangenen Ereignisse zurück. Jetzt nahm sie die Fremden näher in’s Auge. Zwei von diesen, junge wohlgekleidete Leute, traten ihr mit ehrerbietigem Anstande näher. Die übrigen blieben in einiger Entfernung stehen und schienen den Jünglingen untergeben.

»Ihr kennt uns nicht,« nahm einer von diesen mit sanfter, fast mädchenhafter Stimme das Wort: »aber wir kennen Euch wohl. Das wunderlichste Verhängniß führt uns in diesen unterirdischen Irrgängen zusammen und gewährt mir und meinem Freunde das Glück, Euch vielleicht einen Dienst zu leisten, indem wir zugleich eine Pflicht erfüllen, die uns gegen Eueren Vater, Heern Tobias van Vlieten, obliegt.«

»Ihr kommt von Heern Tobias?« rief Philippintje in halber Verwirrung. »Er schickt Euch, uns aus diesem höllischen Abgrunde zu erlösen? Der brave Mann! Das wird ihm nicht unvergolten bleiben in seinem Liebsten: im Handel und Wandel.«

Clelia war aufgestanden. Sie fühlte sich sehr ermattet, ihre Glieder zitterten. Mit Erstaunen vernahm sie die Worte des fremden Jünglings. Der Glanz weiblicher Würde, der ihr ganzes Wesen umgab, machte einen unbeschreiblichen Eindruck auf die jungen Männer. Wäre sie eine Königin gewesen, so hätte sie ihnen keine tiefere Ehrerbietung einflösen können. Die zwei Leydener Studenten – wer von unsern Lesern hätte sie nicht schon erkannt? – waren mit dem Vorsatze den Flüchtlingen gefolgt, ihr Unternehmen, wenn sich die Gelegenheit böte, mit jener Leichtigkeit und jenem Uebermuthe auszuführen, zu dem sie sich durch den leichtsinnigen Schritt, der Clelien aus dem väterlichen Hause entfernt, berechtigt glaubten. Vielleicht hatte der entzündliche La Paix sogar eine leise Hoffnung gehegt, dem bevorstehenden Abentheuer noch einen süßern Lohn abzugewinnen! Als sie aber jetzt das schöne bleiche Mädchen vor sich sahen, mit der Hoheit der Unschuld in Blick und Miene, waren ihre Gesinnungen plötzlich umgewandelt. Beide nahmen sich, ohne ein Wort darüber zu wechseln, vor, dem Versprechen, das sie dem Professor gegeben, zwar getreu zu bleiben, Clelien aber in der aufmerksamsten und achtungsvollsten Weise zurückzubegleiten.

 

Diese hatte indessen, während sie sich leicht auf Philippintje’s Schulter stützte, über die Erscheinung der Fremden nachgedacht. Die Begebenheit in dem einsam gelegenen Gehöf kam ihr in den Sinn und eine Ahnung der Wahrheit, daß sie dieselben Verfolger vor sich sehe, denen sie damals glücklich entgangen, drang sich ihr auf. Ihr Kopf schmerzte sie sehr. Der zartgebaute Körper empfand die Folgen der Anstrengungen und Entbehrungen, der Schrecken und Besorgnisse, welche der vergangene Tag und der noch stürmischere Abend im Geleite gehabt hatten.

»Mein Vater?« hob sie nach einer Pause mit schwacher Stimme an: »Er sollte Euch senden? Ihr hättet Pflichten gegen ihn? Unbegreiflich!« fuhr sie kopfschüttelnd fort. »Ich sah Euch noch nie. Unter den Freunden und Bekannten meines Vaters, welche unser Haus besuchten, erinnere ich mich nicht, jemals Euch begegnet zu haben.«

»Cadédis!« erwiederte Le Vaillant in einem minder lauten Tone, als gewöhnlich. »Wir sind auch nicht von den ordinären guten Freunden, die immer da sind, wo es einen Löffel Suppe oder eine Schale Thee giebt. Wir sind von der besten Sorte: Freunde in der Noth, und ich glaube, daß Ihr, edle Jungfrau, in diesem Augenblicke Gelegenheit hättet, dieses zu bemerken, wenn Ihr nur bedenken wolltet, daß ohne unsere Ankunft die Zeit Euch noch unendlich lang hätte werden können in diesem labyrinthischen Souterain, in das wir uns nur mit dem Beistande kundiger Führer gewagt.«

»Verzeihet, Jungfrau van Vlieten!« unterbrach La Paix seinen Gefährten, der noch weiter sprechen wollte: »mein Freund meint es sehr gut, aber er fehlt oft in der Wahl der Ausdrücke und es könnte dann scheinen, als vergesse er der Achtung, die er Euch schuldig ist. Hört mich an! Ich will Euch Alles aufrichtig und unumwunden erzählen, wie es sich verhält. Wir haben Euerem Vater versprochen, Euch zurückzubringen, wir verfolgten Euch auf dem Kutter, der bei der Barke eintraf, als gerade das spanische Schiff in die Luft flog, wir verfehlten Euch dann immer, bis wir gestern Nachmittags Euch in jener ländlichen Wohnung anlangen sahen, aus der ihr uns wiederum auf eine fast unerklärliche Weise entkamet. Wir mußten auf’s Neue unsere Verfolgung beginnen. Vor dem Petersberge langten wir gerade an, um einige Minuten lang in die allgemeine Flucht der zurückgeschlagenen Stürmenden fortgerissen zu werden. Als es uns gelungen war, uns dem Gedränge zu entziehen, ließ uns ein glücklicher Zufall Euer Gepäck, Kleidungsstücke, die mit Euerem Namen bezeichnet waren, finden. Indem wir bei’m Scheine der Leuchtkugeln beschäftigt waren, es näher zu untersuchen, sprangen einige französische Marodeurs auf uns ein, behaupteten, diese Beute gehöre mit Recht ihnen, da sie die beiden Frauen nebst ihrem Begleiter, der das Gepäck abgeworfen, bis zu dem kleineren Eingange des Petersberges verfolgt, sich aber aus Vorsicht nicht in diesen, den Flüchtlingen nach, gewagt hätten. Ihr mußtet gerade hier angekommen seyn, als der erste Angriff statt gefunden hatte. Nichts dünkte uns wahrscheinlicher, als daß Ihr, abgedrängt von der Stadt, verfolgt von den habgierigen Marodeurs, Schutz in diesen unterirdischen Gängen, deren Gefahren Euch unbekannt waren, gesucht haben möchtet! Ich gestehe es Euch, edle Jungfrau, daß wir von der tödlichsten Besorgniß um Euer Schicksal ergriffen wurden. Erst als es ein wenig ruhiger geworden war in den Umgebungen des Berges, als der Tag anfing zu grauen, glückte es uns Leute zu finden, die mit den unzählichen Höhlenwindungen dieses unterirdischen Gebietes vertraut sind. Früher, als wir es hofften, hat uns ein günstiger Zufall in Euere Nähe geführt und es bleibt uns nur die Bitte übrig, daß Euch gefallen möge, Euch sogleich mit uns auf den Weg in Euere Heimath zu begeben. So ist es nicht allein mein Wunsch, so ist es der Wille Eueres Vaters, wie ihn diese Zeilen aussprechen.«

»O fort, fort!« rief Philippintje, die noch immer von Grauen erfüllt wurde, sobald sie in den dunkeln Hintergrund der Gänge blickte. »Fort aus der Hölle in’s Paradies, aus diesem öden Grabe zu den Fleischtöpfen des Heern van Vlieten! Laßt uns nicht zaudern, die Fackeln brennen herab und wenn noch einmal die entsetzliche Dunkelheit einbricht, so ist es um mein Leben geschehen!«

Cleliens Schwäche hatte unter der Rede des Studenten zugenommen. Sie vernahm seine Worte nur halb laut, sie begriff nur weniges von dem, was er sagte. Ein unerträglicher Druck lag ihr im Kopfe. Sie hielt den Zettel, den er ihr überreicht hatte, fast besinnungslos in der Rechten. Mit einer letzten, äußersten Anstrengung führte sie ihn vor die Augen. Sie erkannte die Hand ihres Vaters, sie verstand in einem flüchtigen Aufglimmen ihrer geistigen Kräfte seinen Inhalt, dann ließ sie ihn matt zur Erde fallen und sank selbst ohnmächtig zurück auf den Steinsitz.

Philippintje schrie laut auf, aber La Paix, der in der That bemerkt, daß das Niederbrennen der Fackeln jeden längeren Aufenthalt gefährlich machte, bemächtigte sich, ohne weiteres Besinnen, der schönen Ohnmächtigen und trug sie in seinen Armen nach der Richtung fort, die dem von Cornelius eingeschlagenen Wege entgegengesetzt war. Die Führer eilten mit flüchtigen Schritten voraus. Zum erstenmale dachte Philippintje jetzt an den Junker, der während ihres Schlafes abhanden gekommen war. Ihr Mitleid erwachte. Sollte er denn Hungers sterben in der grauenvollen Dunkelheit, während sie und Clelia gerettet der Heimath zueilten? Sie fing an laut zu jammern, sie rief seinen Namen; da aber gebot ihr Le Vaillant in einem so herrischen Tone zu schweigen, daß sie eingeschüchtert verstummte. Keuchend folgte sie den voraneilenden Männern. Bald war es still geworden an der Stelle, wo noch Cornelius Faden an dem Tropfsteingebild hing. Nur der fallende Tropfen wiederholte eintönig und abgemessen seinen tausendjährigen Klang.