Sammlerherz

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4

Vom „Pussicat“ war es nicht weit bis zu Noras Straße. Nach der Rückkehr von ihrer Auszeit hatte sie sich eine eigene Wohnung gesucht und die Scheidung von Ralf eingereicht. Während des schon vor der Trennung geplanten Sabbatjahres war ihr klar geworden, dass sie nicht ewig bei Sanne wohnen konnte. Zwar weilte ihre Freundin als freie Fotografin oft für ihre Auftraggeber im Ausland und die Wohnung stand dann leer, aber zu Noras neuem Leben mussten auch eigene vier Wände gehören. Das vierstöckige Gründerzeithaus, vor dem sie nun Halt machte, war vor mehreren Jahren saniert worden und befand sich mitten in der Altstadt. Nora konnte zu Fuß zur Arbeit gehen. Diesen Luxus genoss sie nach all den Jahren der Fahrerei zwischen Hickelshagen und Neustadt. Sie hatte etliche Möbelstücke aus dem Haus, das sie mit Ralf in dem kleinen Dorf bewohnt hatte, mitgenommen. Deshalb war ihr die neue Wohnung von Anfang an vertraut gewesen und sie hatte sich gleich wohlgefühlt. Auch jetzt schloss sie mit einem Lächeln auf den Lippen die Tür auf, zog ihre Schuhe aus und ging barfuß in die Küche, um sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu nehmen. Dann spazierte sie wie gewohnt einmal durch alle drei Räume, wie zu einer Inspektion. Im Wohnzimmer öffnete sie das Fenster und legte die Decke auf der karierten Couch ordentlich zusammen. Im Schlafzimmer sammelte sie schmutzige Wäsche ein, um sie in die Waschmaschine zu stecken. Vom Arbeitszimmer, in dem auch ein Gästebett stand, öffnete sie nur kurz die Tür. Sie warf einen Blick auf die Büste, die dort stand, und wie immer musste sie an Max denken. Wehmütig kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf das Sofa. Max. Er war der Schöpfer ihrer Porträtbüste. Sie hatte den Bildhauer nach ihrer Trennung von Ralf kennengelernt. Noch bevor sie ihre dreimonatige Auszeit begonnen hatte, war ihr bewusst geworden, dass sie sich ganz unverhofft verliebt hatte. Seine Zuneigung und Aufmerksamkeit hatten sie überrascht und überwältigt. Es war ein schönes Gefühl, das Nora wie ein Geschenk empfand und dankbar annahm. Max hatte ihr letztendlich über die Trennung von Ralf hinweggeholfen. Als sie von Island, wo sie ihre Tochter besucht hatte, und von Mallorca zurückgekehrt war, hatte ein Leben mit Max auf sie gewartet. Eine intensive Zeit hatte begonnen, in der sie beide viel arbeiteten und in der viel passierte: Noras Umzug, Günthers Rausschmiss, Max’ Ausstellungen. Max Henneberg war ein sehr einfühlsamer Mensch, einer, mit dem sie lachte und weinte. Er vereinte alle Eigenschaften, die sie sich bei einem Partner nur wünschen konnte. Er war ein großartiger Zuhörer, teilte ihre Ansichten zu Kunst und Kultur, war zärtlich und aufmerksam. Sie war gern mit ihm zusammen und hatte gedacht, das könne er sein, der zweite Versuch, mit einem Mann alt zu werden. Aber Max war rastlos. Jahrelang war er in der Welt umhergezogen, bevor es ihn nach Neustadt verschlagen hatte. Er hatte auch geglaubt, dass er hier in Neustadt für immer ein Zuhause gefunden hätte. Doch nach einigen Monaten bemerkte Nora eine ungewohnte Unruhe bei ihm. Zuerst fiel ihr auf, dass er kaum noch arbeitete. Er verwarf ein Stück nach dem anderen, und in seinem Atelier stapelte sich das verdorbene Holz. Er war mit den Gedanken woanders. Wenn sie mit ihm redete, und selbst wenn sie nachts in seinen Armen lag, starrte er an die Decke. Als sie ihn darauf ansprach, wich er ihr aus. Dann erhielt er überraschend ein Angebot aus München. Er sollte für zwei Jahre ein Bildhauerprojekt für Jugendliche in der bayrischen Hauptstadt und in Wladiwostok in Russland leiten. Er war sofort Feuer und Flamme für diese Herausforderung, die auch ein gesichertes Einkommen bedeuten würde. Er tat sich zwar noch schwer mit der endgültigen Entscheidung, aber Nora wusste von Anfang an, dass sie ihn nicht aufhalten konnte. Er würde weiterziehen, so wie er es immer getan hatte. Er fragte Nora, ob sie mitkäme, aber sie lehnte seinen Vorschlag kategorisch ab. Sie würde in München keine Arbeit finden, als nicht promovierte Kulturwissenschaftlerin mit dreiundfünfzig Jahren! Und in Wladiwostok wartete bestimmt auch niemand auf sie. Zunächst versuchten sie noch, die Fernbeziehung aufrechtzuerhalten, aber dann wurden seine Anrufe seltener. Seit er monatelang in Russland arbeitete, war der Kontakt so gut wie abgebrochen, zumal die Skype-Verbindung schlecht war. Und so lebte Nora wieder allein. Am liebsten wäre sie zu Sanne gezogen, die es wunderbar verstand, sie zu trösten. Inzwischen hatte sie sich fast damit abgefunden, allein zu leben, und schließlich bot das Singledasein ja auch Vorteile. Immerhin hatte sie eine Familie – ihre Tochter, Mutter und Schwester – und eine Handvoll Freunde. Nur manchmal, wenn sie nachts aufwachte und in der Dunkelheit mit der Hand über die kalte, leere Betthälfte strich, überkam sie eine große, angsteinflößende Traurigkeit. Die Luft wurde ihr abgeschnürt, und sie fühlte sich wie ein einsamer Astronaut in seiner Raumkapsel, der verloren durch das Weltall schwebte. Am Morgen vertrieb sie die Düsternis mit Gedanken an ihre Arbeit, die sie nach wie vor gern machte. Nach dem Frühstück rannte sie fast auf die Straße, um sich unter die Passanten zu mischen und der Einsamkeit zu entkommen.

5

Am anderen Ende der Leitung erscholl die fröhliche Stimme von Bettina, der Kollegin aus dem Stadtarchiv. Nora hatte sie gleich angerufen, nachdem sie im Büro angekommen war. „Willst du denn den ganzen Nachlass von Wilhelmine Ernst noch einmal durchsehen?“, fragte Bettina ungläubig. „Das hast du doch schon dreimal hin und her gewälzt … und ich auch“, fügte sie hinzu. „Mich hast du längst angesteckt mit deinem Bildersuchfieber.“

„Ja!“, erwiderte Nora bestimmt. „Ich muss irgendwas übersehen haben. Ich will wissen, wo die restlichen Werke sind. Sie muss noch mehr gemalt haben. Vielleicht hat sie doch noch woanders gewohnt oder wir spüren Personen auf, die mit ihr bekannt waren. Vielleicht hatte sie Freundinnen, in deren Nachlässen sich Bilder finden. Können wir das herausbekommen?“

Bettina überlegte. „Wir sollten zuerst die Listen der Schülerinnen des Lyzeums durchgehen und die Akten, die damit in Zusammenhang stehen. So kommen wir an eventuelle Schulfreundinnen heran. Vielleicht gibt es Fotos. Und dann müsstest du unbedingt noch mal die Zeitungen durchstöbern, besonders die aus Wilhelmines letzten zehn Lebensjahren, die sie ja hier in Neustadt verbracht hat. Vielleicht gibt es Berichte über Ausstellungen.“

„Gut, dann lass uns das so machen“, meinte Nora entschlossen. Sie überlegte kurz, wie sie Bettina die Sache mit der Gräfin erklären sollte. „Okay, dann wäre da noch etwas: Ich suche die Gräfin Hermine von Rattau, die ab 1888 in Neustadt gelebt hat. Sie muss ungefähr Jahrgang 1865 gewesen sein. Können wir herausfinden, was aus ihr geworden ist oder ob es eventuell einen Nachlass von ihr gibt?“

Aber Bettina fragte nicht weiter nach, sondern versprach, sich um den Fall zu kümmern.

„Wie schnell schaffst du es, mir die Akten rauszusuchen?“

„Spätestens Montag kannst du kommen. Ich ruf dich an“, erwiderte die Archivarin und legte auf.

Nora trug den Termin in ihren Kalender ein, klemmte sich ihr Notizheft unter den Arm und machte sich auf den Weg.

Wie jeden Mittwoch hatte Josefine Kürlein zur Dienstberatung geladen. Nora beeilte sich, das Büro unter dem Dach der Villa zu erreichen. Bei ihrer Chefin kam man besser nicht zu spät. Sie hatte bereits die letzte Treppenstufe erreicht, da passierte das, was sie ständig befürchtete und nicht in den Griff bekam: Ein Schweißausbruch kündigte sich an. Das fehlte gerade noch! Nora hielt inne, um zu verschnaufen. Doch das nützte nichts. Das Wasser schoss ihr aus allen Poren, die Bluse klebte an ihrem Rücken und sie spürte, wie sich ein Rinnsal zwischen den Brüsten seinen Weg zum Bauchnabel suchte. Das kitzelte, aber ihr war nicht nach Lachen zumute. Wahrscheinlich sah sie wieder puterrot aus, und auch die Haare im Nacken waren klatschnass. Mit vor Wut zitternden Händen fingerte sie ein Tempotaschentuch aus der Hosentasche, um sich notdürftig abzutupfen. Wechseljahre! Was sollte das überhaupt? Warum hatte die Natur diese sinnlosen Schweißausbrüche für Frauen ihres Alters vorgesehen? Tief einatmend klopfte sie eine Minute vor zehn an die Tür und trat ein. Sofort drang ein komischer Geruch in ihre Nase, so als hätte jemand Räucherstäbchen abgebrannt. Was hatte das zu bedeuten? Josefine Kürlein thronte hinter ihrem Schreibtisch. Leo und die Magazinmeisterin Andrea saßen an einem kleinen, runden Tisch unterm Fenster. Nora setzte sich ebenfalls, leicht außer Puste.

„So, dann sind wir ja vollzählig. Ich begrüße Sie noch einmal“, sagte ihre Chefin steif.

Nora dachte sofort an Günthers lockere Art, mit seinen Mitarbeitern umzugehen. In solchen Momenten vermisste sie ihn. Sie wurde einfach nicht warm mit Frau Dr. Kürlein. Deren Hosenanzug war heute grau. Sie musste eine Unmenge davon besitzen. Ihre Haare hatte sie streng zum Dutt gebunden. Nicht eine Strähne wagte es herauszufallen. Die Farbe ihrer Kleidung unterstrich ihre Blässe, denn geschminkt war sie nicht. Auch das Büro, das früher Günther gehört hatte, hatte sie umgestaltet. An den Wänden hing jetzt abstrakte Kunst, kalte Farben dominierten, das passte zu ihr. Nora stöhnte lautlos und bemühte sich, wieder zuzuhören. Gerade bekam Leo sein Fett weg.

„Schreiben Sie einfach am Ende der Woche auf, was Sie gemacht, welche Bilder Sie wie restauriert haben. Das kann ja nicht so schlimm sein“, setzte Josefine Kürlein hinzu, als Leo entrüstet einwarf, dass er keine Sekretärin sei. „In anderen Museen ist das ganz normal. Einen Wochenplan braucht schließlich jeder. Sie werden sich schon daran gewöhnen. Und vergessen Sie nicht, mir Ihren Bericht jeden Freitag zuzusenden!“

 

Nora schielte zu Leo und hob eine Augenbraue. Siehst du, sagte ihr Blick, ich hab es ja gesagt, die ist ein Kontrollfreak. Wahrscheinlich ging sie auch kontrolliert pinkeln, dachte Nora bissig. Dann war sie selbst an der Reihe und berichtete von ihrem Vorhaben, noch einmal die Akten im Stadtarchiv zu durchkämmen.

„Hätten Sie das nicht gleich gründlicher machen können?“

„Hätte ich, hab ich aber nicht!“, konterte Nora patzig, worauf ihre Chefin sie mit undurchdringlicher Miene ansah. Meine Güte! Was war daran so schlimm, dass sie noch einmal hinging? Forschen gehörte schließlich zu ihrer Arbeit. Günther hätte ihre Methoden nie hinterfragt.

„Gut, dann berichten Sie beim nächsten Mal, ob Sie noch etwas herausgefunden haben“, lenkte ihre Chefin nun erstaunlicherweise ein. „Dann sollten wir uns wohl langsam Gedanken um die Vernissage machen. Ich …“ Weiter kam sie nicht, denn ihr Telefon klingelte. Genervt nahm Josefine Kürlein den Hörer ab. Nora konnte sich die Schadenfreude nicht verbeißen, als sie Zeugin wurde, wie ihre Chefin die Schneekönigin abblitzen ließ. „Nein, Frau Barkow, jetzt passt es nicht. Heute Nachmittag hätte ich Zeit, so gegen zwei. Was? Dann können Sie nicht? Dann scheint es ja nicht so wichtig zu sein. Einen schönen Tag noch!“ Damit schmiss sie den Hörer auf. Nora wusste, dass die Schneekönigin Günther unheimlich getriezt hatte. Ihre Chefin war allerdings ziemlich mutig, die Bürgermeisterin so abzubürsten. Wenn ihr das mal nicht auf die Füße fiel! Eine halbe Stunde später kehrte Nora nachdenklich in ihr Arbeitszimmer zurück.

6

Karl saß mit einem Glas Wein auf seiner Couch im Arbeitszimmer und betrachtete andächtig seine neueste Errungenschaft. Das Gemälde war wirklich wunderschön. Er war froh, dass er es so leicht bekommen hatte. Es besaß die richtige Größe, um hier noch einem Platz zu finden. Er hätte es aber sowieso gekauft. Es war ein wichtiges Werk im Schaffen der Malerin, ein Meilenstein in der Entwicklung ihrer Porträts. Wie sie mit den Farben gespielt hatte! Wie sie mit wenigen Strichen das ausdrucksvolle Gesicht gestaltet hatte! Das war meisterhaft. Karl hoffte, dass sie irgendwann mehr Anerkennung erlangen würde. Er nahm noch einen Schluck Wein. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, auf dem ein Stapel Aufsätze seiner Schüler lag. Den müsste er wirklich bald abarbeiten. Seit er nach den Winterferien wieder zurück in Berlin war, raste die Zeit. Die Tage in der Schule waren prall gefüllt, sodass er kaum zu etwas anderem kam. Sechs Monate in Kambodscha hatten sein Leben irgendwie entschleunigt, um jetzt noch schneller zu vergehen. Er hatte in Kampong Chang, der Provinzhauptstadt im Süden, ein Projekt geleitet, in dem deutsche und kambodschanische Künstler gemeinsam arbeiteten und ausstellten. Die Vernissage war ein großer Erfolg gewesen. Am Ende aber wollte er nur noch nach Hause. Dabei hatte ihm das Land gut gefallen. Hitze, wie er sie dort erlebt hatte, störte ihn nicht, und auch mit den einfachen Verhältnissen war er klargekommen. An die plötzlichen Stromausfälle, selbst in der Hauptstadt, gewöhnte man sich. Die überwältigende Gastfreundschaft, die atemberaubende Landschaft und die exotischen Früchte, für die es nicht mal englische, geschweige denn deutsche Namen gab, entschädigten für alle Widrigkeiten. Und natürlich Thida. Bei dem Gedanken an sie krampfte sich sein Herz zusammen. Er hatte sich verliebt, schon in der ersten Woche. Thida hieß eine der Künstlerinnen, die von der kambodschanischen Seite für das Projekt ausgewählt worden waren. Sie war Bildhauerin. Karl staunte, wie diese zierliche Frau mit den langen seidigen, schwarzen Haaren mit dem Schnitzmesser und dem Stechbeitel umging. Sie schuf Figuren, die an traditionelle Kunst anknüpften, aber gleichzeitig auch sehr modern waren. Sie war wesentlich jünger als Karl, und er musste zugeben, dass er sich geschmeichelt fühlte. Von Anfang an hatte sie keinen Hehl daraus gemacht, dass er ihr gefiel. Nicht einmal zwei Wochen waren vergangen, da hatte sie abends an seine Tür geklopft. Auch in dieser Hinsicht war sie moderner als ihre Kolleginnen. Ihre Beziehung hatte genau bis einen Monat vor der Vernissage gedauert. Dann hatte er endlich kapiert, dass er nicht der Einzige war, dem Thida ihre Gunst schenkte. Verletzt und verbittert hatte er seine Wut nur mühsam im Zaum halten können. Er wollte nicht glauben, dass ihm so etwas passiert war. Dabei hatte er schon Zukunftspläne geschmiedet und sich für ein weiteres Projekt in Kambodscha beworben. Er hatte Thida allerdings nichts davon erzählt, wollte sie überraschen, wenn es geklappt hätte. Ihre Wortkargheit in den letzten Wochen vor der Vernissage hatte er auf ihre Traurigkeit angesichts der bevorstehenden Trennung geschoben. Wie dumm er doch gewesen war! Er hatte sich benommen wie ein verliebter, alter Gockel. Am Ende war es wie immer gewesen: Die Frauen ließen ihn sitzen, so wie sie es seit jeher getan hatten. Diese unumstößliche Tatsache war ihm quasi in die Wiege gelegt worden, dachte er zornig und goss sich Wein nach. Seine Mutter hatte ihn gleich nach der Geburt verlassen und seine Frau nach zehn Ehejahren. Auch Karls Beziehung mit einer Kollegin war nach kurzer Zeit in die Brüche gegangen. Er sollte einfach die Finger von den Frauen lassen, man konnte sich doch nie sicher sein, ob sie einen nicht bloß wieder betrogen.

7

Wie jede Woche fuhr Nora in ihr altes Heimatdorf, nach Friedrichshagen. Seit ihr Vater im letzten Jahr gestorben war, wohnte ihre Mutter in einer kleinen Einliegerwohnung bei Hanna und ihrem Mann Anton. Das Haus, in dem Nora und ihre Schwester die Kindheit verbracht und in welchem schon ihre Großeltern gewohnt hatten, war verkauft worden. Es hatte ihr nicht gepasst, und immer, wenn sie daran vorbeifuhr und fremde Menschen im Garten sah, versetzte es ihr einen Stich. Es war schon seltsam, nicht mehr im Elternhaus ein und aus gehen zu können. Natürlich hatte sie eingesehen, dass ihre Mutter dort allein nicht mehr zurechtkam. Der Tod ihres Vaters hatte Nora mehr zu schaffen gemacht, als sie zugegeben hätte. Sicher, er war sehr alt gewesen und sie selbst hatte dieses einschneidende Ereignis auch ziemlich spät im Leben getroffen. Andere verloren ihre Eltern viel früher. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass nun die Generation vor ihr von der Bühne des Lebens abtrat und sie unweigerlich die Nächste war, die gehen würde. Sie hatte ihre Eltern immer zusammen erlebt, nie getrennt. Nun war da nur noch eine Hälfte, ein Teil eines ehemals Ganzen, unvollständig und rudimentär. Merkwürdigerweise dachte sie jeden Tag an ihren Vater. Meistens nur flüchtig, mit einem Wort: Papa. Das war vor seinem Tod nicht so gewesen. Jetzt, nach einem Jahr, hatte sie sich daran gewöhnt, dass dieser eine Gedanke spätestens vor dem Einschlafen zu ihr kam, als würde der Tag sonst nicht zu Ende gehen können. Die unerklärliche, ungerechtfertigte und verwirrende Wut auf ihre Mutter, die nun einzeln, nur noch halb und unvollständig daherkam, hatte sich gelegt. Über dieses eigenartige Gefühl hatte sie nur mit Max gesprochen und war froh, dass es vorbei war.

Nora hielt vor dem schönen, neuen Eigenheim ihrer Schwester und ihres Schwagers, die erst vor achtzehn Monaten von Neustadt nach Friedrichshagen gezogen waren. Die beiden waren noch nicht zu Hause, der Carport leer. Leise öffnete Nora die Tür zur Wohnung ihrer Mutter, um sie nicht zu erschrecken, falls sie eingeschlafen war. Aber ihre Mutter saß, wie fast immer, im Sessel und las. Das Zimmer sah genauso aus wie das in ihrem alten Haus, und für einen Moment gab Nora sich der Illusion hin, in der Kate im Heuweg zu stehen. Die Vitrine mit dem guten Porzellan und der Schrank aus dem neunzehnten Jahrhundert mit den Schnitzereien waren auf Hochglanz poliert. Nora klopfte laut an die Wohnzimmertür.

„Kind, da bist du ja!“ Noras Mutter erhob sich schwerfällig und umarmte ihre Tochter. „Schön übrigens, dass du wieder im Lande bist!“ Sie lächelte verschmitzt und ging voran in die kleine Küche.

„Aber das bin ich doch schon seit letztem Jahr, Mutti!“ Nora schüttelte den Kopf.

„Ja. Trotzdem. Ich hab euch lieber in meiner Nähe. Bin eben eine alte Frau.“ Ihre Mutter trug nach wie vor einen Zopf. Nora kannte sie nicht anders. Manchmal steckte sie ihn zu einem Dutt auf. Aber heute hing er ihr schwer über der Schulter. Das dicke Haar hatte ihre Mutter leider nur Hanna vererbt, genauso wie die Vorliebe für Röcke und Kleider. Sie setzte Kaffeewasser auf und erzählte Nora vom Rentnertreff bei der Volkssolidarität und welche Bücher sie gelesen hatte. „Und nächste Woche kommen wir zu dir in die Galerie. Frau Peters hat einen Bus bestellt. Dann kann ich mir endlich die neue Ausstellung zur Stadtgeschichte ansehen, dazu bin ich ja noch nicht gekommen.“

Das war das Stichwort für Nora. Sie erzählte ihrer Mutter alles, was ihr über Wilhelmine bekannt war, außer natürlich von dem Tagebuch – da machte sie keine Ausnahme. Ihre Mutter wusste zwar über die Ausstellung Bescheid, aber über Einzelheiten hatte Nora nicht mit ihr geredet. Dazu war nie Zeit gewesen. „Also, Mutti, hast du vielleicht mal irgendwann etwas von Wilhelmine Ernst gehört, die ein paar Jahre bevor du mit Oma und Opa nach Neustadt gezogen bist, gestorben ist?“

„Gehört schon, also den Familiennamen kenne ich natürlich. Die Leute waren ja sehr wohlhabend. Soviel ich weiß, sind die Verwandten von deiner Wilhelmine fünfundvierzig in den Westen gegangen. Die wohnten ja sowieso nicht in Neustadt. Ihre Mutter lebte nicht mehr, das Haus war schon lange verlassen. Bis zum Kriegsende kam ihr Bruder manchmal, um nach dem Rechten zu sehen.“

„Hm, wo mögen dann die ganzen Bilder geblieben sein? Was haben sie damit gemacht, nachdem Wilhelmine tot war?“

„Das weiß ich leider auch nicht. Aber wie ich dich kenne, hast du schon einen Plan, um es herauszufinden.“

Nora lachte. „Ich versuch’s!“

8

„Du brauchst dich wirklich um gar nichts zu kümmern, Mutti. Glaub mir, wir haben alles im Griff!“ Bea strahlte ihre Mutter vom Bildschirm an. Nora würde sich nie an die Tatsache gewöhnen, dass sie ihre Tochter die meiste Zeit nur mithilfe von Skype sprechen konnte. Selbst jetzt, als es um die Hochzeitsvorbereitungen ging, war sie fern, in Island. Und dort würde sie auch vorläufig bleiben, denn wenn sie mit Bragi verheiratet war, wohnte sie auf jeden Fall in Reykjavik und würde ihren Buchladen weiterführen.

Erst vor acht Wochen hatte Bea ihre Familie mit der Botschaft überrascht, heiraten zu wollen. Die Feier sollte in einem kleinen Hotel auf der Insel Rügen, die Trauung am Strand stattfinden. Nur die Angehörigen und ein paar Freunde des Paares würden anwesend sein. Das Hotel wurde von Beas Schulfreundin Anna geführt. Angeblich war also für alles gesorgt. „Ich hätte auch hier geheiratet, aber Bragi wollte unbedingt in Deutschland. Ist vielleicht besser so. Dann ist die Reise für Oma Else nicht so anstrengend. Bragis Geschwistern ist es egal, und seine Eltern leben ja nicht mehr. Du kennst seine Schwäche für alles Deutsche. Anna hat ihm lauter angeblich traditionellen Firlefanz versprochen, wie Schleierabtanzen und Brautstraußfangen.“ Bea lachte, als sie fortfuhr: „Nur von der Entführung der Braut weiß er noch nichts.“

Nora war verwundert, dass ihre Tochter plötzlich für solche Sachen zu haben war. Früher hatte sie über alles, was mit Hochzeit zusammenhing, gewitzelt. Aber wenn man verliebt war, änderte sich natürlich in dieser Hinsicht manche Einstellung. So sehr Nora sich für ihre Tochter freute, beschäftigte sie doch die Frage, wie das Zusammentreffen mit Ralf verlaufen würde. Sie wusste nicht, ob er mit Jana und dem Kind käme. Sie hatte Bea nicht gefragt, weil sie sich vor der Antwort fürchtete. Seit ihrer Trennung vor fast zwei Jahren hatte sie ihren Ex-Mann nicht oft gesehen. Nur wenn Formalitäten wegen der Scheidung oder des Hauses zu klären waren, trafen sie sich. Er hatte seine Tierarztpraxis nicht wie geplant verkauft, sondern arbeitete mit nunmehr zweiundsechzig immer noch. Er war wieder Vater geworden und der Kleine nicht einmal eineinhalb. Die Tatsache, dass er einen Sohn bekommen hatte, kränkte Nora. Wünschten Männer sich nicht Söhne? Auf der Suche nach Gründen für das Scheitern ihrer Ehe war sie – bar jeder Vernunft und Rationalität – auf die Idee gekommen, dass er nach Bea noch ein Kind wollte, das Nora ihm nicht mehr hatte geben können. Sanne hatte ihr einen Vogel gezeigt und sie gefragt, in welchem Jahrhundert sie lebe. Wie auch immer, Nora würde die Hochzeit schon irgendwie überstehen.

 

Als hätte Bea trotz der Entfernung ihre Gedanken gelesen, ermutigte sie Nora: „Wir werden bestimmt viel Spaß haben. Bragis Verwandte sind lustig, besonders sein Onkel Sigurd. Und den kennst du ja schon.“

Nora fügte sich. Das konnte ja heiter werden.

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