Schwarzes Gold

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Montag, Marseille

Als Daquin am Montagmorgen im Évêché eintrifft, erwartet ihn Contrôleur Général Payet, der Direktor der Kriminalpolizei. Er empfängt ihn stehend hinter seinem Schreibtisch, weist ihm mit einer Handbewegung einen Stuhl zu und nimmt Platz. »Commissaire Daquin, erfreut, Sie bei uns zu haben, Sie sind uns herzlich willkommen.«

Die beiden Männer sitzen sich gegenüber. Payet ist schlank, geradezu mager, grauer Anzug, knochiges Gesicht, sehr kurzer Bürstenschnitt, erstarrt in der ständigen Furcht, die Kontrolle zu verlieren. Daquin, groß, athletisch, ein Tier, das auf Gefühlsregungen und Überraschungen lauert. Es funkt nicht zwischen ihnen.

»Regeln wir zunächst das Administrative. Ihr Posten: die Ermittlungsabteilung, Gruppe zur Bekämpfung der Bandenkriminalität, Sie sind zweiter Stellvertreter des Gruppenchefs. Ihnen untersteht ein kleines Team: Inspecteur Grimbert, ein hervorragender Kenner der Marseiller Situation, er ist seit über zehn Jahren hier im Évêché, und Inspecteur Delmas, ein Jungspund, frisch aus dem Südwesten. Büro 301 ist Ihrem Team zugeteilt. Alles klar?«

»Vollkommen klar, Herr Direktor.«

»Kommen Sie heute Mittag her, dann stelle ich Sie dem Leiter der Kriminalabteilung und dem Chef der Gruppe zur Bekämpfung der Bandenkriminalität vor. Und ich betraue Sie mit dem ersten Fall, um Sie einzuarbeiten. Courbet erzählte mir, dass er Sie gestern mit zum Tatort im Belle de Mai-Viertel genommen hat.«

»Das ist richtig.«

»Ein guter Einstieg in die Materie. Leider sind solche Vorkommnisse in unserer Gegend nicht selten. In letzter Zeit wurden sämtliche Fälle von Abrechnungen im Milieu gebündelt und die Ermittlungsverfahren Richter Bonnefoy übertragen. Sie werden das Team der Kriminalpolizei verstärken, das mit Bonnefoy zusammenarbeitet, und sich speziell um den Fall Belle de Mai kümmern. Ist Ihnen das recht?«

»Sehr recht, Herr Direktor.«

»Dann bleibt mir nur noch, Ihnen gute Arbeit und viel Glück zu wünschen.«

»Danke, Herr Direktor.«

Daquin sucht das ihm zugewiesene Büro, findet es bald am Ende eines Flurs, abseits der großen Verkehrsströme innerhalb des SRPJ. Der Raum ist zu klein, aber hell und ruhig, hastig eingerichtet, drei Stühle und drei Schreibtische, bunt zusammengewürfelt, zwei Schreibmaschinen, zwei Telefonapparate und zwei Metallschränke. Er wählt seinen Schreibtisch, gegenüber der Tür, Fenster im Rücken, und liest die regionale Berichterstattung über die Morde im Belle de Mai-Viertel, während er auf seine Teamkollegen wartet.

Die beiden Inspektoren treffen eine halbe Stunde später zusammen ein. Daquin steht auf und begrüßt zuerst den Älteren, Grimbert, den guten Kenner des Marseiller Lebens, den Mann, den der Chef, wie er annimmt, ebenso zu seiner Unterstützung wie zu seiner Überwachung abgestellt hat, den Mann, dessen Vertrauen er gewinnen muss. Seine Physis überrascht Daquin. Um die dreißig, ein großer Blonder mit halblangen Haaren und blauen Augen in einem länglichen, kantigen Gesicht, romantische Ausstrahlung, leicht britisch. Er stellt einen großen Karton mit Akten auf einem der leeren Schreibtische ab und drückt Daquin die Hand, während er ihn mustert. Gegenseitiges Beschnuppern.

Hinter ihm folgt Delmas, ein kleiner Dunkler von sechsundzwanzig, ein Muskelpaket mit dem Gesicht eines Lebemanns. Er kommt mit leeren Händen, begrüßt Daquin gut gelaunt und nimmt den letzten verfügbaren Schreibtisch.

Ein paar Willkommensworte, dann sagt Daquin: »Richten Sie sich in Ruhe ein, ich hole solange Espresso, dann machen wir uns an die Arbeit.«

»Espresso? Woher?«

»Auf der Etage. Keine Espressomaschine?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Dann in der Bar des Hauses. Es gibt doch wohl eine?«

Grimbert setzt sich mit einer Pobacke auf eine Schreibtischecke, schiefes Lächeln auf den Lippen. »Ja, natürlich gibt es eine, im Keller, die Garage, eine Bar, die die Kfz-Mechaniker der Truppe betreiben. Aber ich muss Ihnen das erklären. Sie sind dort nicht willkommen. Aus einer Reihe von Gründen. Der erste: Es ist das Terrain der Sécurité publique, Beamte in Uniform, die auf der Straße arbeiten, sich aufführen wie die Prolls der Profession. Uns, die Bullen in Zivil, die Ermittler der Kriminalpolizei, betrachten sie als Faulpelze und Intelligenzler, und sie wollen uns in ihrer Garage nicht haben. Zweiter Grund: Sie sind Commissaire, also einer von den Bossen, und kein Commissaire, nicht mal einer der Sécurité publique, ist in der Garage willkommen. Zu guter Letzt sind Sie Pariser. Wenn ein Pariser den Évêché betritt, schrillt im ganzen Haus die Alarmglocke. Das wird sich legen, aber es wird etwas Zeit brauchen.«

Grimbert spricht mit einem ausgeprägten Marseiller Dialekt. Überspielt, denkt Daquin, oder antrainiert.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir eine peinliche Situation ersparen. Ich verzichte heute auf Kaffee, das wird schwer, aber ich werd’s schaffen. Und ich werde Mittel und Wege finden, in diesem Kabuff einen elektrischen Espressokocher zu installieren.«

Ein paar Minuten später machen sich die drei Männer an die Arbeit.

»Sie wissen, dass wir den Mordfall Belle de Mai geerbt haben?«

»Ja, der Chef hat uns informiert.«

»Er hat Ihnen gesagt, dass ich mit Inspecteur Courbet eine Fahrt zum Tatort gemacht habe?«

»Ja, das hat mich überrascht.«

»Reiner Zufall, ich kam gerade hier vorbei.«

»An einem Sonntag?«

Die Akte mit den Erhebungen am Tatort, ersten Ergebnissen und den Fotos liegt aufgeschlagen vor Daquin auf dem Schreibtisch, der sie Grimbert zuschiebt und fortfährt: »Bei diesem Fall sprechen der Chef und Courbet beide spontan von einer Abrechnung im Milieu. Woran erkennen Sie Abrechnungen im Milieu, Grimbert?«

»Zunächst die Vorgehensweise der Mörder: Sie halten sich nicht mit Feinheiten auf, veranstalten ein Gemetzel, schießen aus nächster Nähe oder mit einer Automatikwaffe. Auf offener Straße oder an öffentlichen Orten. Am helllichten Tag und mit unverhülltem Gesicht. Keine Spuren, wir sammeln zwar ein paar Patronenhülsen auf, aber die Waffen werden exportiert oder zerstört, im Allgemeinen werden sie nicht zweimal benutzt. Und auch keine Zeugen. Dann die Persönlichkeit der Opfer: Sie töten sich untereinander, im Rahmen von Machtkämpfen. Es gibt zwar manchmal Kollateralopfer, aber das ist schlichtes Pech und wir kümmern uns nicht groß darum … Schließlich und endlich wird keiner der Fälle mit der Identifizierung der Mörder abgeschlossen, schon gar nicht mit ihrer Festabnahme.«

»Das ist eine detailgetreue Wiedergabe dessen, was ich gestern gesehen habe. Der Chef sagte mir, dass solche Abrechnungen öfter vorkommen. In welchem Rhythmus, seit wann?«

»Seit letztem September hatten wir fünf, etwa einen pro Monat, mit insgesamt acht Toten. Ich schreibe Ihnen eine detaillierte Notiz, wenn Sie wollen.«

»Warum diese plötzliche Häufung?«

»Es ist die Rede von einem Erbfolgekrieg zwischen Zampa und Francis le Belge um die Kontrolle des Marseiller Milieus nach dem Fall des Hauses Guérini.«

»Wo kommen diese beiden her?«

»Beide sind Zöglinge von Guérini. Zampa wurde etwas länger bebrütet als Le Belge, er ist erfahrener. Im Moment trägt er allem Anschein nach den Sieg davon, es steht sechs Tote gegen zwei.«

»Ein Spielstand wie im Tennis«, bemerkt Delmas. »Zampa gewinnt das Set, aber noch nicht die Partie.«

Daquin beachtet ihn nicht weiter. »Etwas bequem als Erklärung. Ich bin neu hier, ich kenne mich mit der Marseiller Situation nicht gut aus, aber ich weiß, dass die Guérinis, die für Ordnung sorgten, seit mindestens vier Jahren von der Bildfläche verschwunden sind, Antoine wurde 1967 erschossen und Mémé 1969 eingebuchtet. Also warum nach so langer Zeit dieses Wiederaufflackern der Rivalitäten?«

»Wollen Sie meine Meinung hören?«

»Selbstverständlich.«

»Es hat mit der Zerschlagung des Heroinrings in Marseille zu tun, die in Wirklichkeit erst letztes Jahr im Februar begonnen hat, 1972, mit einem sehr großen Fang auf einem kleinen Frachtschiff, der Caprice des Temps, über vierhundert Kilo reines Heroin. Seitdem haben sich die Festnahmen vervielfacht, es ist einiges in Bewegung, und zwar in alle Richtungen, und jeder versucht sich die Situation zu nutze zu machen. Die Banditen verpfeifen ihre Konkurrenten oder Rivalen, damit die Bullen für sie aufräumen und ihnen alles hübsch sauber hinterlassen. Die verschiedenen Polizeidienste verbünden sich mit einem Clan gegen einen anderen, jeder Dienst verfolgt seine eigene Bündnispolitik …«

»Was erklärt, dass die Ermittlungen nie zu etwas führen?«

»Die Verantwortung für Ihre Schlussfolgerung müssen Sie selbst übernehmen, Commissaire. Aber Sie sollten wissen, dass Sie in einem Klima gelandet sind, das, sagen wir … Marseille-typisch ist.«

»Gut. Kommen wir zurück zu unserer Akte Belle de Mai. Keine Spuren, keine Zeugen, einverstanden. Aber ich habe mich in der Gegend umgesehen. Es handelte sich um einen sehr sorgfältig vorbereiteten Hinterhalt. Route und Zeitplan der Opfer waren bekannt. Woher? Es ist unmöglich, die Kreuzung längere Zeit zu blockieren. Jemand hat also ein Startsignal gegeben, und es war mindestens ein Späher in der Nähe der Kreuzung, um das zweite Signal zu geben. Folglich viele Komplizen, deren Spur man möglicherweise verfolgen kann. Welche Mittel zur Informationsweitergabe haben sie benutzt? Ich habe auf dem Boulevard Burel in der Nähe der Kreuzung eine Telefonzelle entdeckt, direkt gegenüber einem Parkplatz vor einem Gebäude. Die Mörder können dort gewartet und das letzte Zeichen über das Telefon in dieser Zelle bekommen haben. Auf dem Boulevard Guigou, weniger als einen Kilometer entfernt, gibt es eine Bar, die sonntags geöffnet hat, und eine Telefonzelle. Das erste Signal kann von einem dieser beiden Punkte aus erfolgt sein. Man kann die von diesen Anschlüssen getätigten Anrufe zurückverfolgen und im Umfeld nach Zeugen forschen. Jetzt zu den Opfern: Mit wem waren sie zu diesem Zeitpunkt verabredet? Mit wem hatten sie Streit? Wer kann sie verraten haben? Was sagen die Angehörigen? Welche Verbindung besteht zwischen den beiden Opfern, Marcel Ceccaldi und dem Jungen? Alle diese Punkte können wir verfolgen. Und dahinter werden sich die Auftraggeber abzeichnen.«

 

Grimbert setzt wieder sein schiefes Lächeln auf. »Zweifellos, Commissaire. Aber bevor wir uns in dieses Abenteuer stürzen, gehen Sie zu Richter Bonnefoy. Vergessen Sie nicht, es ist seine Ermittlung, nicht Ihre.«

Im Gericht empfängt Richter Bonnefoy, ein freundlicher Mann von geruhsamen fünfzig, Daquin umgehend in seinem sonnigen Büro mit Blick auf den Vieux-Port. Er hört sich seinen Bericht des Belle-de-Mai-Massakers und seine Vorschläge zu möglichen Ermittlungsansätzen an. Er macht sich keine Notizen, trommelt mit den Fingern auf seinem Schreibtisch.

»Commissaire, Sie sind neu hier, wenn ich Contrôleur Général Payet richtig verstanden habe. Wie in jeder anderen Stadt fehlt es Polizei und Justiz hier in Marseille bitter an Mitteln. Und die Kriminalität, unter denen die ehrlichen Bürger leiden, nimmt sprunghaft zu, die Überfälle auf alte Leutchen beim Verlassen von Postämtern oder Banken, die Überfälle auf kleine Händler und, die neuste Masche, Überfälle auf Taxifahrer. Diese Kriminalität ist es, die unbedingt eingedämmt werden muss. Wenn die Banditen sich gegenseitig umbringen wie in dem Fall, über den wir sprechen, schert die anständigen Leute das wenig. Sie fühlen sich nicht bedroht. Was ich von Ihnen verlange, ist, dass Sie die Identität der Opfer feststellen, damit wir die Bandenkriege und die Entwicklung der Clans nachvollziehen können und nicht überrumpelt werden. Ich erwarte von Ihnen und Ihrem Team, dass Sie in diesem Sinne vorgehen und berichten.«

Als Daquin das Gericht verlässt, hört er Grimbert, »seine Ermittlung, nicht Ihre«, und sieht sein schiefes Lächeln, dessen Grundstimmung er endlich begreift: desillusioniert.

2

Dienstag im Morgengrauen, Nizza

Fast drei Uhr morgens. Die Nacht ist kalt, duftend und still auf der Promenade des Anglais, für manche eine der schönsten Straßen der Welt. Durch das große Portal des Palais de la Méditerranée verlässt ein Paar die Spielsalons des Casinos. In der Ferne das Geräusch eines anfahrenden Motorrads. Das Paar bleibt im Schutz der hohen Arkaden stehen, die die monumentale Fassade tragen, bombastisches Pappmaché-Dekor, geprägt vom Geist der Dreißigerjahre. Ein Page in Uniform eilt auf den Mann zu. Der stattliche Fünfziger, breite Schultern, massige Gestalt in dezentem dunklem Anzug, gibt ihm seine Wagenschlüssel. Der Page entfernt sich in Richtung Parkplatz. Die junge Frau im hellen, tief ausgeschnittenen Kleid schaudert, als die Kälte sie packt, in den Hügeln des Hinterlands hat es geschneit. Das Brummen eines näherkommenden Motorrads, verborgen hinter den Blumenkübeln, die die Arkaden und den Eingang des Palais vom Bürgersteig der Promenade trennen. Der Mann wendet sich seiner Begleiterin zu, die lächelt, hilft ihr eine bunte Kaschmirstola auf ihren Schultern zurechtzuziehen. Der Page verschwindet um die Hausecke. Das Motorrad hält vor dem roten Teppich, der bis zu den Eingangstüren reicht, der Mitfahrer steigt vom Sozius, bringt sich, ohne den Helm abzunehmen, dem Paar gegenüber in Stellung, nimmt eine stabile Position ein, breitbeinig, hebt eine Pistole mit beiden Händen auf Augenhöhe und schießt. Eine Kugel, der Körper des Mannes zuckt, seine Hand krallt sich in das Schultertuch seiner Begleiterin, zwei, drei, vier Kugeln hintereinander, der Körper des Mannes, die Hand an die Stola geklammert, fällt in Zeitlupe, das Blut spritzt stoßweise, das Gesicht der Frau, ihre nackten Schultern, ihr helles Kleid sind blutüberströmt, ein, zwei, drei, vier weitere Schüsse in Folge, die Frau steht starr, offener Mund, ohne einen Schrei. Der Mann liegt am Boden. Der Mörder jagt noch zwei Kugeln auf den leblosen Körper. Ende der Operation. Er schiebt seine Waffe unter dem Blouson ins Achselholster, berührt dabei mit dem Lauf der Waffe seine linke Brust, brennender Schmerz, er liebt diesen Schmerz, Kontraktion der Bauchmuskeln, Erregung, heftige Lust, er fühlt sich lebendig, sehr lebendig. Er steigt auf das Motorrad, das mit Vollgas davonrast. Die Frau fällt in Ohnmacht, in die Blutlachen, die den roten Teppich tränken, den weißen Marmorboden besudeln.

Die Szene hat keine zwanzig Sekunden gedauert.

Der Page kommt vom Parkplatz zurückgerannt, die Angestellten stürmen aus dem Palais, schreien, laufen unter den Arkaden auseinander, die letzten Kunden flüchten zum nahe gelegenen Strand. Dann nähern sich Blaulichter und heulende Sirenen, Polizeiautos, gefolgt von Krankenwagen. Polizisten und Sanitäter machen sich an die Arbeit inmitten einer Szene hysterischer Panik vor diesem Operettenbühnenbild.

Während die Polizisten versuchen, alle potenziellen Zeugen des Attentats zu beruhigen und in einem der Spielsalons zu versammeln, stellt ein Arzt den Tod des Mannes fest, der von Kugeln durchsiebt am Boden liegt, die Leiche wird mit einer Plane zugedeckt, die Polizei sperrt den Tatort ab, der Notarzt kümmert sich um die junge Frau, die immer noch bewusstlos ist. Niemand weiß, ob sie verletzt ist, ob das Blut, mit dem sie bedeckt ist, ihr eigenes ist oder das des Toten, man transportiert sie ins Krankenhaus. Ein Polizist mit dem Auftrag, so bald wie möglich ihre Zeugenaussage aufzunehmen, fährt im Krankenwagen mit.

Nach gründlicher Untersuchung, bei der nicht eine einzige Verletzung festzustellen ist, einer Beruhigungsspritze und einer heißen Dusche wird die junge Frau in einem Zimmer untergebracht, wo sie die Fragen des Polizisten notdürftig beantwortet. Sie heißt Emily Frickx, amerikanische Staatsbürgerin. Sie verbringt ihren Urlaub in der Region, ihr Ehemann Michael Frickx hat in Saint-Jean-Cap-Ferrat ganzjährig eine kleine Villa gemietet. Ihr Hauptwohnsitz ist Mailand, wo ihr Mann sein Büro hat. Er leitet die europäische Niederlassung von Co Trade, einem Handelsunternehmen für Rohstoffe mit Firmensitz in New York. Nein, zurzeit ist er weder in Cap noch in Mailand, sondern auf Geschäftsreise durch südafrikanische Minen. Ja, man kann ihn bestimmt erreichen, aber das ist nicht einfach, sie weiß nicht, wo er sich gerade aufhält, und nicht überall gibt es Telefon. Man muss es über das Büro der Südafrikanischen Minengesellschaft in Johannesburg versuchen, dort weiß man immer, wo man ihn über Funk kontaktieren kann. Ja, sie kennt den Mann, der an ihrer Seite erschossen wurde, er heißt Maxime Pieri. Er hat mit ihrem Ehemann regelmäßig geschäftlich zu tun. Sie hat ihn übrigens in dessen Büro in Mailand kennengelernt. Sie glaubt, er arbeitet und wohnt in Marseille, aber sicher ist sie sich nicht. Er ist eher ein Bekannter als ein Freund. Gestern hat sie ihn zufällig in einer Kunstgalerie in Villefranche getroffen, die sie regelmäßig besucht. Und er hat sie zum Abendessen in den Palais de la Méditerranée eingeladen. Ja, es war das erste Mal, dass er sie zum Essen eingeladen hat. Es war ein sehr netter Abend. Sie haben sich lange unterhalten, hauptsächlich über zeitgenössische Kunst. Pieri wirkte interessiert, er hat viele Fragen gestellt. Nein, er war weder angespannt noch besorgt. Sie haben getanzt, ein paar ruhige Tänze, und im Casino ein bisschen gespielt. Er war im Begriff, sie nach Hause zu fahren, zu ihrer Villa, bevor er nach Marseille zurückfuhr oder in Nizza übernachtete, sie weiß es nicht, sie haben darüber nicht gesprochen. Als sie die Erschießung schildert, überkommt sie ein nervöses Zittern.

»Ich habe den Mann gesehen. Groß, mit einem Helm auf dem Kopf. Er stand neben einem Motorrad. Das Visier war hochgeschoben. Aber er war weit weg, weit entfernt von den Lichtern, kein Gesicht unter dem Helm, nur ein schwarzes Loch. Das Antlitz des Todes. Er hat geschossen. Ich konnte nicht weglaufen, ich konnte nicht schreien, ich war gelähmt. Ich begriff gar nicht, was passierte. Ich spürte das heiße Blut auf meinen Augen, in meinem Mund, den Geschmack des Blutes. Entsetzlich. Als er aufgehörte zu schießen, bin ich, glaube ich, ohnmächtig geworden. In mich zusammengesackt wie ein alter Lumpenhaufen.«

Sie weint. Die Ärzte raten, sie jetzt schlafen zu lassen.

Am Tatort nehmen Polizisten Zeugenaussagen auf. Zuerst der Page. Er wiederholt vor den mit Stoppuhren ausgerüsteten Polizisten all seine Aktionen vor und während des Attentats. Pieri gab ihm seine Wagenschlüssel. Nein, dabei wirkte er weder beunruhigt noch sonderlich in Eile, und er selbst hat kein Motorrad in der Nähe bemerkt. Mit den Schlüsseln in der Hand ist er Richtung Parkplatz gegangen. Erste Zeitnahme. Der Page wiederholt den Weg, biegt um die Hausecke, bleibt genau an der Stelle stehen, wo er sich befand, als er die ersten Schüsse hörte. Zweite Zeitnahme. Von dort, wo er war, in der Seitenstraße, hatte er den Casinoeingang nicht im Blick. Er blieb überrascht stehen, konnte die Geräusche, die er vernahm, nicht gleich einordnen, horchte. Dann hörte er die zweite Salve. Er rannte los, zurück zum Casinoeingang. Er erinnert sich nicht, weitere Schüsse gehört zu haben. Er erreichte die Avenue genau in dem Moment, als das Motorrad losfuhr. Zeitnahme. Eine schwere Maschine, dunkle Farbe, Fahrer und Sozius, beide in Schwarz, hat er nur von hinten gesehen, mehr kann er nicht sagen, er war in Panik. Er rannte weiter und entdeckte die zwei niedergestreckten Körper am Boden, er erinnert sich an die Blutlachen auf dem weißen Stein. Knapp fünfzehn Sekunden für die eigentliche Aktionsphase. Die Anfahrtsphase hinzugerechnet, folgern die Polizisten, hat die Operation insgesamt nicht länger als dreißig Sekunden gedauert. Sie sehen einander an. Profis, echte Profis. Das wird kein leichter Fall.

Die Angestellten des Casinos sowie die wenigen verbliebenen Gäste oder Spieler werden einzeln befragt. Sie erzählen von zwei großen Männern, schwarz gekleidet, mit Helmen, einem schweren Motorrad. Der Portier, der sich zum Zeitpunkt des Mordes in der Halle aufhielt, meint das Motorengeräusch einer Ducati erkannt zu haben. Mehr ist nicht zu holen. Im Grunde genommen hat niemand etwas gesehen, und alle haben das Ende der Schüsse abgewartet, ehe sie sich nach draußen wagten. Was verständlich ist. Eine regelrechte Exekution, ausgeführt von waschechten Profis. Italiener vielleicht. Ich wette auf einen ungelösten Fall, sagt einer der Polizisten. Einer mehr, seufzt der Brigadier. Das hat uns gerade noch gefehlt.

Coulon, der Staatsanwalt von Nizza, der vom Bereitschaftsstaatsanwalt im Bewusstsein der komplexen Situation sehr früh an diesem Morgen geweckt wurde, läuft auf der Promenade des Anglais vor dem Palais de la Méditerranée auf und ab. Inspecteur Principal Leccia geht neben und leicht hinter ihm. Die Leiche hat man abtransportiert, die Kriminaltechniker haben ihre Arbeit abgeschlossen. Sie haben zehn Patronenhülsen aufgelesen, sorgfältig nummeriert, fotografiert und in Beweismitteltütchen gesteckt, großes Kaliber, 11.43, keine weiteren Spuren. Sie sind nicht optimistisch. Nach ihrem Aufbruch ist wieder Ruhe eingekehrt.

Coulon für seinen Teil ist äußerst angespannt, seit er die Identität des Opfers erfahren hat.

»Musste der Kerl sich unbedingt bei uns in Nizza abknallen lassen? Als hätten wir im Moment nicht schon genug Sorgen. Können Sie mir das sagen, Leccia?«

Keine Antwort.

»Dieser Pieri ist nicht irgendwer, das ist eine wichtige Persönlichkeit.«

»Zweifellos, Herr Staatsanwalt.«

»Ein in Marseille prominenter Geschäftsmann. Er hat ein bedeutendes Seefrachtunternehmen, die Somar. In diesen Zeiten rückläufiger Hafengeschäfte und der schwierigen wirtschaftlichen Umstrukturierung der Stadt ist das keine Kleinigkeit. Madame Frickx zufolge hat er sogar mit ihrem Ehemann zu tun, der das europäische Büro einer großen amerikanischen Handelsfirma für Erze leitet. Es liegt in unserer Verantwortung, die schwächelnde Marseiller Ökonomie vor weiterem Schaden zu bewahren.«

»Ich glaube nicht, dass wir unter den Geschäftsleuten suchen müssen, Herr Staatsanwalt. Es ist vielleicht déformation professionnelle, aber ich denke eher an seine Vergangenheit als Kapitän der Guérinis, zu Zeiten, als der Clan die Stadt Marseille und den Heroinhandel beherrschte.«

 

»Ja, das weiß ich wohl, und ich fürchte nichts mehr als diese Verquickungen. Alle Welt wird sich einmischen wollen. Die Honoratioren, die Abgeordneten, das Ministerium. Ich hasse diese Fälle. Dabei muss man nichts als Prügel einstecken.«

»Nicht zu vergessen, dass es die Polizei von Nizza, die derzeit ohnehin überlastet ist, noch mehr strapazieren könnte. Ohne darauf herumreiten zu wollen, Herr Staatsanwalt, darf ich Sie erinnern: zwölf Brandstiftungen und Schießereien in Bars und Nachtclubs in einem Jahr, dreizehn bewaffnete Raubüberfälle in einem Monat vergangenen Sommer, der Chef unserer Sécurité publique, der, bevor man ihn feuert, zugibt, dass es in all diesen Fällen nicht auch nur den Ansatz einer Fährte gibt, der fortgesetzte Krieg zwischen dem Clan der Korsen und dem der Pieds-Noirs, ein Commissaire der Sitte, der sich gemeinsam mit seinem Marseiller Kollegen in einer Nutten-Affäre die Finger schmutzig macht, und ein neuer Boss aus dem Norden, den uns das Ministerium vor die Nase setzt. Ich tue, was ich kann, um die Wogen zu glätten, aber es hagelt von überall Kritik, unsere Männer stehen kurz vor dem Aufstand, das muss man berücksichtigen und nicht das Unmögliche von ihnen verlangen.«

»Mir ist das genauso bewusst wie Ihnen, Leccia. Was schlagen Sie vor?«

»Wir müssen bedachtsam vorgehen, uns die Zeit nehmen, den Fall aus allen Blickwinkeln zu betrachten.«

»Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, Leccia, nicht bei mir.«

»Mir sind zwei höchst eigentümliche Aspekte dieser Exekution aufgefallen. Erstens, der Schütze ist ausgezeichnet. Alle seine Kugeln landen im Ziel. Die junge Frau bleibt unverletzt, und es gibt nicht mal eine kaputte Scheibe. Warum verspürt er den Drang, zehnmal zu schießen?«

»Keine Ahnung. Was meinen Sie?«

»Ich denke, es handelt sich um eine ausgeklügelte Inszenierung. Die Wahl des Opfers, das Motorrad, die Anzahl der Schüsse aus einer Handfeuerwaffe, das große Kaliber, man spielt hier die Szene des Mordes an Antoine Guérini nach, der in Marseille vor fünf oder sechs Jahren von einem Killer auf einem Motorrad mit zehn Kugeln Kaliber 11.43 auf offener Straße erschossen wurde. Da Pieri einer von Antoines besten Kapitänen war, haben wir es mit einer ziemlich deutlichen Botschaft zu tun: Einer der Aspiranten auf die Nachfolge der Guérinis vollendet die Säuberungen und liquidiert die alte Garde.«

»Zampa oder Le Belge?«

»Nicht unmöglich. Zwischen diesen beiden ist seit September die Schlacht eröffnet. Bereits acht Tote auf der Liste. Mit dem hier sind es neun.«

»Dieser Krieg betrifft Nizza nicht.«

»Das ist nicht ganz richtig, Herr Staatsanwalt. Es hat letzten Sommer bereits einen Warnschuss gegeben, Giaume, dem mit den Guérinis verbündeten hiesigen Paten hat man seinen Nachtclub angesteckt, hier in Nizza. Jetzt schalten sie in einen höheren Gang, sie machen es spektakulärer, um auch ja verstanden zu werden.«

»Gut, nehmen wir einmal an, es ist eine Botschaft an die Überlebenden des Guérini-Clans. Sie sagten, zwei eigentümliche Aspekte. Was ist der zweite?«

»Der gewählte Schauplatz, Herr Staatsanwalt, alles andere als unbedeutend. Und damit berühren wir eine Frage, die für uns hier in Nizza sehr viel heikler ist. Das Casino des Palais de la Méditerranée ist im Visier.«

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Leccia, Sie machen mir Angst.«

»Schon der Mord an Antoine Guérini war höchstwahrscheinlich eine Episode im Glücksspielkrieg um die Kontrolle über die Casinos von Paris.«

»Immer noch weit weg von Nizza.«

»Nicht mehr lange. Ausgehend von seiner Hochburg, seinem Casino hier im Zentrum, will Fratoni Nizza zum französischen Las Vegas machen, das ist für niemanden ein Geheimnis, er hat seine Absichten deutlich verkündet. Dafür braucht er die Kontrolle über die Casinos an der Côte. Sein erstes Ziel: das Ruhl. Unsere sämtlichen Quellen sagen, dass es ihm mit Unterstützung eines italienischen Konsortiums gelungen ist, viel Kapital aufzubringen, und dass die Übernahme in den nächsten Wochen stattfinden soll. Gleich nach dem Ruhl steht die Übernahme des Palais de la Méditerranée auf dem Plan. Im Rathaus ist man der Ansicht, dass die Stadt Nizza bei der Erneuerung ihrer Casinos viel zu gewinnen hat.«

»Ich weiß«, murmelt der Staatsanwalt, »ich bin auf dem Laufenden.«

»Stellen wir uns jetzt vor, irgendwelche Banditen wollen Fratoni schaden. Ein Mord auf den Stufen des Casinos könnte eine gute Warnung sein, die Gewalt, das Blut, der Tod …«

»Sie gehen zu weit.«

»Ich sage nicht, dass Pieri aus diesem Grund ermordet wurde, aber man hat entschieden, ihm auf den Stufen des Casinos aufzulauern …«

»Ich bleibe skeptisch. In jedem Fall aber tun wir gut daran, den Wirbel weitestgehend zu begrenzen und uns daran zu halten, dass ein nicht näher bestimmbarer potenzieller Erbe die Reste des Guérini-Clans liquidiert. Die Sorte Fall, für die sich die Öffentlichkeit nicht interessiert. Solange die Gangster sich untereinander abschlachten, ist nach zwei Tagen alles vergessen, wenn niemand es auf Komplikationen anlegt. Und wir richten unsere Ermittlungen auf Marseille, fern von Nizza und seinen Casinos.«

Der Staatsanwalt geht noch ein paar Schritte, bleibt dann stehen.

»Gut. Machen wir es simpel. Wir halten uns an die Hypothese einer Abrechnung im Milieu, wahrscheinlich auf Betreiben eines dieser beiden Spinner, Zampa oder Le Belge, ohne weitere Einzelheiten. Es besteht kaum Aussicht, dass wir hier vor Ort auf irgendetwas stoßen. Die zwei sind deutlich aktiver in Marseille und Paris als bei uns, Gott sei’s gedankt. In Marseille leitet Richter Bonnefoy ein Ermittlungsverfahren, das alle diese Abrechnungen bündelt. Ich könnte ihn einsetzen und mit dem Dossier betrauen.«

Der Staatsanwalt nimmt seinen Gang wieder auf, überlegt noch einmal, trifft dann eine Entscheidung. »Ich kenne ihn kaum, diesen Bonnefoy. Ich warte noch ab, ehe ich einen Richter in diesen Schlamassel einbeziehe. Ich eröffne ein beschleunigtes Verfahren, das unmittelbar unter meiner Aufsicht bleibt, und betraue den SRPJ von Marseille mit der Ermittlung, was sich angesichts der Person des Opfers rechtfertigt. Auf die Weise schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir verhindern, dass Ihr frisch ernannter Chef in unseren Angelegenheiten herumtrampelt. Und wir halten das Operationszentrum von Nizza und seinen Casinos fern. Es ist doch das, was Sie wollten?«

»Genau das, Herr Staatsanwalt.«

»Aber, Leccia, ich bitte Sie, bei dieser Ermittlung jeden Schritt zu überwachen. Man kann nicht vorsichtig genug sein, sie darf nicht außer Kontrolle geraten, lassen wir uns nicht überrumpeln. Ich zähle auf Sie, wie immer.«