Borgo Sud

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4

Meine Studenten werden wohl nicht mehr da sein, dachte ich, als ich zurückging, um meine Büchertasche zu holen. In dem Moment wollte ich auch niemanden sehen. Doch die Brünette aus der zweiten Reihe hatte auf mich gewartet. Sie hieß Béatrice, aber ich hatte gehört, dass sie auf der italienischen Aussprache ihres Namens bestand. Als ich den Hörsaal betrat, nahm sie ein Heft von der Bank und ging mit ihrem Rucksack auf mich zu. Ich sammelte die auf der Tischplatte verstreuten Blätter ein, legte sie zitternd aufeinander, ohne auf die Seitenfolge zu achten oder ob sie richtig oder falsch herum lagen. Aus dem Augenwinkel verfolgte ich ihre Bewegung in meine Richtung, genervt von ihrer Beharrlichkeit zur falschen Zeit.

»Entschuldigung, ich hätte noch eine Frage«, sagte sie, doch ihre Stimme verriet eine übertriebene Befangenheit.

»Können wir nicht nächste Woche darüber sprechen? Ich muss jetzt gehen.« Brüsk zog ich den Reißverschluss meiner Tasche zu.

Dann machte ich den Fehler, kurz zu zögern, und erkannte an ihr etwas von mir selbst. Ich konnte sie nicht so verschüchtert und enttäuscht stehen lassen. Es sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen, und das hätte ich nicht ausgehalten, gestern nicht. Ich zwang mich, freundlich zu sein.

»Also, ich höre.«

»Meiner Ansicht nach ist Véronique die Hauptfigur des Romans. Sie lässt alle anderen um sich kreisen, vor allem die Männer. Aber woher kommt ihre Macht, abgesehen von ihrer Schönheit?«

»Vielleicht von dem Verlust, den sie in sich trägt«, erwiderte ich und sah ihr in die Augen.

Sie machte den Eindruck, als sei sie gerade aus dem Bett gestiegen, auf den Lidern den verwischen Kajal vom Vortag.

»Woher kommt deine Familie?«, habe ich sie dann aus Höflichkeit gefragt.

»Meine Großeltern stammen aus Sizilien, aber als sie nach Grenoble zogen, zwangen sie meinen Vater, nur noch Französisch zu sprechen. Italienisch war für sie die Sprache der Schande, wegen der faschistischen Okkupation, die es hier gegeben hatte.«

Sie weiß nicht, dass sich unsere Auswanderer vor allem für ihre Armut schämten. Bestimmt wird Béatrice bei der Prüfung die Bestnote verdienen. In der kurzen Zeit, die sie mir abringen konnte, hat sie die Geschichte ihrer Familie zusammengefasst, mit ihr will sie sich aussöhnen. Ich habe sie dazu ermutigt, später wird sie selbst entdecken, wie schwierig es ist, Frieden zu finden. Zwanzig Minuten lang hat sie es geschafft, die Wirkung der Nachricht, die ich erhalten hatte, außer Kraft zu setzen.

Mit der Straßenbahn bin ich vom Campus zurückgefahren, den Blick nach draußen gerichtet. Einige Studenten arbeiteten in der fahlen Sonne in den ihnen zugeteilten Minigärtchen. Andere liefen in Scharen zur Mensa, sie bereiteten eine Demonstration gegen die Universitätsreform vor. Ein Wildkaninchen hoppelte über den Rasen und hielt alle zwei, drei Sprünge inne, als wüsste es nicht wohin.

Ich habe den Tag programmgemäß abgewickelt, nur das Mittagessen habe ich vergessen. Der leere Magen meldete sich nicht. Aus Trägheit lief ich an meiner Haustür und dem Tierfuttergeschäft vorbei. Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo ich mich befand. Zum Glück genügt es in Grenoble, die Straße hinunterzuschauen: »Au bout de chaque rue, une montagne«, schrieb Stendhal. Chartreuse, Belledonne und Vercors sind majestätische Orientierungspunkte, sie werfen ihren Schatten über die Stadt. Piero hätte sie geliebt, wenn er mich hier besucht hätte. Mehr als einmal hat er es mir angekündigt, wenn ich in den Ferien nach Pescara zurückkehrte oder er mich anrief, um mir zum Geburtstag zu gratulieren: »Sobald ich mal freihabe, komme ich in deine Gegend zum Bergsteigen.«

Adriana aber ist tatsächlich gekommen, sonst niemand aus der Familie. Seit wenigen Monaten hatte ich die Stelle inne und teilte mir eine Mansarde mit einer Kollegin aus dem Fachbereich Geschichte. Adriana hatte mich nach der Adresse gefragt, um mir eine Karte zu schreiben.

An einem Regenabend erschien sie mit dem fünfjährigen Vincenzo, der vor Müdigkeit weinte. Sie waren in Bologna und Turin und dann noch in Chambéry umgestiegen, bis heute ist mir unbegreiflich, dass sie sich nicht verirrt haben. Bis dahin war sie nur getrampt, in ihren ausgeflipptesten Jahren.

»Ich wollte mal nachsehen, ob es dir hier gut geht«, sagte sie, während sie mir die sorgfältig verpackten Törtchen aus den Abruzzen reichte.

Ich sehe meinen Neffen wieder vor mir, am nächsten Tag in den blasenförmigen Seilbahngondeln. Hundert Mal wollte er ein- und aussteigen, die Hände am Plexiglas, die Lippen ein perfektes, staunendes O. Adriana bewunderte die drei in den Sechzigerjahren von italienischen Maurern erbauten Türme und verglich sie mit den höchsten Häusern von Pescara.

Bei schönem Wetter gehe ich sonntags immer noch manchmal zur Bastille hinauf, aber zu Fuß. Es ist eine beliebte Wanderung, auch meine Freundin Théa und ich machen sie gern. Wir mischen uns unter die Touristen, die Angst haben, in die Gondeln zu steigen, oder sich den Gipfel schwitzend verdienen wollen. Durchtrainierte junge Leute laufen in Shorts und Turnschuhen die Schotterstraße hinauf, die in Serpentinen zur Festung führt. Ich lausche ihrem keuchenden Atem, wenn sie uns mager und durchtrainiert überholen.

Was ich suche, ist der weite Blick, die klarere Luft. Ich sehe die Altstadt, in der ich wohne, so geschlossen und gut erkennbar von dort oben, ein warmer, dunkler Kern, eingefasst von dem Beton, der später kam. Anschließend treffen wir ein paar Freunde im Café de la Table Ronde. Draußen sitzend, trinken wir Martini bianco, die Zeit fließt alkoholisiert und leicht dahin.

Ich habe die Uhr abgenommen und mich in der Länge dieser Nacht verloren. Von der Straße hört man keine Stimmen oder Schritte mehr, auch nicht das Klappern des Kanaldeckels unter den Autoreifen. Mein Telefon vibriert, eine SMS fragt, ob ich wach bin, ob wir uns morgen früh um acht vor dem Hotel treffen. Aus dem Zimmer über mir kommt das Stöhnen eines Beischlafs, aber nur kurz, offenbar sind sie müde. Mein Gedächtnis dagegen ist hellwach, wahllos kochen Erinnerungen hoch, unkontrollierbar.

Gestern Nachmittag hatte ich einen Termin bei Yvette, ich bin trotz allem hingegangen. Ihr Geschäft liegt in der Rue de Bonne, nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Sie ist eine überschwängliche Blondine mittleren Alters, ihr Lippenstift zerfließt in den dichten Falten um ihren Mund. Sie ist keine wirkliche Klatschbase, aber ihr Geplapper entlockt den Kundinnen Vertraulichkeiten: Bei ihr kommen alle Geschichten des Viertels an, selbst ich plaudere ein wenig, aber nur über mein französisches Leben. Ich erzähle ihr von Hector, dem Kater, der halb mir und halb meinem Nachbarn gehört. Sie amüsiert sich über dieses Haustier, das zwischen zwei Wohnungen hin- und herpendelt und auf dem Treppenabsatz frisst, wo wir auch unsere Pflanzen stehen haben. Yvette tut so, als hätte sie meine Antwort vom letzten Mal vergessen, und fragt mich noch einmal, ob Christophe und ich jetzt ein Paar sind. Gleichzeitig schlägt sie mir helle Strähnchen vor, frechere Haarschnitte. Vielleicht hofft sie, dass etwas Romantisches geschieht.

Gestern sah sie mich mit verändertem Gesicht hereinkommen. Es waren nur zwei Kundinnen da, die schon von den Mädchen bedient wurden. Sie bestand darauf, mir die Haare selbst zu waschen, ging nach hinten voraus und hielt mir den schwarzen Vorhang auf. Ich setzte mich ans erste Waschbecken, sie waren alle frei, legte den Hals in die dafür vorgesehene Vertiefung und ließ den Kopf nach hinten sinken.

Yvette prüfte die Wassertemperatur, verdünnte das Shampoo in einem Schälchen und goss es mir feierlich übers Haar, wie zur Taufe. Mit kreisenden Bewegungen der Fingerkuppen begann sie mir die Kopfhaut zu massieren, ich konnte den Schaum knistern hören. Sie fragte mich, ob etwas passiert sei.

»Ich muss nach Italien zurück.«

Als sie den Schläfen näher kam, begannen die Tränen zu fließen. Von den Augen zu den Ohren, auf die eingeseiften Haare, Yvettes Hände. Sie hörte zu massieren auf, hielt mir nur still den Kopf. Wir warteten, dass der Moment vorüberging.

Später beim Föhnen ließ sie die Bürste kreisen, im Spiegel bewegten sich ihre Finger rasch wie Spinnenbeine. Eine Kundin verabschiedete sich und stolzierte mit ihrer neuen Frisur hinaus, die andere unterhielt sich mit dem Mädchen, das ihr die Wellen modellierte, über die letzte Folge von Julie Lescaut. Yvette fragte mich, woher ich denn käme, in Italien. Von den Abruzzen hatte sie noch nie gehört, sie lägen auf der Höhe von Rom, sagte ich ihr, am Meer auf der anderen Seite.

»Vom Meer kann ich nur träumen«, seufzte sie.

Zum Schluss zerzauste sie mich föhnschwingend ein wenig mit der warmen Luft, damit es natürlicher wirkte. Einige Strähnen arbeitete sie mit Gel heraus.

»Dann sehen wir uns, wenn Sie zurückkommen.« Damit nahm sie mir den Friseurumhang ab.

Auf der anderen Straßenseite blieb ich vor den Schaufenstern stehen, als würde ich für die Sommerferien oder zu Weihnachten heimfahren, als wäre nichts geschehen. Nie bin ich ohne Geschenke für Vincenzo erschienen: Also kaufte ich zwei T-Shirts mit Asterix auf der Brust und ein paar Butterkekse. Die knabbert er immer noch gern auf dem Sofa vor den Zeichentrickfilmen. Er schaut jetzt Family Guy.

Damals, als Adriana mit ihm als Baby und einem Beutel zu mir in die Via Zara geflüchtet war, hatte sie fast nichts dabei. Beim Weglaufen hatte sie in der Eile nur einige Windeln, einen Schnuller und einen Plüschelefanten einpacken können. Damals habe ich angefangen, ihm Essen und Kleidung zu kaufen.

An jenem ersten Tag ließ ich meine Schwester samt Neffe daheim und ging mit Piero los. Draußen überfiel uns der Wind, er war aufgekommen, um die Schwüle wegzufegen, die seit Tagen auf der Stadt lastete. Überall flog Sand durch die Luft, vom nahen Strand. Ein kurzes gemeinsames Stück, bis zu Pieros Praxis, dann trennten wir uns.

 

»Und spar nicht an den Sachen für den Kleinen«, sagte er und tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Nase.

Wir verabschiedeten uns mit einem Kuss auf die Lippen und ich drehte mich um und sah ihm nach, als er das Haustor öffnete. Die vom Klettern durchtrainierten Muskeln, eine stramme Landschaft unter dem blauen Hemd.

An manchen Sonntagen begleitete ich ihn und beobachtete unten vor der Wand den Nahkampf zwischen ihm und dem Felsen. Ich bewunderte seine Anmut, die Sprünge zwischen einem Sporn und dem nächsten raubten mir den Atem. Die hartnäckige Arbeit mit Armen und Beinen, Händen und Füßen, Fingern und Zehen ermüdete meinen Hals, meine Augen. Er wurde immer kleiner, ein Farbklecks weit oben, an den Stein und ans Leben geklammert. Wenn er herunterkam, gehörte er noch ganz dem Berg, dem Licht, das er in der Höhe gesehen hatte. Seine Freunde beglückwünschten ihn, einige waren erst seit Kurzem in der Gruppe. Zu mir war er zärtlich, aber distanziert, und ich war eifersüchtig auf den Apennin, damals.

Als ich vom Einkaufen zurückkehrte, hatte ich den Wind satt, Sandkörner knirschten zwischen meinen Zähnen. Die Tür zum Gästezimmer war nur angelehnt, ich hörte Vincenzos Stimmübungen, meine Schwester, die sanft zu ihm sprach. Sie saß neben ihm auf dem Bett, doch als ich eintrat, knallten im Luftzug die Fensterflügel zu, und sie sprang mit einem Schrei auf.

»Bist du verrückt geworden?«, fragte sie, eine Hand auf der Brust.

»Seit wann erschrickst du sogar vor der Luft? Wer ist denn hinter dir her, der Teufel?«

»Na ja, beinah«, rutschte es ihr heraus.

Sie setzte sich wieder neben das Kind, sah mich von unten herauf mit geschlossenem Mund an, sie durfte nichts sagen. Ich zog die Anziehsachen, die ich für Vincenzo gekauft hatte, aus den Tüten, und einen Augenblick lang begeisterte sie sich für ein Paar winzige Jeans mit verstellbarem Gummizug. Ein geblümtes Trägerkleid für sie war auch dabei. Adriana hatte schon immer eine Schwäche für Sommerkleider, am liebsten hätte sie hundert pro Saison gehabt. Auch solche vom Markt genügten ihr, bodenlang oder mini. Am Bügel hielt ich es ihr hin und sie bewunderte es lange, befühlte den leichten Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. Hinterher hatte sie feuchte Augen, glänzend vor Verzweiflung. Sie schluckte, um nicht zu weinen.

»Du spinnst ja« – sie schüttelte den Kopf –, »hast einen Haufen Geld rausgeschmissen.«

Sie fragte, ob ich Sternchennudeln für Vincenzo gekauft hätte, es sei fast Zeit für sein Mittagessen. Wir gingen hinüber, um alles vorzubereiten, sie mit ihrem Sohn auf der knochigen Hüfte.

»Vor wem hast du Angst?«, fragte ich.

Keine Antwort, die Sternchen garten im Schweigen, und draußen toste das Meer. Ich fügte ein bisschen Öl und Parmesan hinzu, Adriana setzte sich mit Vincenzo auf dem Schoß an den Tisch und begann ihn zu füttern. Sie machte die gleichen Bewegungen, die ich zu Hause im Dorf gesehen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war und unseren Bruder Giuseppe fütterte, fast immer sie.

»Hast du etwa gestohlen?«, provozierte ich sie.

Den Löffel zwischen Teller und Mund, hielt sie inne.

»Wie kommst du darauf?«

»Es wäre ja nicht das erste Mal«, rutschte es mir heraus.

Sie rührte die Suppe um und wandte sich wieder Vincenzo zu.

»Niemand klaut gern. Du hast halt keine Ahnung, dir fehlt nichts.«

Wir wussten beide, wovon ich sprach. In jenem Winter hatte sie ihre Arbeit verloren, aber irgendwas würde sie schon auftun, wie gewöhnlich, ihrer Meinung nach musste man sich nie Sorgen machen. Oder sie würde eine Zeit lang ins Dorf zurückgehen, zu unseren Eltern. Ich hatte ihr Geld angeboten, doch sie verzog den Mund. Es war mein erstes Jahr mit Piero, nach unserer Hochzeit.

»Wenn ich Geld brauche, sag ich es dir«, hatte sie lässig versichert.

Draußen versuchte es seit einer Weile zu schneien, wir hatten uns der Terrasse genähert und auch einander. Schräg fielen die Flocken, der Strand wurde langsam weiß, gekräuselt wie eine Zuckerwüste. Auf der Scheibe sah man den Hauch unseres Atems und ein paar stumme Gedanken.

»Leihst du mir diesen ganz langen Schal in allen Farben?«, hatte Adriana gefragt.

»Ich such ihn dir raus.« Damit war ich ins Schlafzimmer gegangen.

Sie wartete drüben auf mich, den Blick auf die eisgrauen Wellen gerichtet. Dann hatte sie es plötzlich eilig, ihr war eingefallen, dass sie zu einem Termin musste, wegen einer Arbeit. Mehrmals hatte sie sich den Wollschal um den Hals geschlungen und mich dann beschwingt auf die Wange geküsst.

Am nächsten Morgen kamen zwei Arbeiter, um die Vorhänge an den Fenstern anzubringen. Ich konnte sie nicht bezahlen. Der Schnee war verschwunden wie das Geld aus meiner Handtasche, die ich auf eine Kommode gelegt hatte. Ich zögerte einige Tage, bevor ich zu ihr ging, ich hatte Angst vor der Auseinandersetzung. Sie bestritt, das Geld genommen zu haben, und war sogar beleidigt über meinen Verdacht.

»Das haben dir deine Studenten geklaut und du hast es nicht mal gemerkt«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

Wir stritten mit herben Worten, aber auch wie als kleine Mädchen mit Schubsen und Zerren. Adriana schaffte es, mich zurückzuversetzen zu all dem, was ich hinter mir hatte lassen wollen. Seit Kurzem arbeitete ich mit Morelli an der Universität Chieti und würde ihr nicht erlauben, meinen Elan zu bremsen. Die Eltern, die Brüder und das Dorf auf den Hügeln waren weit weg, zusammen mit der Härte des Dialekts. Sie besetzten viel Raum in nicht sehr glücklichen Erinnerungen und nur wenig in der Gegenwart. Adriana dagegen war immer gleich lebendig und gefährlich. Ich empfand ein heftiges Unbehagen, ihre Schwester zu sein.

5

Unvermittelt schrecke ich aus einem kurzen, tiefen Schlaf hoch. Ich möchte den Arm bewegen, aber er reagiert nicht. Einen Augenblick lang weiß ich nicht, wo ich bin, alles ist mir fremd, im Hintergrund fehlt das Schnurren von Hector, an meinen Füßen zusammengerollt. Gestern fühlte ich einen Schmerz und erinnere mich nicht an seinen Ursprung. Auch jetzt fühle ich ihn, es ist dieser Druck auf der Brust, aber ich erkenne ihn nicht wieder. Tastend suche ich nach dem Schalter, im Lampenlicht holt mich das fremde Hotelzimmer in die Wirklichkeit zurück.

Ich lege mir die Jacke um die Schultern und trete fröstelnd auf den Balkon hinaus, unter den Himmel, an dem die Wolken ziehen. Die Adria jenseits der Straße ist nur eine Nuance der Schwärze, die den Sand überflutet und sich wieder zurückzieht. Ich sehe das Meer nicht, weiß aber seit jeher, dass es dort ist. Die Fischer des Borgo Sud werden hinausgefahren sein wie gewöhnlich, sie sind schon bei der Arbeit. Alle anderen schlafen, es ist zu spät für den vergangenen Tag, zu früh für den neuen. Auch Adriana schläft, ein wenig Meer ist in ihren Namen eingeflossen.

Die drei Jahre Altersunterschied sind unsichtbar geworden, doch als wir noch jünger waren, zählten sie. Das fand ich, Adriana konnte es nie akzeptieren. Manchmal wollte ich als ältere Schwester das Kommando übernehmen.

»Dein Kopf taugt nur für Bücher«, sagte sie.

Es war ihr Ausdruck der Bewunderung und gleichzeitig ihre Art, mich kleinzumachen.

So beschloss ich, mit ihr und Vincenzo ins Dorf zu fahren, unsre Eltern mussten von dieser Wendung in ihrem Leben erfahren. Während wir das Abendessen zubereiteten, hörte sie nicht auf, mir all das Unrecht aufzuzählen, das sie als Mädchen erlitten hatte. Mit fünfzehn hatten sie sie aus der Schule genommen und zur Arbeit aufs Land geschickt: Weinlese, Olivenernte. Niemand in der Familie dachte, sie müsse über den knappen Hauptschulabschluss hinaus zur Schule gehen. Unsere Brüder verspotteten ihren Ehrgeiz, Vermessungstechnikerin zu werden, unsere Mutter schwieg.

Den ganzen Sommer hatten wir gemeinsam gekämpft, und erst im September hatte unser Vater unwillig seine halbherzige Zustimmung geäußert: Adriana durfte sich an einem technischen Institut in Pescara einschreiben, ein Zimmer bei Signora Bice mit mir teilen. Nach der anfänglichen Begeisterung belasteten sie die langen Nachmittage auf wenigen Quadratmetern, sie lief in der Enge hin und her wie ein Tiger im Käfig. Zwischendurch schlug sie ein Buch auf, las aufs Bett geworfen eine halbe Seite, als sei sie in einer völlig fremden Sprache geschrieben. Ich begriff nicht, dass ihre Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, einen Gehorsam ausdrückte: Adriana erfüllte die Prophezeiung unseres Vaters.

»Spätestens im Frühjahr bist du wieder hier und isst Ackerbohnen, du hältst nicht durch bis zum Jahresende«, hatte er zu ihr gesagt, als sie nach dem ersten Trimester mit dem Zwischenzeugnis nach Hause gekommen war.

An manchen Apriltagen erschien sie bei Signora Bice mit dem unschuldigen Hunger einer Jugendlichen, die aus der Schule kommt, aber ihr Gesicht war gerötet. Nach dem Essen setzte sie sich an den Schreibtisch und fälschte akribisch die Unterschrift im Studienbuch. Wenn ich mich näherte, legte sie ein Heft darüber. Wir waren keine Kinder mehr, die jeweiligen Geheimnisse waren mit uns gewachsen.

An einem Donnerstag kam unser Vater sie holen, er wartete nicht ab, bis wir am Samstag mit dem Bus ins Dorf zurückkommen würden. Bestimmt hatte Signora Bice ihn gerufen, misstrauisch geworden durch Adrianas frühzeitige Sonnenbräune. Bei Unterrichtsschluss lauerte er ihr an der Straße zur Schule auf, doch sie kam nicht von dort. Sie kam von der Meerseite, mit leicht unsicheren Schritten, wie wenn man zu lang in der Sonne gelegen hat. Sie hatte den ganzen Vormittag mit einem jungen Fischer verbracht, sie waren auch auf seinem Boot im Hafen gewesen, doch das sollte Adriana mir erst viel später erzählen. Ich stelle mir ihre noch verträumten Augen vor, als unser Vater ihr plötzlich in den Weg trat.

»So wie sie uns behandelt haben, wär’s besser gewesen, sie hätten überhaupt keine Kinder gekriegt«, hatte sie gesagt, während sie wütend in meiner Küche Tomaten aufschnitt.

Wie oft sie geschwänzt hatte, erwähnte sie nicht, und ich erinnerte sie nicht daran. Es hätte niemals das Verhalten unserer Eltern rechtfertigen können.

»Ich komm nicht mit, das kannst du vergessen«, sagte meine Schwester abschließend, als wir uns zu Tisch setzten.

Doch dann änderte sie im unpassendsten Moment ihre Meinung. Ich packte gerade einen kleinen Koffer für zwei Tage mit Piero in Rom. Es gefiel mir, ihn zu Tagungen in den Kunststädten zu begleiten, für uns war das immer noch wie kurze Flitterwochen.

»Morgen passt es mir«, sagte Adriana, als sie an meinem Zimmer vorbeiging.

Schon hatte sie unsere Gewohnheiten durcheinandergebracht, wie sie es immer bei allen macht, die um sie herum sind.

»Fahrt nur, bevor sie es sich anders überlegt«, riet mir Piero.

Am nächsten Morgen brachen wir alle früh auf. In letzter Minute gab er mir seinen Vortrag zu lesen, ein Abschnitt kam ihm etwas wirr vor. Wir beugten uns über den Tisch, um den Text zu korrigieren, ich verschlankte ihn etwas und strich Wiederholungen heraus.

»Ohne meine Professorin wäre ich verloren«, scherzte er.

Im Flur wartete Adriana schon, das Kind auf dem Arm und die Tasche umgehängt, ihre Ungeduld wehte zu uns herüber.

»Aber tu mir den Gefallen und streite nicht mit ihr«, sagte Piero, während er die Blätter wieder an sich nahm.

Sehnsüchtig sah ich ihm nach, wie er davonging.

Wir waren nicht mehr die kleinen Mädchen, die den Rückweg aus der Höhe eines Busses verfolgten. Das Unkraut am Straßenrand war jetzt ganz nah, Adriana konnte es mit der flachen Hand berühren, die sie durchs Autofenster in den Luftstrom streckte. Sie war so lange nicht mehr hier entlanggefahren, alles kam ihr anders und merkwürdig vor.

An der Kurve mit dem Bagger bat sie mich mit einem Zeichen, am Rand anzuhalten. Der Ort war nicht mehr so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Nirgends weideten Kühe, der Stacheldrahtzaun war hier und da eingebrochen. Am Bauernhaus waren alle Fenster geschlossen, und rundherum fehlten die Bauern bei der Arbeit.

Wir sahen ein weites Feld mit Sonnenblumen, alle zum Horizont hin gewandt, wo jeden Morgen die Sonne erschien. In dieselbe Richtung war vor vielen Jahren unser Bruder durch die Luft geschleudert worden, vom ins Schlingern geratenen Motorrad auf die Eisenstacheln, und auf seinem verletzlichsten Teil, dem Hals, aufgekommen,.

 

»All diese Blumen sind für deinen Onkel Vincenzo«, sagte Adriana zu ihrem Sohn, als sie aus dem Auto gestiegen war.

Sie hob ihn hoch bis zu den Blütenkronen, die uns überragten, und er berührte eine davon. Gebannt blieben wir einen Moment vor diesem Anblick stehen. Sicherlich hatte beim Säen niemand an den Jungen gedacht, der in einem fernen Herbst hier gestorben war, aber es schien wirklich so, als wären die Sonnenblumen ihm gewidmet.

Als ich wieder anfuhr, machte meine Schwester andeutungsweise drei Mal das Kreuzzeichen, auf der Stirn, dem Mund und der Brust, und hauchte zuletzt auf ihren Zeigefinger einen Kuss, den sie durchs Fenster dem Feld zuwarf. Dann fuhren wir schweigend bis ins Dorf hinter einem Lastwagen her, da sich zwischen den Kurven kein Raum zum Überholen fand.

»Die sind bestimmt unten«, vermutete Adriana, als ihr bei unserer Ankunft vor dem Haus ein vertrauter Geruch in die Nase stieg.

Der Schuppen war offen, unser Vater stand draußen und wendete mit bloßen Händen die Peperoni über der Glut, indem er sie am Stiel anfasste. Am Boden ein halb voller Korb mit rohen Früchten, auf einer umgedrehten Obstkiste lagen auf einer ovalen Platte ein paar schon geröstete. Er benutzte die linke Hand wie eine Zange, da er in seiner letzten Zeit als Arbeiter in der Ziegelei Zeige- und Mittelfinger verloren hatte.

Sie saß drinnen, gleich an der Tür, dem Morgenlicht zugewandt, mit einem Holzbrett auf den Knien, auf dem sie die Peperoni häutete und die Samen herausschabte. Sie sah uns sofort, als wir vom Platz herunterkamen, Adriana hinter mir mit dem Kind im Arm. Einen Augenblick hielt unsere Mutter mit dem Messer in der Luft inne, dann senkte sie den Kopf und schabte hastiger.

Als ich ihnen Guten Tag sagte, schwieg sie, sie musste wohl auch mir böse sein, da ich inzwischen nur noch anrief und den gewohnten wöchentlichen Besuch ausfallen ließ.

»Also bist du gar nicht gestorben«, sagte unser Vater, ohne Adriana anzusehen oder ihren Gruß zu erwidern. Dann hantierte er weiter mit dem Korb, der Kohle und der Platte.

Mit einer seiner Stimmübungen lenkte Vincenzo die Aufmerksamkeit auf sich und streckte sich all diesen Neuigkeiten entgegen. Der ahnungslose Großvater sah ihn schief an, ohne Sympathie.

»Schleppst du jetzt sogar die Bälger mit, die du hütest?«, fragte er seine Tochter.

»Ja bist du denn blind? Siehst du nicht, dass es ihr aus dem Gesicht geschnitten ist, siehst du nicht, dass es ihr Kind ist?«, schrie unsere Mutter ihn an und warf das Brett samt Messer auf den Zementboden.

Sie sprang ruckartig auf und fuhr sich mit den schmutzigen Händen übers Gesicht, von der Stirn abwärts. Ich trat zu ihr, um sie zu besänftigen, und sie stieß mich weg, doch gleich darauf packte sie mich an der Schulter und schüttelte mich.

»Dir hab ich vertraut, aber du hast dir lieber die Zunge abgebissen, als uns was zu sagen«, brüllte sie mich an.

Ich fühlte die Speicheltropfen auf der Haut, die Wut, die sie auf mich übertrug, um Adriana zu schonen, die durch das Kind, das sie auf dem Arm trug, geschützt war. Ein so kleines Kind war auch hier heilig.

Jemand beugte sich aus dem Fenster, eine Nachbarin fragte von oben, was los sei. Meine Mutter lockerte den Griff, dann ließ sie mich los. Sie schickte sich an, in die Wohnung zu gehen, doch nach ein paar Metern blieb sie stehen, um Atem zu holen, eine Hand in die Seite gepresst. Da zischte Adriana zwischen den Zähnen: »Sie hat keine Schuld, sie wusste es auch nicht.«

Vincenzo begann zu weinen.

»Was machen wir jetzt? Soll ich ihn oben füttern, oder sollen wir gleich wieder gehen?«, fragte sie unseren Vater. Sie überspielte die Anstrengung, ihre Stimme zu kontrollieren, um nicht selbst in Tränen auszubrechen oder loszuschreien.

»Wo willst du denn sonst mit ihm hin, in die Bar?«, erwiderte er. Grimmig ging er vor uns her: wie ein zorniges Familienoberhaupt, das eingedenk des alten Gastrechts den Weg zum Obergeschoss frei macht.

Sie ließen uns mit dem Kind allein und gingen wieder hinunter, um die Arbeit zu beenden. Adriana wickelte es und ich kochte unterdessen die Nüdelchen, dann legten wir es im Schlafzimmer der Großeltern ins Bett und ließen die Tür offen, damit wir hörten, wenn es aufwachte. Das Zimmer, das wir als Mädchen mit den Brüdern geteilt hatten, war zu, sie ging hinein. Unser Stockbett fehlte, über Sergios Bett lag eine wollene Steppdecke: Es war Winter, als er die letzte Nacht darin geschlafen hatte, bevor er nach Libyen gegangen war. Von den anderen keine Spur, Domenico lebte auf dem Land und Giuseppe in einem Pflegeheim. Ohne sie war die Wohnung sauberer, ordentlicher, die Eltern waren allein. Doch noch immer horteten sie Vorräte für eine zahlreiche Familie, die sie nicht mehr hatten.

Mit automatischen Bewegungen nahm Adriana die getrocknete Wäsche von der Leine auf dem Balkon ab, begann sie zu falten und legte sie auf einen Stuhl. Sie trat zur Seite, als unsere Mutter beladen mit zum Einfrieren bereiten, in Beutel abgepackten Peperoni hereintrat. Einige hatte sie auf einer Platte für das Mittagessen bereitgelegt, ein verschnürtes Päckchen fand ich später in meiner Handtasche, für Piero, der diese Peperoni so gern mochte. Sie breitete die karierte Decke über den Tisch und stellte vier Teller darauf. Mit einem Nicken zur Besteckschublade befahl sie mir weiterzumachen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie zwischen den beiden Zimmern hin- und herging, noch mehr Kissen brachte für die Sicherheitsschranke rund um Vincenzos Schlaf. Dann kehrte sie in die Küche zurück, würzte rasch die Peperoni: Öl und Salz, Knoblauch und gehackte Petersilie.

»Nimm den Hut runter und schneide Brot auf«, sagte sie zu Adriana, ohne sich umzudrehen.

Meine Schwester gehorchte, ihr wenige Millimeter langes Haar wurde ignoriert. Stumm setzten wir uns an die vier Seiten des Tisches, nur das Stühlerücken war zu hören. Auch im Sitzen schwitzte man.

»Gibt’s keinen Wein oder habt ihr ihn vergessen?«, fragte unser Vater irgendwann.

Ich erhob mich, hinter dem Vorhang unter dem Spülbecken fand sich noch ein Rest in einer Flasche. Ich goss ihm den Rotwein ins Glas, danach war keiner mehr übrig. Er trank ihn und schnalzte mit der Zunge, während er Adriana am anderen Kopfende des Tisches betrachtete, die mit dem Brot das schmackhafte Öl auftunkte.

»Wie hast du deinen Sohn genannt?«

»Vincenzo.«

Unsere Mutter hielt sich die Hand vor den Mund und stand auf. Sie machte ein paar Schritte Richtung Schlafzimmer, dann muss ihr eingefallen sein, dass dort ja das Kind lag. Sie schloss sich im Zimmer der Jungen ein.

»Ist der Vater schon über alle Berge?«, fing er in der darauffolgenden Stille wieder an.

Vom Platz tönten Stimmen herauf, ein lautes Lachen. Ohne Adriana, die nicht antwortete, aus dem Auge zu lassen, schob er den leeren Teller von sich weg.

»Und wie ziehst du ihn jetzt groß?«, beharrte er.

Sie richtete sich auf, legte die Brotrinde, die sie in der Hand hielt, auf die blau karierte Tischdecke.

»Besser als du mich großgezogen hast, wetten?«

Als das Kind erwachte, brachen wir sofort auf. Beim Starten sah ich unsere Mutter im Rückspiegel. Hätte ich sie nicht aufgefordert einzusteigen, wäre sie zu Fuß losgegangen wie immer, zwei Kilometer hin und zwei zurück, oder jemand aus dem Dorf hätte sie mitgenommen. Am Friedhof stieg sie wortlos aus. Es war das letzte Mal, dass Adriana sie sah. Ihre ungewöhnliche Intuition ließ sie im Stich, sie erkannte kein warnendes Zeichen in der gebeugten Gestalt, die zwischen den Zypressen den Kiesweg hinaufschritt. So haben sie den Groll nicht beseitigt, haben sich nicht verabschiedet und nicht mehr in Frieden umarmt.

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