Roter Glamour

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***

Bestégui wartet im Carré des Feuillants auf Bornand. Der kommt auch immer zu spät. Gedämpfte Atmosphäre. Er genießt in aller Ruhe seinen Pure Malt Whisky und entspannt sich. Erste Begegnung 1960, mitten im Algerienkrieg, er war noch keine zwanzig. Ein luxuriöses, nüchternes Büro, er fühlte sich verloren, ohne Bezugspunkt, verwundbar. Bornand stand in dem Ruf, ein mit allen Wassern gewaschener Firmenchef zu sein, seit dem Indochinakrieg entschiedener Befürworter der Entkolonisierung und mit ständigen Geschäftsbeziehungen zur Provisorischen Regierung der Republik Algerien, sogar von Waffenverkäufen an die Nationale Befreiungsfront FLN war die Rede. Das Gesicht eines Abenteurers, elegant, höflich, kaum je ironisch. Ja, er sei bereit, die Solidaritätsdemonstration des Studentenverbands Unef für die algerischen Studenten zu unterstützen.

»Es ist höchste Zeit, dass Sie öffentlich aktiv werden. Dieser Krieg lähmt unsere Wirtschaft und stärkt de Gaulle.«

Er hatte einen Unterstützerscheck gezeichnet und war im Oktober 1960 zu der Studentendemonstration gekommen, mit einigen seiner Freunde, darunter Mitterrand, die sich unter den Blicken der Journalisten anstandshalber eins mit dem Schlagstock überziehen ließen. Wenn man zwanzig ist, vergisst man so etwas nicht.

Er ist immer noch elegant, reich, selbstsicher. Und bestens informiert. Wie viele der Artikel, die Bestéguis Ansehen in der Pariser Presselandschaft begründet haben, hat er im Grunde ihm zu verdanken? Viele … Und ein paar linke Dinger auch. Geschenkt ist nur der Tod.

Endlich kommt Bornand, ohne Entschuldigung, steuert direkt auf Bestégui zu, drückt voller Wärme seinen Arm, wie die angedeutete Umarmung eines Mannes, der nicht viel Zeit hat, dann setzt er sich. Der Oberkellner eilt herbei. Bornand lässt die Karte zugeklappt.

»Ich nehme dasselbe wie du. Ich vertraue dir.«

Bestégui bestellt Maronencremesuppe mit Fasanenhenne. Bornand isst, ohne überhaupt zu merken, was er auf dem Teller hat. Er findet die Vorliebe für die Haute Cuisine seit jeher absurd. Er geht nur deshalb in die guten und sehr guten Restaurants, weil sie in Frankreich unumgängliche Statussymbole und verlässliche Indikatoren der Achtung sind, die man der eingeladenen Person entgegenbringt. Er konzentriert sich ganz auf das, was Bestégui ihm erzählt.

»Man bietet mir ein Dossier über ein Flugzeug an, das gestern früh über der Türkei abgestürzt ist. Es soll französische Raketen transportiert haben und mit Flugziel Iran unterwegs gewesen sein.« Bornand zeigt keine Reaktion. »Bevor ich der Sache nachgehe, wüsste ich gern, in was ich da hineingeraten könnte.«

Sieht aus, als würde er mit offenen Karten spielen, das vereinfacht die Sache.

»Das kann ich dir kaum verraten.«

Bestégui ignoriert die Antwort und fährt fort: »Ist eine Affäre dieser Art deiner Meinung nach denkbar oder wahrscheinlich, oder laufe ich Gefahr, einer reinen Provokation auf den Leim zu gehen?«

»Denkbar sicher. Und sogar wahrscheinlich. Nahezu alle Waffenhändler auf der ganzen Welt machen derzeit Geschäfte mit dem Iran. Embargos haben noch nie verhindert, dass Waffen im Umlauf sind, sie machen sie nur teurer, und die Profite sind höher.« Er beugt sich zu Bestégui vor, der sich jetzt Langustinen mit jungem Knoblauch schmecken lässt. »Was noch lange nicht heißt, dass es nicht auch eine Provokation sein kann.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Gestatte mir einen kleinen Abstecher in den Libanon, wo die französischen Geiseln gefangen gehalten werden. Gestern habe ich einen libanesischen Freund getroffen, der mir erzählt hat, wie es zu dem derzeitigen Krieg zwischen den Milizen kam, einem der brutalsten, die Beirut bisher erlebt hat, und das sind nicht wenige. Ein Angehöriger der Amal-Miliz, Moslem, Verbündeter der Syrer, war, wie das so üblich ist, in einem Höllentempo mit seinem Auto unterwegs, und an einer Kreuzung machte er den Wagen eines PSP-Milizionärs platt, Moslem, Verbündeter der Syrer und der Amal. Sofort wurden die Waffen gezückt, und zwischen Amal und PSP kam es zum Krieg. Die französischen Emissäre, die im Libanon die Befreiung der Geiseln aushandeln sollen, lassen sich nicht mehr zählen. Sie sprechen im Namen dieses oder jenes Ministers, des Präsidenten, einer politischen Partei und was weiß ich nicht noch alles und schleppen Koffer voller Banknoten mit sich herum. Das musst du dir mal vorstellen, in diesem libanesischen Chaos, das sie im Übrigen gar nicht durchschauen. Ergebnis: keins. Kein Ergebnis seit über sechs Monaten, André. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Der Schlüssel zu den Geiseln liegt nicht im Libanon, er liegt in Teheran. Und dieses Flugzeug kann Teil einer umfassenderen Absprache sein.«

»Kannst du mir mehr über diese hypothetische Absprache sagen?«

»Punkt eins: Waffenlieferstopp in Richtung Irak oder ausgeglichene Belieferung beider Lager; die Ladung, um die es hier geht, könnte Teil dieser Absprache sein.«

»Wenn das Flugzeug Teil dieser Absprache ist, haben doch gewisse Leute ein Interesse daran, seine Ankunft in Teheran zu verhindern.«

»Du sagst es.«

»Hast du Details für mich?«

»Noch nicht. Aber wenn man sich bei denen umsieht, die wollen, dass wir im kommenden März die Wahlen verlieren, dürfte man fündig werden. Und ich werde fündig werden. Schon bald.«

Bestégui macht sich über seinen Schokoladenkuchen mit Pistazien her. »Erfahre ich’s als Erster?«

»Du veröffentlichst vorläufig nichts über das Flugzeug? Und bringst die Konkurrenz nicht auf die Spur?«

»Zumindest nicht die, die mit mir spricht.«

»Abgemacht.«

Das Essen ist beendet. Bestégui seufzt tief auf. »Also schön, ich werde es ruhig angehen lassen.«

Komplizentum, faule Kompromisse, ein immerwährender Drahtseilakt.

***

Katryn und Chardon trennen sich vor der Brasserie des Sports. Fernandez folgt Katryn mit einigem Abstand, sie geht schnell, trägt einen langen hellbeigen Regenmantel Typ Duster. In der Avenue Mathurin-Moreau betritt sie ein gutbürgerliches Wohnhaus. Fernandez geht bis zur Haustür. Ein Zahlencode. Graue Fingerspuren auf vier Zahlen und einem Buchstaben. Er probiert aufs Geratewohl verschiedene Kombinationen; bei der dritten öffnet sich die Tür. Er geht hinein. Katryn ist nicht mehr in der Eingangshalle. Der Fahrstuhl fährt gerade abwärts. Richtung Keller oder Tiefgarage. Hält im zweiten Untergeschoss. Fernandez instinktiv hinterher. Muss ich eben improvisieren.

Die Parkhausbeleuchtung ist schwach. Zwei Reihen von Fernandez entfernt steht eine Garage offen. Katryn fährt einen roten Austin Mini heraus, hält an und steigt aus, um die Garage wieder zu schließen. Fernandez geht auf sie zu. Vielleicht erkennt sie mich wieder. Er legt ihr eine Hand auf den Arm. Sie reagiert äußerst drastisch auf die Berührung. Schreit auf und jagt ihm mit aller Kraft ihre Faust ins Gesicht. Schlecht gezielt. Der verblüffte Fernandez schützt sich, so gut er kann.

»Hör auf! Ich will mit dir reden …« Er zerquetscht ihr fast den Arm. »Reden, verflucht, hörst du …«

Sie hört gar nichts, schlägt blindlings weiter auf ihn ein. Er drängt sie in die Garage, eine Hand auf ihrem Mund.

»Halt die Klappe, verdammt!«

Sie beißt ihn bis aufs Blut, er lässt sie los, sie stürzt zu ihrem Wagen, dessen Tür noch offen steht. Eine Nutte … Muss die so einen Aufstand machen? Mit der Rechten zieht er seinen Revolver, damit sie endlich stillhält, mit der Linken packt er sie, zerrt sie aus dem Wagen, an dem sie sich festklammert, sie verletzt sich an den Händen, er drückt sie gegen die Wand, fuchtelt mit dem Revolver vor ihrem Gesicht herum und schreit nun seinerseits: »Ruhig jetzt!«

Als sie den Lauf an ihrer Kehle spürt, krampft sich ihr ganzer Körper zusammen, sie reißt das Knie hoch und rammt es ihm auf Gürtelhöhe in den Leib, er krümmt sich, der Revolver geht los, die junge Frau rutscht an der Wand nach unten, auf der Stelle tot.

Der Knall hallt lange nach, mischt sich mit dem Geruch von Pulver und verbranntem Benzin. Fernandez: Schock, Atemnot, Herzrasen.

Das Kellerlicht erlischt, nur der im Leerlauf brummende Motor des Mini ist noch zu hören. Er lehnt sich an die Wand. Für mich heißt dieser Mord: Ende der Vorstellung. Das darf doch alles nicht wahr sein. Linker Bulle, die RG, Pferdewetten, Begegnung mit Bornand, das Élysée, zehn Jahre harter Kampf. Kommt wieder zu Atem. Das geb ich nicht auf. Ich brauche ein paar Stunden Zeit. Tu was, los!

Macht wieder Licht, setzt sich ans Steuer des Wagens, fährt ihn in die Garage zurück, schließt das Tor. Ein sehr unsicheres Versteck, es steht noch ein weiterer Wagen da, aber immer noch besser, als ihn draußen zu lassen. Dort die Leiche, ein am Boden liegender Haufen, sie hat eine Blutspur an der Wand hinterlassen, und auf dem Boden breitet sich langsam eine Lache aus. Eine nicht wiedergutzumachende Dummheit. Hier kann ich sie nicht lassen, sie kann jeden Moment gefunden, sofort identifiziert werden, und ich gerate unter Beschuss. Erst mal muss ich Zeit gewinnen, dann versuche ich, sie Chardon anzuhängen.

Er öffnet die Wagentür, deponiert die Leiche auf dem Beifahrersitz, dreht sie auf die Seite, als ob die junge Frau schliefe, drapiert den weiten Regenmantel so, dass er sie bedeckt, durchsucht ihre Tasche, findet die Fernbedienung für die Ausfahrt der Tiefgarage. Atmet tief durch und fährt den Mini hinaus auf die Straße. Blut auf seiner Kleidung und im Wagen. Es beginnt zu schneien, das ist eher günstig, so gibt es weniger Neugierige, aber richtig weit fahren kann er nicht, zu riskant.

Es gibt im 19. Arrondissement ganz in der Nähe einen Ort, der um diese Zeit und bei diesem Wetter menschenleer ist, den Parkplatz von La Villette. Vorsichtig fährt er dorthin. Unbewachter kostenpflichtiger Parkplatz. Eine riesige Fläche unter freiem Himmel. Asphaltierte Alleen, durch Bürgersteige voneinander getrennt, auf denen kahle Bäume gepflanzt sind. Die Straßenlaternen sind aus. Dichter Schneefall, die Flocken bleiben auf dem Teer und den Ästen der Bäume liegen. Von der Stadtautobahn oberhalb des Parkplatzes kommt ein schwacher Schein, auf der anderen Seite sieht man ein paar Lichter der etwa hundert Meter entfernt liegenden La Villette-Baustelle. Fernandez befindet sich mit seiner Leiche im Zentrum eines in Watte gehüllten schwarzen Lochs. Er parkt den Mini direkt neben einer Reihe von Sträuchern und Tannen, die die Parkplatzausfahrt säumen, geht um den Wagen herum, öffnet die Beifahrertür, zerrt die Leiche heraus auf den Boden, schiebt sie mit dem Fuß unter die Bepflanzung und deckt sie mit dem beigefarbenen Regenmantel zu. Schon lässt der Schneefall die Leiche verschwinden. Er blickt sich um, immer noch kein Mensch zu sehen. In zehn Minuten wird alles schneebedeckt sein. Setzt sich wieder ins Auto, zahlt am Kassenautomaten und ist schon wieder in der Rue Jean-Jaurès. Er nimmt sich die Zeit, Sitz und Rückspiegel richtig einzustellen, dann stoppt er bei einer Telefonzelle, erhält von der Auskunft die Nummer von Chardon und ruft ihn an. Gott der Bullen, mach, dass er da ist. Er ist da.

 

»Ich bin ein Freund von Katryn. Sie bittet Sie, zu ihr zu kommen, um ein paar Fotos zu machen.«

»Sagen Sie nichts am Telefon.«

»Ich hole Sie in einer Viertelstunde vor Ihrer Haustür ab. Ich habe Katryns Wagen.«

»In Ordnung.«

Küchenpapierrollen kaufen, die auffälligsten Blutspuren im Auto entfernen, Katryns Tasche in den Kofferraum. Revolver auf die Rückbank, Lederjacke drüber. Und los.

Chardon bewohnt ein kleines, auf einem Hügel gelegenes Haus in einer schmalen Sackgasse. Der Schnee erschwert das Fahren erheblich. Keine Autos, keine Fußgänger, die Leute hocken zu Hause. Nur ein paar Jungs, hinter parkenden Autos verschanzt, liefern sich mit lautem Geschrei eine wilde Schneeballschlacht. Chardon wartet vor seiner Haustür auf ihn, im Schutz des Dachvorsprungs, er schlittert heran, setzt sich neben ihn, nicht unbedingt misstrauisch, aber neugierig.

»Katryn ist in Aubervilliers, wo wir verabredet waren. Rein zufällig hat sie den Geschäftsführer eines großen Unternehmens, mehr hat sie mir nicht gesagt, zusammen mit Jugendlichen gesehen, sehr jungen Kids aus der Gegend. Sie ist dort geblieben und hat mich geschickt, um Sie zu holen.« Eine Weile herrscht Schweigen. »Sie haben doch Ihren Fotoapparat dabei?«

»Keine Sorge.«

Schweigen. Unbehagen. Schnell jetzt. »Sie werden sehen, es dauert nicht lang.«

Geschickt kurvt er zwischen Schritt fahrenden Autos hindurch. Es ist glatt. Solange Chardons Blick auf die Straße gerichtet ist, solange er Angst hat, wird er sich das Wageninnere oder meine Hose nicht allzu genau ansehen. Offenes Fenster, kalter Luftstrom, der den Blutgeruch vertreiben soll.

Porte d’Aubervilliers. Fernandez biegt in die Uferstraße am Canal Saint-Denis ein. Fährt schneller, immer schneller. Überquert den Kanal auf dem Pont du Landy und biegt, ohne vom Gas zu gehen, mit vollem Tempo in einen kaum asphaltierten Weg ein. Chardon sieht ihn fragend an. Mit der Linken hält Fernandez den Wagen in den Spurrillen, mit der Rechten holt er seinen Revolver unter der Jacke auf dem Rücksitz hervor, setzt die Waffe mit einer einzigen Bewegung an Chardons Kopf und schießt. Der Körper kippt auf das Armaturenbrett, das rechte Fenster birst. Ohne anzuhalten presst er den Leichnam, immer noch mit der Rechten, tiefer in den Raum zwischen Armaturenbrett und Beifahrersitz, bedeckt ihn dann mit seiner Jacke. Plumpe Tarnung, aber es ist ja nicht weit, und die Leute hier sind nicht unbedingt sehr neugierig. Er quert eine matschige Brache längs des Kanals, landet wieder auf Asphalt, Geschicklichkeitsfahren durch heruntergekommene kleine Straßen, unter Stadtautobahn und Eisenbahnschienen hindurch, dann fährt er auf das Gelände einer Schrottpresse. Stoppt den Mini fünfzig Meter von einem Bürocontainer entfernt und hupt. Ein schlanker junger Bursche im Blaumann erscheint in der Tür und wartet dort, bis er vor ihm steht. Sie geben sich die Hand.

»Ein Wagen für die Presse, und du guckst nicht, was drin ist.«

»Weiß der Chef Bescheid?«

»Dazu bin ich noch nicht gekommen. Es eilt.«

Der junge Mann zeigt ihm, wo im Container das Telefon steht. »Muss sein. Ich habe hier nicht zu entscheiden.«

Fernandez ruft an. Der Chef ist dran. Der junge Mann schaltet auf Lautsprecher.

»Ich würde gern ein Auto plattmachen, und es eilt.«

»Voll?«

»Ja, zum Teil.«

»Du kennst den Preis?«

»Ich habe immer bezahlt und mich immer revanchiert.«

»Okay.«

Der junge Mann begibt sich zur Presse auf dem rückwärtigen Teil des Firmengeländes. Fernandez geht zum Mini zurück, nimmt die Schlüssel aus Chardons Taschen sowie Schlüssel und Adressbuch aus Katryns Handtasche an sich. Lässt seine eigene Jacke widerstrebend auf dem Vordersitz zurück, weiches, mit Otterpelz gefüttertes Leder, aber er darf jetzt keinen Fehler machen, dann fährt er das Auto auf die Presse. Steigt aus. Und sieht dem Zerquetschen aufmerksam zu. Ein plattgemachter Mini ist ein Fladen, ein großer Fladen, der von Benzin, Öl und Blut nur so trieft und der zusammen mit anderen komprimierten Objekten in einen Kipplader geworfen wird. Fernandez merkt, wie eine Last von ihm abfällt. Mir ist keine Leiche bekannt, die von hier zurückgekehrt wäre.

Die Zeit: 17 Uhr 30. Es ist stockfinster. Die Schrottpresse macht gleich dicht. Und mein Tag ist noch nicht zu Ende. Metro, Geschiebe, bloß nicht auffallen. Als er zu Hause ist, zieht er sich aus und stopft die Kleidungsstücke in eine Plastiktüte. Muss alles weg. Er springt kurz unter die Dusche und zieht dann dieselbe Art Kleidung an wie vorhin, Jeans und Lederjacke. Dann nimmt er seinen Wagen und fährt eilig zu Chardon.

Er parkt ein ganzes Stück vom Hügel entfernt und läuft zu Fuß hinauf. Es schneit nach wie vor, doch die Kinder sind inzwischen nach Hause gegangen. Er geht langsam, damit er Zeit hat, sich zu orientieren. Ein Gitterzaun, eine angelehnte Pforte, er betritt ein Vorgärtchen voll von Efeu und Sträuchern, die sich unter den Schneemassen biegen und ihn vor Blicken schützen. Ein zweigeschossiges kleines Backsteinhaus. Die Vorhänge sind nicht zugezogen, es brennt kein Licht: sieht verlassen aus. Der Schlüssel lässt sich problemlos im Schloss drehen. Aber wenn es eine Alarmanlage gibt … Die Tür geht auf, alles bleibt ruhig. Er schlüpft in die Diele, drückt die Tür hinter sich zu, beginnt sich umzusehen. Die Räume sind in ein fahloranges Licht getaucht, das von den Straßenlaternen hereinfällt und in das die unablässig vom Himmel fallenden Schneeflocken feine Streifen ziehen. Bleib bloß von den Fenstern weg.

Im Erdgeschoss ein Abstellraum, eine Werkstatt mit Gefrierschrank, Waschmaschine und Werkbank. Eine verschlossene Tür. Ein paar Sekunden, bis der passende Schlüssel gefunden ist. In einem fensterlosen Raum ein Fotoatelier, gut ausgestattet für das Entwickeln und Herstellen von Abzügen. Macht Licht. Alles sauber und aufgeräumt. An einer Schnur hängen zwei Fotos und trocknen. Wie es aussieht, das Ergebnis von Chardons Arbeit unmittelbar vor seiner Spazierfahrt. Zwei Sexszenen mit Leuten, die Fernandez kennt. Er lässt sie mitgehen. Die werden im Élysée für Heiterkeit sorgen. Er löscht das Licht und steigt hoch in den ersten Stock.

Ein großer Raum über die gesamte Etage, zu beiden Seiten Fenster, Sofas, Sessel, ein massiver Holztisch, opulente Behaglichkeit, auf dem Boden ein marokkanischer Wollteppich, wenig Zierrat. An einer der Wände in einem halbleeren Bücherschrank ein Fernseher, ein Videorekorder, eine Hifi-Anlage, Schallplatten, Kassetten. Eine sehr schön eingerichtete offene Küche. Eine Kaffeekanne auf dem Herd, eine schmutzige Tasse in der Spüle. Ansonsten herrscht Ordnung. Hier ist nichts zu holen, verlier keine Zeit.

Im zweiten Stock Schlafzimmer, Büro, Bad. Zuerst das Büro, logisch. An einer Wand ein alter Sekretär, der offen steht. Zwei Stapel Unterlagen in farbigen Aktendeckeln. Fernandez blättert sie rasch durch. Links Steuern, Gehaltsabrechnungen, Sozialversicherung. Weiter. Rechts ein paar von Hand beschriebene Seiten, Namen, Adressen, Daten, vermutlich Memos, kaum verwertbar. Sein eigentliches Archiv muss woanders sein, vielleicht bei seiner Bank, das würde erklären, warum das Haus kaum gesichert ist. In der Mitte des Stapels eine dickere Mappe. Erstes Blatt, Kopie des Flugplans einer Boeing 747 Cargo, Brüssel-Zaventem – La Valetta – Teheran, Donnerstag, 28. November 1985. Bingo. Das war leicht. Für einen Erpresser hat der Kerl einen lausigen Sinn für Sicherheit. Eilig rafft Fernandez das Ganze zusammen. In einer Schublade des Sekretärs deponiert er Katryns Adressbuch und Schlüssel, sorgsam abgewischt, wohl wissend, dass das nicht sehr überzeugend ist. Aber er muss nun mal improvisieren und kann hier keine Wurzeln schlagen. Er läuft wieder hinunter in die Diele, verharrt ein paar Augenblicke, auf der Straße immer noch kein Geräusch, über allem liegt die Stille der verschneiten Stadt, er verlässt das Haus, zieht die Tür hinter sich zu, schlägt den Jackenkragen hoch und macht sich davon.

***

Bornands Nachmittag schreitet in unvermindertem Tempo voran. Die Zollbehörden könnten sich irgendwann veranlasst sehen, sich mit dem Flugzeug zu befassen. Ein Gespräch mit dem Minister für Öffentliche Finanzen ist daher unumgänglich. Das Verhältnis der beiden Männer ist jedoch schwierig und nicht frei von Fallstricken. Das will also vorbereitet sein. Dafür ist Timsit genau der Richtige. Absolvent einer Elitehochschule, ganz anderer Werdegang als Bornand, einflussreicher Mann in der Verwaltung. Kennengelernt haben sie sich auf Jagdpartien, die die Parillaud-Bank ausgerichtet hatte, lange Gespräche über Sammlerwaffen, Bornand hatte ihm damals ein paar sehr schöne aus dem Libanon geschenkt.

»Ich möchte, dass Sie informiert sind, bevor ich mit dem Minister spreche. Ein Waffengeschäft mit dem Iran. Dabei geht es nicht ums große Geld, Hintergrund sind Geheimverhandlungen über die Befreiung der Geiseln. Ich komme gerade aus dem Büro des Präsidenten. Er wünscht, dass alles getan wird, damit es kein Aufsehen gibt.«

Botschaft angekommen.

Schließlich noch Flandin, Chef der SEA, jener Firma für angewandte Elektronik, die den Deal gedeckt hat. Der Ton ist ein anderer als noch letzte Nacht. Bornand findet, dass Flandin nervös klingt, vor allem darauf bedacht, seine Firma zu schützen. Er ist vermutlich die größte Schwachstelle.

»Ich warne Sie, ich werde auf keinen Fall den Kopf hinhalten. Sorgen Sie dafür, dass die Sache vertuscht wird, oder ich packe aus und lege offen, was im Zusammenhang mit den Irangeschäften alles an Provisionen geflossen ist, Ihre eigenen zuallererst. Ich werde nicht allein die Zeche zahlen.«

Bornand lehnt sich in seinem Sessel zurück und streckt die Beine aus. Sollte die Sache sich zuspitzen, wird der Kerl unweigerlich zum Problem. Als ich mich entschieden habe, bei dieser Art Geschäft mit einem Neuling zusammenzuarbeiten, bin ich von Anfang an ein Risiko eingegangen, und das wusste ich. Ich rufe Beauchamp an, der soll ihn aus dem Verkehr ziehen. Wofür hab ich ihn schließlich in den Sicherheitsdienst der SEA eingeschleust. Leises Lächeln. Regieren heißt vorausschauen.

Fernandez ist zurück. Bornand schenkt zwei Whiskys ein und blättert in dem Dossier, das Fernandez ihm gegeben hat. Die ganze Operation liegt offen vor ihm. Na ja, fast die ganze. Das Beschlussprotokoll der Hauptabteilung Rüstung im Verteidigungsministerium vom letzten Februar: die R.550 Magic, mit denen die Luftstreitkräfte bestückt sind, sollen durch ein leistungsfähigeres Modell ersetzt werden. Im Mai Vertrag zwischen der Hauptabteilung Rüstung und der auf Elektronikgüter spezialisierten SEA, die die Raketen für fünf Millionen Franc kauft und sich verpflichtet, sie zu entschärfen und das übernommene Material im zivilen Bereich wiederzuverwerten. Im September werden die Raketen in die Hangars der SEA überführt. Im Oktober verkauft die SEA für 30 Millionen Franc Elektronikmaterial an die SAPA, eine Finanzgesellschaft mit Geschäftssitz auf den Bahamas. Noch am selben Tag verkauft die SAPA dasselbe Material für 40 Millionen Franc an die SICI, ein Unternehmen mit Sitz auf Malta. Das Material wird in Brüssel-Zaventem an Bord genommen, Empfänger ist die SICI. Aus dem Flugplan der Boeing 747, die das Material geladen hat, geht jedoch eindeutig hervor, dass die Maschine nie auf Malta gelandet, sondern von ihrer Route abgewichen und nach Teheran geflogen ist. Ein separates Blatt verweist außerdem darauf, dass vierzehn Tage zuvor in Teheran eine Niederlassung der Camoc gegründet wurde, ein libanesisches Unternehmen, das auf die Umrüstung von Waffen aus französischen, amerikanischen und israelischen Beständen auf Gerät aller Art spezialisiert ist. Kurz: Die Kette ist lückenlos, den Journalisten wird alles vorgekaut, die Überprüfungen werden ein Leichtes sein.

 

Bornand richtet den Blick wieder auf Fernandez. »Hervorragende Arbeit, mein Kleiner. Ich wage gar nicht zu fragen, wie Sie das angestellt haben …«

Lächeln. »Chardon und Katryn haben zusammen das Restaurant verlassen, ziemlich spät, so gegen drei, nach einer Partie Billard, und soweit ich mitbekommen konnte, hatten sie irgendwo in Paris eine gemeinsame Verabredung. Das habe ich genutzt, um mich gründlich in Chardons Haus umzusehen, ganz einfach. Das Dossier habe ich mitgenommen, weil ich denke, dass ihn das zum Nachdenken bringen wird.«

Bornand hebt das Glas in seine Richtung und nickt. Fernandez fährt fort: »In Chardons Unterlagen habe ich auch ein paar Fotos gefunden. Jean-Pierre Tardivel, einflussreicher Journalist beim Combat Présent, dieser rechtsextremen Wochenzeitung, wie er sich mit zwei sehr jungen Knaben vergnügt …«

Er schiebt Bornand das Foto hin, der sich aufmerksam darüberbeugt. »Das ist ja hochinteressant. Ich behalte es, es kann uns sicher nützlich sein.«

»… und hier die wunderschöne Delia Paxton, die sich von zwei Transen rannehmen lässt, wobei die Inszenierung sehr an einen Pornodreh erinnert.«

Bornand nimmt das Foto und steckt es in einen Umschlag. »Für den Präsidenten. Er ist ein Fan von Delia Paxton, er sieht sich all ihre Filme inkognito an, je größer die Leinwand, desto besser. Jetzt hat er wenigstens etwas, worüber er sich mit ihr unterhalten kann, wenn er ihr bei einem Restaurantbesuch begegnet. Oder was er in seiner Rede erwähnen kann, wenn er ihr das Kreuz der Ehrenlegion verleiht.«

Als Fernandez gegangen ist, schenkt Bornand sich noch einen Whisky ein. Es ist still und dunkel. Nur ein farbiger Lichtring auf der Schreibtischplatte. Nimm dir die Zeit und denk nach.

Diejenigen, die dieses Dossier erstellt haben, verfügen über Informationsquellen auf allen Ebenen der Transaktion, in der Hauptabteilung Rüstung des Verteidigungsministeriums, bei der SEA, aber auch bei der Camoc in Beirut, von deren Beteiligung hier in Paris nur der Chef der SEA und ich wissen. In Beirut findet sich vielleicht eher eine Spur von ihnen als hier. Beirut, Moricet.

Rückblende: Moricet, groß, athletisch, die Art, wie er seine Kämpferstatur samt Kampfgerät in einen eleganten Leinenanzug und sein Abenteurergesicht in ein Verführerlächeln hüllt, verrät Sinn für Humor. Sie beide völlig zugekokst in einem Beiruter Bordell, an das er sich nur vage erinnert, ein vom Krieg verwüstetes Luxusapartment und ein blödsinniger Wettstreit: wer von beiden innerhalb von zwei Stunden die meisten Mädchen vögeln könnte. Und Moricet hatte gewonnen, 9 : 6. Bestimmt nur aufgrund seines Alters, hatte Bornand steif und fest behauptet, aber Respekt verdiente die Leistung allemal.

Noch eine Rückblende: Moricet und er fahren in einem fremden Wagen stockbesoffen durch Beirut, als plötzlich zwei Gruppen Bewaffneter da sind und sie in die Zange nehmen. Moricet, schlagartig nüchtern, hat ihn zu Boden gedrückt, mächtig Gas gegeben und dabei mit einer aus dem Nichts aufgetauchten Waffe geschossen, Kugelhagel gegen die Karosserie. Er hat sie dort herausgebracht und ihn dann mit zu sich ins christliche Viertel genommen. Erinnerung an eine Höllenangst, die Art von Angst, die bewirkt, dass man sich hinterher durch und durch lebendig fühlt, und ein Freund, auf den er zählen kann.

»Versuchte Entführung mit Lösegeldforderung«, war Moricets nüchterner Kommentar gewesen. »Seit Kriegsausbruch das einträglichste Gewerbe in diesem Land.«

»Einträglicher als die Bank, fürchte ich.« Und er hatte sich zu ein paar Vertraulichkeiten über seine Schwierigkeiten mit der Banque internationale du Liban hinreißen lassen, die zwar in der christlichen Gemeinschaft gut etabliert war, jedoch in den anderen Religionsgemeinschaften des Libanon seit Kriegsbeginn Kunden verlor, bei den Syrern und im Rest des Mittleren Ostens.

»Verhandeln Sie mit den Syrern.«

»Würden wir gern, aber das ist nicht einfach. Sie sind uns gegenüber äußerst misstrauisch.«

»Ich kenne den Chef der syrischen Geheimdienste. Wollen Sie ihn treffen?«

Zwei Tage später war der Fall erledigt. Langes Gespräch über die neuesten archäologischen Forschungen in Syrien (meine Passion, hatte der Geheimdienstmann gesagt), das Bornand nach Kräften in Gang gehalten hatte. Offenbar ganz gut, denn fortan kam der Syrer ihn jedes Mal besuchen, wenn er sich zu einem halboffiziellen Besuch in Frankreich aufhielt, und einige seiner Freunde waren in den Verwaltungsrat der BIL eingetreten, die sich wieder erholt hatte. Für die Geschicke der Bank eine entscheidende Wendung. Moricet: ein tüchtiger Mann.

Und so hatte Bornand ihn 1982 in den Beraterstab des Élysée berufen. Er war dem Ruf gefolgt, doch nicht für lange: Zu viele Stümper, hatte er gesagt, zu viele Bürokraten, zu viele Chefs, zu wenig Action und zu wenig Sonne. Und hatte daraufhin seine eigene private Sicherheitsfirma ISIS gegründet, mit Sitz in Beirut, deren Stern über dem gesamten Mittleren Osten strahlte. Wenn ich etwas über die Camoc erfahren will, ist Moricet zweifellos der richtige Mann.

Telefon. Morgen ist er da.

Bornand legt die Aufzeichnungen vom Tag ordentlich in einen der beiden Schränke. Zwischen Arabesken und Akanthusblättern finden sich darin die Spuren all dessen, was je in diesem Büro gesprochen wurde, zusammengetragen seit vier Jahren, eine regelrechte Kriegskasse. Er schließt den Schrank ab. Schenkt sich dann am Fenster stehend einen letzten Whisky ein und blickt über die Dächer.

***

Fernandez steht wieder unten auf der Straße. Es schneit immer noch. Verflogen die Wärme von Büro, Whisky, Bornand. Erschöpfung. Überhaupt keine Lust, nach Hause zu gehen, so ganz allein mit seinen Toten. Im nächstbesten Café bestellt er einen Calvados, geht zu den Toiletten, zieht eine Line Koks durch. Gutes Gefühl. Wenn man es recht bedenkt, ist die Lage doch ganz amüsant. Den Abend bei Katryns Puffmutter Mado ausklingen lassen: genial. Das hat Stil.

Im Erdgeschoss von Mados Etablissement eine große Bar im englischen Stil, elegante, gedämpfte Atmosphäre. Als Bornands Handlanger hat Fernandez im ganzen Haus freien Zutritt. Der Barmann begrüßt ihn und schenkt ihm einen Cognac ein, den er auf ex trinkt, dann begibt er sich ins Untergeschoss. Zum Swingerclub. Für eine gewisse bürgerliche Kundschaft ist das die neue Mode; macht sich besser, als zu den Huren zu gehen, funktioniert ähnlich, nur dass es ein paar Nichtprofessionelle gibt. Mados eigentliche Klientel, der sie ihr Vermögen und ihren Ruf verdankt, die viel Geld und viel Macht besitzt, bevorzugt das Callgirlnetz und die Sexspiele in den Salons im ersten Stock.

Im Halbdunkel riecht es nach Schweiß, Muff, Sex und Staub, dröhnt ohrenbetäubende, rhythmusbetonte Musik, Fernandez entspannt sich. In einer Ecke tanzen zwei Frauen, die Teile eines Stachelharnischs angelegt haben. Woanders reiben sich weitgehend entkleidete Männer und Frauen rhythmisch aneinander. An den Seiten Sofas und Separees mit aufeinanderliegenden Paaren. Mädchen überall, zum Greifen nah, dargeboten, offen. Fernandez ist sofort fasziniert von einer, die mit übertriebenen Bewegungen nackt in einem Lichtkegel tanzt. Ein runder, glatter Arsch, einladend, ohne provokant zu sein, zwei wippende große, weiße Brüste und darüber ein Kopf mit einem auf Ohrlänge geschnittenen schwarzen Haarhelm. Sie hat kein Gesicht. Kein Gesicht. Seine Nerven beginnen zu sirren. Rückblende: Katryns Kopf im Dunkel der Tiefgarage, gegen die Wand gedrückt, schreiend, dann der explodierende Nacken. Im Hintergrund hypnotische Musik.

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