"Man treibt sie in die Wüste"

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Teil I

Biografie

Clara17 erblickte am 5. Juli 1884 in Buchs SG als erstes Kind des Johann Paravicin Hilty von Werdenberg18 und der Hanna, geb. Ernst von Winterthur, das Licht der Welt. Sie wuchs mit ihren zwei Geschwistern wohlbehütet im Elternhaus am Werdenbergersee auf. Sie stammt aus einem uralten Werdenberger Bürgergeschlecht. Professor Carl Hilty, ihr Großonkel, war erster Vertreter der Schweiz am Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag, und die letzte Schlossherrin Frieda Hilty war auch eine Verwandte von Clara.

Wie damals alle Mädchen aus «besserem Hause» verbrachte Clara ein Institutsjahr im Pensionat in der Villa Yalta. Dort befreundete sie sich mit Marie Heim-Vögtlin19, der ersten Ärztin in der Schweiz, und die gemeinsamen Spaziergänge, der rege Gedanken­austausch zwischen den beiden Frauen hatte einen entscheidenden und nachhaltigen Einfluss auf das Denken der jungen Clara. Die weltoffene Haltung, durch die sich Clara zeitlebens auszeichnete, hat sie vornehmlich ihrer Freundschaft mit Marie Heim-Vögtlin zu verdanken.


Werdenberg 1908. Clara Hilty mit 22 Jahren.

Nach Abschluss der École supérieure in Neuchâtel ging Clara in die Schweizer Pflegerinnenschule Zürich, wo sie und ihre Freundin Lis Sigrist zu Krankenschwestern ausgebildet wurden. Anschließend arbeitete Clara im Spital Grabs unter dem Chefarzt Dr. Weiss. Durch Lis lernte Clara deren Bruder, den Ingenieur Fritz Sigrist von Netstal, kennen, der seit 1910 in der Türkei am Bau der Bagdadbahn tätig war. Als Fritz im Jahr 1914 wieder einmal die Schweiz besuchte, verlobten sich Clara und Fritz, und nach einem Jahr, am 26. April 1915, fand ihre Hochzeit statt.

Unmittelbar nach der Trauung folgte Clara ihrem Mann in die Türkei, die als Verbündete von Deutschland in den Ersten Weltkrieg eingetreten war. Die Neuvermählten fuhren von Werdenberg mit der Eisenbahn durch das Kriegsgebiet über den Balkan und dann via Istanbul in die Südost-Türkei, wo sie sich zuerst in Entilli und nach einigen Monaten in Keller / Fevzipaşa in einem alleinstehenden Häuschen auf einer felsigen Anhöhe am Fuße des Amanus niederließen. Keller, ein kleines, gebirgiges Dorf, bevölkert vornehmlich von Kurden, aber auch von Türken, Arabern und Armeniern, war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt am Rande des Amanusgebirges. Vom Fenster ihres Häuschens aus hatte Clara einen Blick auf die schöne kilikische Berglandschaft, aber auch in die tief unter ihnen liegende Ebene, wo sie Transporte von Militär und Kriegsmaterial und auf der Etappenstraße ganze Züge von englischen und indischen Gefangenen sehen konnte. Der jungen Schweizerin wurde bald bewusst, dass sie sich nicht nur im tiefen Orient, sondern auch nicht sehr weit vom Kriegsgeschehen befand.

Die Reise in die Türkei veränderte Claras Leben für immer. Am meisten belastete sie die Tatsache, dass ihre Ankunft in die Gegend zeitlich mit dem Beginn des Völkermords an den Armeniern zusam­menfiel. Die jungtürkische Regierung nützte den Ersten Weltkrieg aus, um die «Armenische Frage» zu lösen, indem sie die armenische Bevölkerung aus ihrer historischen Heimat vertrieb und südwärts durch die syrische Wüste in den sicheren Tod verschickte. Eine der Hauptrouten in die syrische Wüste zog sich durch Keller, und Clara musste täglich, während ihr Mann unten im Tal arbeitete, die vom Norden her kommenden Todesmärsche mit anse­hen. Als Augenzeugin sah sie sich verpflichtet, in ihrem Tagebuch, und später auch im speziellen Augenzeugenbericht, alles festzuhalten, was sie tagtäglich an Gräueltaten beobachtete.


Das abgelegene Haus am Berghang in Keller / Fevzipaşa.

Mitten in den Kriegswirren schenkte Clara am 26. Januar 1917 ihrem ersten Sohn, Karlfrideli (Karl Fritz), das Leben. Die Geburt fand im weltabgeschiedenen Häuschen in Keller unter schwierigen Bedingungen statt.

Nach Beendigung der Arbeit ihres Mannes beim Bahnbau trat die junge Familie am 3. April 1918 ihre Heimreise an. Zunächst reisten sie nach Istanbul, wo sie monatelang zurückgehalten wurden, bevor sie von den Behörden die Genehmigung erhielten, in die Schweiz auszureisen.20 Clara, die wieder guter Hoffnung war, be­eil­te sich, denn «sie wollte nicht noch einmal in diesem Lande unter solch schrecklichen Umständen gebären müssen»21. Schließlich durfte die aus drei Personen bestehende Familie im selben Jahr, am 21. August 1918, in die Schweiz reisen, wo sie sich in Claras Elternhaus in Werdenberg niederließ.

Am Sonntag, dem 17. November 1918, gebar Clara in ihrem Elternhaus in Werdenberg die Drillinge Kaspar, Hans und Rudolf.

Ende 1927 kehrte die Mutter mit ihren vier Jungen wieder nach Istanbul zurück, da ihr Mann die Leitung des Baus der Eisenbahnlinie Fevzipaşa–Diyarbekir übernommen hatte. Die Familie nahm Wohnsitz in Istanbul, wo die Söhne die Deutsche Schule besuchten. Noch in der Schweiz hatte Clara ihren Kindern die türkische Sprache beigebracht. Da die Arbeitsstelle ihres Mannes in der Türkei sehr abgelegen war, etwa tausend Kilometer von der Familie entfernt, war Clara beim Großziehen der Kinder in Istanbul ganz auf sich gestellt. Sie klärte die heranwachsenden Söhne auf über viele wichtige Dinge im Leben, vor allem über Hygiene und vorbeugende Maßnahmen gegen Krankheiten. Sie besprach mit ihnen Gott und die Welt, und es gab keine Tabus. Sie erzählte den Kindern von ihren Erlebnissen aus den Jahren des Weltkrieges, von den Deportationen der Armenier und erinnerte sich mit Schrecken an die vielen Krankheiten, an denen so viele Menschen starben: Ruhr, Cholera, Flecktyphus u.a.


Wägital 1923. Clara und Fritz mit ihren vier Söhnen.

Im Jahre 1930 erkrankte Claras Drillingskind Kaspar an Leukämie. Dagegen war sowohl die Mutter als auch die Medizin machtlos, und am 11. März 1931 verstarb Kaspar in Istanbul. Er wurde dort auf dem protestantischen Friedhof von Feriköy neben zwei anderen Schweizern begraben. Später hat Clara in ihren Notizen auch die Geschichte von Kaspars Krankheit eingehend geschildert.

Als 1934 die nationalsozialistische Ideologie auch in die Deutsche Schule von Istanbul eindrang, schickte Clara die Jungen auf eine Internatsschule in der Schweiz. Nach einem Jahr kehrte sie selbst in die Schweiz zurück, und ihr Mann folgte ihr im Jahre 1936. Von 1937 bis 1939 lebte Clara in Zürich, wo ihre Kinder ausge­bildet wurden. Danach und bis zum Ende ihres Lebens lebte sie in der «Villa», in ihrem Elternhaus unweit des Werdenberger Schlosses.


Werdenberg 1975. Clara wird 90 Jahre alt.

Nach einem langen und erfüllten Leben verstarb Clara Sigrist-Hilty am 22. März 1988 in ihrem Geburtsort Werdenberg im Alter von 104 Jahren.

Einführung ins Tagebuch
Struktur, Sprache und Handschrift

Für ihre Aufzeichnungen benutzt Clara Sigrist-Hilty eine gedruckte Tagebuch-Ausgabe Reihe «Jahr für Jahr» von Walker’s, die für fünf Jahre eingerichtet ist. Das Fünfjahresbuch hat eine am Kalen­der orientierte feste Struktur. Seine 365 Seiten beginnen mit «Januar 1» und enden mit «Dezember 31». Jede Seite ist mit einer Linie in fünf übereinander liegende Abschnitte gegliedert, wobei jeder Abschnitt für einen Tag steht. Für den jeweiligen Tageseintrag ver­fügt man also nur über ein Fünftel der Seite. Die Jahreszahl wird vom jeweiligen Tagebuchbenutzer eingetragen. Man kann an ei­nem beliebigen Jahrestag einsetzen. Startet man zum Beispiel am 5. Mai 1915, so wird im ersten Abschnitt der Seite «Mai 5» zunächst die Jahreszahl 1915 eingegeben und der erste Text eingetragen. Auf der nächsten Seite folgt dann «Mai 6», und nach der Eingabe der Jahreszahl 1915 kommt der zweite Eintrag. So bewegt man sich Seite um Seite fort, bis man am Ende des Jahres 1915 auf die letzte Seite des Buches gelangt. Für das Jahr 1916 kehrt man zum Anfang des Tagebuchs («Januar 1») zurück und benutzt den zweiten Abschnitt (von oben). So wächst das Tagebuch von Tag zu Tag, die unbeschriebenen Abschnitte bleiben als Leerstellen zurück; häufig sagt gerade das Fehlen des Textes etwas aus.


Der erste Januar 1914 bis 1918 im Tagebuch.

Es leuchtet ein, dass in einem solchen Tagebuch nicht genug Platz zur Verfügung steht, um einen Tagesablauf detailliert zu beschreiben. Doch gerade von seiner kompakten Struktur kann ein Fünfjahresbuch profitieren. Sein Benutzer lernt, mit wenig Zeitaufwand das Wesentliche des Tages festzuhalten, notfalls reichen auch hastige Notizen für eine Eintragung. Der ökonomische Umgang mit Zeit und Sprache erleichtert die Konstanz der Tagebuchführung sowie einen einheitlichen Charakter der Eintragungen. Außerdem zwingt die knappe Ausdrucksweise zu Genauigkeit und Sachlichkeit. Ein weiterer Gewinn ist, dass dieser Typ von Tagebuch am Ende einen Überblick über die Aufzeichnungen von mehreren Jahren auf derselben Seite zulässt.

 

Clara hat ihr Fünfjahresbuch nicht lückenlos gefüllt. Ihren ersten Text trägt sie 1914 noch in der Schweiz ein, beginnt aber – abgesehen von einem Gedicht am 1. Januar und zwei flüchtigen Notizen im Juni 1914, in denen sie ihre Anstellung im Spital in Grabs aufzeichnet – erst im September 1914 mit ihrer Tagebuchführung. Im ganzen Tagebuch gibt es nur eine Seite, die vom 1. Januar, in der alle fünf Abschnitte belegt sind. Aber auch von September 1914 bis April 1915 ist sie noch nicht die eifrige Tagebuchschreiberin, wie wir sie in den folgenden drei Jahren in der Türkei kennenlernen werden. In diesen sieben Monaten gibt es nur gelegentliche und meist lakonische Ein-Satz-Notizen, und die meisten Abschnitte bleiben leer.

Clara weiß vom begrenzten Raum ihres Tagebuchs sehr gut Gebrauch zu machen. Sie bedient sich einer ganzen Reihe von Abkürzungen. Die Konjunktion ‹und› ist fast durchwegs durch das &-Zeichen ersetzt. Oft steht ein ‹f.› für ‹für›, ein ‹v.› für ‹vor› sowie ‹v.› oder ‹z.› für die jeweiligen Kasusverbindungen der Präpositionen ‹von› und ‹zu› und ähnliches mehr. Gelegentlich werden auch längere, aber bekannte Wörter gekürzt, kl. für klein, Schw. für Schwester und vieles mehr. Mit der Zeit eignet sie sich einen sparsamen, sachlich-deskriptiven Stil an, der ausdrucksvoll ist. Präzise Kurzsätze jeglicher Art – bald einzelne Nomen oder Infinitive, bald längere, doch meist elliptische Sätze – verschaffen dem Leser Zugang zu Claras Gedanken und Gemütsbewegungen.

Teils wegen des mangelnden Platzes, teils wegen Claras zurück­haltender Natur wird im Tagebuch – ausgenommen die Seiten, wo es um ihren Erstling Karlfrideli geht – nicht viel Persönliches und Intimes festgehalten. Auch sind Werturteile selten. Nur an zwei Stellen ihrer ganzen Tagebuchführung kann sie nicht umhin, die Grenzen des ihr zugeteilten engen Raums zu sprengen, um ihrem Herzen Luft zu machen. Sie ist dann auf den Anhang des Tagebuchs angewiesen, wo ihr einige leere Seiten unter der Überschrift «Memorandum» zur Verfügung stehen. Dort nimmt sie sich die Freiheit und hat auch genug Platz, Dinge offen und eingehend anzusprechen. Sie greift auf ihre Einträge vom 21. Januar 1916 und vom 17. Juni 1916 zurück, erweitert den einen und schreibt den anderen Eintrag neu. Hier lässt sie als Augenzeugin ihrer Feder freien Lauf und prangert den moralischen Verfall türkischer Machthaber an. Dabei handelt es sich um Gewalttaten nicht nur gegen Armenier. In der ersten Episode beschreibt Clara als Augenzeugin eine «Bastonnade», eine mittelalterliche Strafe des Orients, die unter ihrem Fenster von einem türkischen Offizier seiner eigenen Mannschaft gegenüber angewandt wird. Die Soldaten, die dieser körper­lichen Züchtigung unterzogen wurden, hatten es gewagt, Krankheitsurlaub zu beantragen.

Die zweite Episode schildert, welcher unmenschlichen Behandlung der Polizeichef, der «Henkersknecht», wie Clara ihn nennt, eine kleine Gruppe von schwerkranken armenischen Frauen und Kleinkindern aussetzt. Clara und Fritz, nachdem sie der Gruppe Brot und Wasser verabreichen ließen, sind nun «präsent» bei der Gruppe und wollen helfen. Eine unverzügliche Hospitalisierung dieser armen Menschen ist erforderlich, und Fritz lässt für deren Transport Tragtiere kommen. Doch der türkische Polizeichef, der gerade vorbeikommt, schickt die Tragtiere weg. «Leute, die nicht 10 Schritte gehen können ohne umzusinken», schreibt Clara am 17. Juni 1916,«[will] man zum Aufbruch zwingen», damit sie sich zu Fuß zum Hospital schleppen. Erschüttert angesichts der Un­mensch­lichkeit, die «das eigene Herz in grausamer Wirklichkeit erlebt», wird Clara hier sehr kritisch, und erst an dieser Stelle wird es dem Leser bewusst, wie zurückhaltend die Autorin ansonsten ist.

Clara bedient sich der üblichen Handschrift ihrer Zeit, der Kur­rentschrift oder der «gotischen Handschrift» mit fließenden Abgrenzungen und ineinander verschlungenen Schriftzeichen. Ihre geradezu kalligrafische Handschrift der Briefe und des Augenzeugenberichts erweckt in ihrer schönen Gleichmäßigkeit den Eindruck einer gebildeten, organisierten und gepflegten Persönlichkeit. Das Tagebuch bietet meist ein anderes Bild: Die Zeilen, in al­ler Eile eingetragen, sind unregelmäßiger, schwieriger zu entziffern oder gar unleserlich. Aber der Aufwand für die mühsame Entzifferung erwies sich in jeder Hinsicht als lohnenswert, denn Claras Tagebuch ist ein historisch wichtiges Dokument, das mit dem Fortschreiten der Zeit immer schwieriger zu verstehen sein wird.

Claras Sprache ist das Schweizer Hochdeutsch mit einer gewissen Beimischung mundartlicher Formen, die ihrem Stil eine angenehme persönliche Note verleihen. Helvetismen wie Morgenessen oder Zmorgen für Frühstück, Znüni für Pausenbrot und Nachtessen oder Znacht für Abendessen sind gemeinsprachlich verständlich. Der durch Häufigkeit auffallende Gebrauch von Diminutiva mit dem Verkleinerungssuffix -li oder -i hat einen volkstümlichen Klang. Gewöhnliche Alltagswörter hören sich gut an, und Wörter wie Hüsli für Haus, Weibli oder Fraueli für Frau, Büdeli für Bude müssen nicht unbedingt gefühlsbetont sein, doch wir schließen von ihnen auf Claras gute Stimmung. An anderer Stelle reflektieren solche Formen Gefühle der Intimität und Zärtlichkeit, bei Büebli für Bube, Schätzli für Schatz, s’Müetti für Mutter, Margelchöpfli für ihren Lieblingsberg Margelkopf und so weiter. Ein Satz wie «Jörgli erkennt sein Tanteli» ist gefühlsgeladen. Dass Diminutiva bei Clara eine lebensbejahende, positive Bedeutung haben, ist daraus zu erkennen, dass diese kaum in Einträgen vorkommen, in denen sie düstere Bilder, wie etwa die des Genozids, schildert.

Selbst bei hastigem Notieren fließt die Sprache und ist orthografisch einwandfrei. Fast keine Flüchtigkeitsfehler, so gut wie keine Korrekturen. Besonders beeindruckend ist bei ihr die orthografische Korrektheit der vielen Orts- und Personennamen. Vor Personennamen führt sie meist die zugehörige Grad-, Amts- und Berufsbezeichnung an, die bei wiederholtem Gebrauch unverändert bleibt: Oberingenieur Winkler, Oberstleutnant Böttrich, Dr. Kant, Nilquellenerforscher, Prof. Kirchner, deutscher Archäologe, Oberstabsarzt Dr. Schacht, General Falkenhayn, Baron v. Op­pen­heim, Nuri Bey, Abgeordneter Abdul Rahman Pascha, Oberstleutnant, Ge­neralstabschef Kretschmar, Etappenmajor Hilfiker, Direktor Ha­senfratz usw. Diese Tatsache hat mir die Suche nach den Namen dieser Persönlichkeiten in der einschlägigen Literatur sowie im Internet sehr erleichtert.

Beim Entziffern der Einträge hat mich noch etwas überrascht: Bei Personennamen bedient sich Clara statt der Kurrentschrift der Lateinschrift, und zwar konsequent, was mir viel Mühe erspart hat. Das warf für mich anfangs viele Fragen auf: Hat sie sicherstellen wollen, dass alle Eigennamen unbedingt leserlich sind? Wusste sie, dass sie für die Nachwelt schrieb? Inwieweit war ihr die Bedeutung dieses Tagebuchs bewusst? Erst neulich erfuhr ich, dass man in jenen Zeiten häufig in einem kurrentschriftlichen Text bei Eigennamen die Lateinschrift gebrauchte.

Verlobung, Hochzeit und Hochzeitsreise

Wie knapp auch immer Ihre Notizen sind, Clara ist eine gute Erzählerin, und man kann ihrem mehrjährigen Tagebuch eine in sich stimmige Schilderung eines Lebensabschnitts entnehmen.

Im September 1914 lernte Clara durch ihre Freundin Lis deren charmanten Bruder kennen, Bauingenieur Fritz Sigrist, und im September 1914 begann sie auch, Tagebuch zu führen.22 Am 6. September lesen wir einen einzigen Satz: «Lis und Herr Sigrist bei uns im Hüsli.» Wie die meisten Tagebuchschreiber – man glaubt ja, nur für sich zu schreiben – deutet Clara bloß an, und erst aufgrund ihrer Biografie können wir heute aus ihren knappen Aufzeich­nun­gen auf die Zusammenhänge schließen. Und so schlussfolgern wir, dass in jenen Tagen Fritz um Clara warb und dass es ihr schwerfiel, sich zu entscheiden. «Von Zögern und Zagen ist zerris­sen der Sinn», heißt es in einer Liedstrophe, die sie am 8. September 1914 einträgt. Tage darauf ist stichwortartig von zwei Briefen von «Herrn Sigrist» die Rede, und Clara scheint von ihrem Inhalt nicht sonderlich erbaut zu sein. Kein Wort darüber, worum es ging oder was sie ins Wanken brachte. Aber auch hier ist es aufgrund unserer heutigen Kenntnisse nicht schwer, Vermutungen anzustellen. Es ging wohl um die Anstellung des Bauingenieurs Fritz Sigrist, der von 1910 bis 1914 beim Bau der Bagdadbahn in der Türkei tätig gewesen war und dessen Vertrag für das Jahr 1915 erneuert worden war. Fritz sollte bald wieder in die Türkei zurückreisen, und im Falle einer Eheschließung hätte Clara ihm folgen müssen.

War sie zu einer so grundlegenden Lebensumstellung bereit? War es ratsam, zu Kriegszeiten ins Ungewisse zu ziehen? Würde sie es nicht später bereuen, wenn sie ihre vor nur wenigen Monaten erworbene und geliebte Stelle als Krankenschwester im Spital des heimatlichen Grabs aufgeben würde? Am 8. September 1914 schreibt Clara: «Das ganze Spitalglück auf einmal dahin … » Nach langem Schweigen, d.h. nach vielen leeren Abschnitten im Tagebuch, notiert sie am 26. September: «Trostloses Sich-nicht-entschließen-Können. Heute glaub ich bestimmt, Nein sagen zu müssen.» Doch nach dem dritten Brief von «Herrn Sigrist» mit der Nachricht, dass er «morgen komme», ändert sich alles. Am 30. September liest man schon zwischen den Zeilen Claras Ja-Wort: «Prachtsonnentag, und Fritz bringt die ersten Rosen.» Am 11. Oktober kommt Lis zu Besuch: «Lis bei mir. Das ganze Stübli voll Nelken und Rosen.» Und man muss annehmen, dass am 14. Oktober im Haus der Hiltys der Bund offiziell gefestigt wird, denn es heißt: «Fritz bringt Papa, Mama, Ida, Ruedi und Herbert mit ins Hüsli. Abends reise ich mit nach Netstal zurück.» Am nächsten Tag, dem 15. Oktober, wird die Verlobung von Clara und Fritz «beim Zivilstandesamt» angemeldet, und von da an bis zum Frühling 1915 wird nicht viel ins Tagebuch eingetragen. In den wenigen Notizen ist der Name Fritz meist präsent: gemeinsame Spaziergänge durch die malerische Werdenberger Gegend, Reisen durch das Heimatland, Konzertbesuche in Zürich, Visiten bei Verwandten u.a. Clara wirkt glücklich und ausgeglichen, ohne es ausdrücklich anzugeben. Erst im April 1915 beginnt Clara ihre regelmäßige Tagebuchführung. Es sind aufregende Zeiten, und alles ist emotional geladen: die Vorbereitungen für die Hochzeit und die bevorstehende große Reise in die Türkei. In diesem Lebensabschnitt braucht sie das Tagebuch. Ihre Einträge werden länger, der verfügbare Platz zum Schreiben reicht ihr nicht mehr, und ihre Handschrift verkleinert sich dort, wo sie möglichst viel unterbringen will. Unbeschriebene Flächen gibt es kaum mehr.


Werdenberg 1914. Fritz Sigrist

und Clara Hilty anlässlich der Verlobung.

In den zwei Wochen zwischen Ziviltrauung (12. April 1915) und kirchlicher Trauung (26. April 1915) sehen wir Clara bald in freudiger, bald in melancholischer Stimmung. «Ein intensiveres Ausgenießen der letzten Tage», schreibt sie am 19. April 1915. Nach der Ziviltrauung werden Anstands- und Abschiedsbesuche ab­gestattet. Sie verbringt viel Zeit mit den Ihrigen, mit ihrer Schwester Hanneli und deren Kleinkindern Jörgli und Vreneli, und dann: «Mit H. Besuch auf dem Friedhof.» Am 23. April erklärt Clara: «Schlafe zum letzten Mal in meinem Budeli.» Und zwei Tage vor der Abreise: «Schlafe neben Mama und Papa und bin lange wach.» Und einen Tag darauf, am Vorabend ihrer Hochzeit: «… die letzte Nacht daheim. Ich sehe den Margelkopf im Dunkeln leuchten.»

Zusammen mit ihrer Mama kocht und backt sie viel. Hochzeitskuchen und Guetzli geraten fein, und beinahe sich selbst trös­tend schreibt sie am 24. April: «Alles gelingt, und alle sind vergnügt (…) Die Vorbereitungen verdrängen die Abschiedsgedanken.» Blumen, viele Blumen kommen an. Clara liebt Blumen und Pflanzen, sie bringen ihr Trost, verscheuchen die trüben Gedanken. Sie schmückt das ganze Haus mit Blumen und Blüten.

Der April 1915 ist ein schicksalsschwerer Monat für die ganze Welt. Der Erste Weltkrieg tobt, und viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden begangen. Die Türkei, als Verbündete Deutschlands in den Krieg verwickelt, ist sicher nicht das ideale Land für eine Hochzeitsreise. Dennoch beschließen die jungen Leute, vom Traualtar weg in dieses Land zu reisen, und setzen sich über die Bedenken ihrer Eltern hinweg. Niemand wusste damals, dass gerade zu dieser Zeit die Türkei im Schatten des Weltkrieges auch den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts begehen würde.

 

In Claras Eintrag vom 24. April 1915 lautet der erste Satz: «Der Himmel macht immer sein traurigstes Gesicht.» Beim Entziffern dieses Satzes schauderte ich. Warum?

Es ist klar, dass Clara hier den düsteren Himmel vor dem Hintergrund ihrer eigenen traurigen Stimmung wahrnimmt. Wie hät­te sie auch ahnen können, dass in Konstantinopel in der Nacht des 24. April die erste Welle von Massenverhaftungen und Hinrichtungen von armenischen Intellektuellen, berühmten Schriftstellern, Wissenschaftlern und Geistlichen, von Mitgliedern der gesamten örtlichen Prominenz stattgefunden hatte?23 Und dass dadurch die jungtürkische Regierung die armenische Bevölkerung in ganz Anatolien enthauptete und damit den Weg zum Völkermord an der gesamten armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich ebnete?

Jeder Armenier, der heute Claras Eintrag vom 24. April 1915 liest, kann nicht umhin, die ersten Worte dieses Eintrags einer göttlichen Fügung zuzuschreiben. Besonders markant ist das Wort «immer» in diesem Satz, obwohl damit Clara etwas ganz anderes meint.24 Denn seit dem Jahr 1915 ist der 24. April weltweit zum nationalen Trauertag aller Armenier geworden. Clara Sigrist konnte das alles natürlich nicht wissen. Auch konnte sie nicht vor­aussehen, wie sehr dieser Völkermord sie selbst betreffen würde. Gleich bei ihrer Ankunft in der Türkei würde sie die Auswirkungen dieser menschlichen Tragödie in Form von «unendlichen Durchzügen von ausgewiesenen Armeniern» erleben und sich verpflichtet fühlen, darüber Zeugnis abzulegen. Die schrecklichen Er­fahrungen des Genozids würden ihre Flitterwochen trüben. Mehr noch: Das Erlebte würde beide, Clara und Fritz, zeit ihres Lebens belasten.25

Gemäß meinem Hauptanliegen, in Claras Tagebuch Aufzeichnungen in direktem und indirektem Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern zu finden, war die Zeit ab April 1915 auch für mich von besonderem Belang. Von hier an begann ich Claras Handschrift sorgfältig zu entziffern und abzutippen, wenn auch ohne die Erwartung, schon in ihren Aprileinträgen etwas zum Völkermord zu finden. Zu jener Zeit wollte ich lediglich Clara bei ihrer Reise nach Anatolien begleiten und auch ihren Lesern erste Eindrücke im neuen Land vermitteln.

Im Bewusstsein, dass Claras Zeugnisse zum Genozid im Ta­ge­buch erst im Kontext anderer, auf den ersten Blick eher un­we­­sent­li­cher «Alltäglichkeiten» sinnvoll werden, begann ich mit dem Transkribieren der – fast – sämtlichen Einträge ab dem April 1915 bis Ende 1916. Denn das war die für den Völkermord kritische Zeit. Von den Jahren 1917 und 1918 nahm ich nur, was für mein Thema bedeutsam war. Bei den einzelnen Einträgen, die ich möglichst wortgetreu transkribierte, nahm ich mir bestimmte Freiheiten: die Abkürzungen wurden ausgeschrieben, gelegentlich wurde Nebensächliches und Unentzifferbares weggelassen. Es ging mir nicht um eine wissenschaftlich-kritische Ausgabe des ganzen dreijährigen Tagebuchs, bei der Präzision und Vollständigkeit vorrangig wäre. Es war eine empirische Suche nach wichtigen Tatsachenmaterialien über den Genozid.

Am Tage nach ihrer Trauung26 in Werdenberg treten Clara und Fritz ihre «Hochzeitsreise» in die Türkei an. Sie fahren zunächst mit der Eisenbahn durch das mitteleuropäische Kriegsgebiet, machen einen kurzen Halt in Wien und Budapest, dann geht es weiter über den Balkan nach Konstantinopel. Am 2. Mai 1915 schreibt sie: «Verwundete und Flüchtlinge. Trostloser Anblick an den Bahnhöfen, Bihargebirge. Dann Blick auf die Schneeberge. Erster großer Zoll. Predeal. Vorrücken der Uhr um eine Stunde. Der Orient macht sich unangenehm bemerkbar.» Wegen der Militärtranspor­te dauert die Reise von der Schweiz bis Konstantinopel etwa zwei Wochen. Doch Clara hat immer ein Auge für schöne, exotische Szenen, für Landschaftsbilder, für die Tier- und Pflanzenwelt, und das lenkt sie von all dem Traurigen der Kriegszeit ab. Am 5. Mai 1915 schreibt sie: «Bulgarisch-türkische Dörfer. Pflügende Bauern in farbigen Trachten. Ganze Schwärme von Störchen. Schwertlilienfelder. Unser Zug hält überall der Militärtransporte wegen. Wir be­gegnen endlos langen Militärzügen. Adrianopel. Moschee in der Abendsonne.»

In Konstantinopel wird das Ehepaar von der Leitung der Bagdadbahn, aber auch von Verwandten und Freunden groß empfangen. Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten in Konstantinopel und Umgebung folgen. Leider sind alle Museen wegen des Krieges geschlossen.

Die Weiterreise bis zu ihrem Endziel im Amanusgebirge ist stra­paziös. Über längere und gefährliche Transportwege mit wech­selnden, meist rückständigen und unbequemen Verkehrsmitteln reisen die Neuvermählten von Konya nach Bozanti und dann nach Adana mit dazwischen meist schäbigen Übernachtungsumständen. Doch verliert Clara das exotisch Bezaubernde der wilden Gegend nicht aus dem Auge und hält es im Tagebuch fest. Gewürdigt werden auch die liebenswürdigen Kollegen von Fritz, die sie bei jeder Eisenbahnsektion herzlich empfangen: Im Taurusgebirge, in Karapunar werden sie vom Schweizer Ingenieur Karl Leutenegger mit dem Wagen abgeholt,27 in Adana vom deutschen Oberingenieur Johannes Winkler28 empfangen, in Airan von einem anderen Schweizer, Walter Morf,29 und in Entilli vom Schweizer Franz Köppel30. Im entlegenen Entilli31 lassen sich die Neuvermählten zeitweilig nieder. Nach fünf Monaten ziehen sie in ihren endgültigen Wohnsitz in Keller um. Dort wohnen sie bis zum Ende ihres ersten Türkei-Aufenthalts Anfang April 1918 in einem abgelegenen Häuschen auf einer Anhöhe am Fuße des Amanus-Gebirges in Kilikien.


Das Haus am Felsenhang in Keller / Fevzipaşa.