Roter Glamour

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Am Abend steigt sie die Treppe mit zusammengekrampftem Magen wieder hinab. Die Plakate sind nicht mehr da. Sie durchquert den Bereitschaftsraum, vorbei an den uniformierten Polizisten, es herrscht Schweigen.

Donnerstag, 28. November

Hoch über einsamen, schneebedeckten Bergen und einem tiefgrünen See hinterlässt ein Flugzeug seine Spur am stahlblauen Himmel. Das abgedroschene Werbebild einer altmodischen Luftfahrtgesellschaft. Und dann geht das Flugzeug in Flammen auf, explodiert, zerfällt in ein Dutzend großer Feuerbälle, die zu Sternen zerstieben, bevor sie in einem Regen brennender Trümmer langsam in Richtung Erde trudeln. Die Detonation wälzt sich als endloses Echo durch das Gebirge.

Ein behaglicher Salon in Beige- und Brauntönen: zwei Ledersofas, ein paar wuchtige Sessel, Couchtisch aus Glas und Stahl, dicker weißer Wollteppich, zwei große Fenster, von schweren Samtvorhängen verdeckt. An der Wand eine von einem Spot angestrahlte, auf artige Weise anzügliche Rötelzeichnung von Boucher, auf der eine rundliche, nackte junge Frau aufs Anmutigste von einem kaum bekleideten jungen Mann bedrängt wird. Männer zwischen vierzig und sechzig, dunkler Anzug und Krawatte, sehr konventionell, reden, trinken Champagner, Whisky, Cocktails, serviert von Frauen zwischen zwanzig und dreißig, die vom einen zum anderen gehen, alle hinreißend schön, eng anliegende Kleider, gut geschnitten, gedeckte Farben, dezente Dekolletés, zurückhaltender Schmuck, lächelnd, aufmerksam.

Gerade wurde ein Waffengeschäft mit dem Iran unter Dach und Fach gebracht, eintausend Raketen, illegal geliefert, da das Land mit einem Embargo belegt ist. Da war die Anspannung natürlich groß. Zumal die Lieferung im letzten Moment um ein paar Tage verschoben werden musste. Der Flughafen von Malta, über den die Fracht laufen sollte, war Schauplatz einer regelrechten Schlacht zwischen ägyptischen Spezialeinsatzkräften und palästinensischen Geiselnehmern gewesen. Zu guter Letzt aber, ein paar Dutzend Tote später, war der Flughafen befreit und gestern wieder für den Verkehr freigegeben worden, und heute Morgen nun war die mit Raketen beladene Boeing 747 Cargo von Brüssel-Zaventem über Malta-La Valetta in Richtung Teheran abgeflogen. Sie muss zur Stunde in Teheran gelandet sein. Und jetzt, da das Geschäft abgewickelt ist, darf gefeiert werden.

Bornand spielt den Hausherrn. Groß, sehr schlank, ein attraktiver Sechziger, leicht gelocktes, volles Haar, ein wenig angegraut, langes schmales Gesicht, dessen Züge durch die vertikalen Falten und den quer dazu verlaufenden dichten Schnurrbart, sorgsam gestutzt und komplett weiß, noch markanter wirken. Er trägt einen körpernah geschnittenen hellgrauen Anzug, der seine schlanke Statur noch betont, und geht von Gruppe zu Gruppe, um ein Wort zu sagen, eine Schulter zu berühren, ein Glas nachzufüllen.

Flandin, Chef der Elektronikfirma SEA, die den Iranern die Raketen verkauft hat, linke Hand auf dem Hintern eines Mädchens, Champagnerglas in der Rechten, unterhält sich mit einem libanesischen Banker, groß, fett, der ihm in den leuchtendsten Farben ein Kamelrennen in der Wüste schildert, das ein saudischer Prinz organisiert hatte. Flandin lacht, und als Bornand hinzutritt, hebt er sein Glas. »Auf unseren Gastgeber, meine Herren, der alles für den Erfolg unseres Geschäfts getan hat.«

Bornand erwidert seinen Trinkspruch. Flandin. Ich habe den richtigen Mann ausgesucht. Ein sehr guter Elektronikingenieur, als Firmenchef aber nur begrenzt brauchbar, immer knapp an Kapital und abhängig von seinem Auftragsbuch. Als Lieferant bestens geeignet und dabei immer schön unter Kontrolle. Da steht er nun, entzückt darüber, mit den Mächtigsten und den Reichsten zu verkehren, und als Dreingabe der Kick, ohne jedes Risiko an einer illegalen Transaktion beteiligt zu sein.

»Und auf alle Geschäfte, die noch folgen«, greift der libanesische Banker den Toast auf.

»Ohne jeden Zweifel«, gibt Bornand lächelnd zur Antwort.

Mit Karim, seit über zehn Jahren sein Freund, hat er sich einst zusammengetan, um die BIL zu gründen, die Banque internationale du Liban, unverzichtbarer Unterhändler bei allen Waffengeschäften im Mittleren Osten, und die sind zahlreich.

Der Banker neigt sich zu dem Mädchen, das Flandin gerade betatscht, angelt eine ihrer Brüste aus dem Dekolleté, gießt langsam Champagner über die Rundung ihrer erschauernden Haut, bis ein Rinnsal die Brustwarze erreicht, wo der Mann es hingebungsvoll trinkt.

Bornand schenkt sich ein Glas Champagner ein. Die französische Politik im Mittleren Osten neu austarieren, die Beziehungen zum Iran wieder aufnehmen. Die Realpolitik findet hier statt, im Salon eines Stundenhotels, und der Regisseur, an dem keiner vorbeikann, bin ich.

Ein iranischer Offizier sitzt zurückgelehnt in einem Sessel, die Augen halb geschlossen, selige Miene, und raucht eine Zigarette, die Katryn ihm gedreht hat, mit einer Prise Heroin darin. Katryn, eine Klasse für sich. Sie hat sich auf die Armlehne gesetzt. Schwarzer Haarhelm, sehr blasser Teint, rote Lippen, ihm zugeneigt; sein Blick folgt gebannt einer irisierenden Perle, die, von einem unsichtbaren Faden an ihrem Hals gehalten, bei jeder ihrer Bewegungen in der Vertiefung unter ihrer Kehle hin und her pendelt und erzittert, wenn sie spricht, ein perlmuttschimmernder Kontrapunkt zu ihrem weißen Gesicht. Aufmerksam und komplizenhaft lauscht sie dem Offizier, der voller Wehmut vom einstigen Glanz am Hof des Schahs erzählt, von der Bekassinenjagd in den Reisterrassen an den Flanken des Elburs und dem Abstieg durch die Orangenhaine bis zu den Ufern des Kaspischen Meers. (Rückblende: Bornand sieht wieder die flink im Zickzack davonfliegenden Bekassinen vor tiefblauem Hintergrund.) Sie gibt ihm ein Stichwort, wenn er den Faden verliert, als wäre sie von Kindheit an bei diesen Jagden dabei gewesen: Sie beherrscht ihr Handwerk und arbeitet ökonomisch.

Bornand beugt sich zu ihr hinab, nimmt ihre Hand, streift sie mit den Lippen, ein Kitzeln mit dem Schnurrbart, und entfernt sich.

Unaufdringliches Klingeln, das Haustelefon. Bornand begibt sich hinter die Bar in der Ecke des Salons und nimmt ab.

»François, die Störung geht auf mein Konto, da ist ein Anruf für dich, es scheint sehr dringend zu sein.«

»Ich komme.«

In der Lobby erwartet ihn Mado, die Hausherrin, und weist ihm die richtige Kabine. Er hebt den Hörer ab.

»François? Pontault hier. Ich hoffe, du genießt deine kleine Feier …«

»Deswegen rufst du mich wohl kaum an.«

»… denn sie könnte gleich zu Ende sein. Die Türkei hat gerade bekanntgegeben, dass eine Boeing 747 Cargo über ihrem Territorium verschwunden ist …«

Bornands linke Hand krampft sich um das Glas, es bricht und schneidet knochentief in den Ballen. Scherben, Blut auf der Hand, dem Hemd, der Hose, dem Teppich, den Kabinenwänden.

»… genauer gesagt über dem Vansee, sie kam aus Richtung Malta …«

Bornand versucht fieberhaft, die Blutung mit seinen Hemdzipfeln zu stoppen.

»Was genau mit ihr passiert ist, weiß man noch nicht, aber es ist unsere, kein Zweifel. Bist du noch dran, François? Was sollen wir jetzt tun?«

Die Blutung ist halbwegs unter Kontrolle.

»Wir verdoppeln den Einsatz, wie alle echten Spieler. Ich rufe dich morgen früh an.«

Freitag, 29. November

Telefonklingeln früh am Morgen. Bornand ist mit Chemie vollgepumpt und kommt nur langsam zu sich. Tastet nach dem Telefon. Stechender Schmerz in der linken Hand, unsanfte Erinnerung an die Party bei Mado, das verschwundene Flugzeug, das hervorsprudelnde Blut. Hebt ab, ohne die Augen zu öffnen.

»Guten Morgen, François. André Bestégui hier. Habe ich dich geweckt?«

Langer Seufzer. »Du merkst auch alles. Was willst du um diese Zeit von mir?«

»Dich treffen. Und zwar bald, um zu reden.«

»Worüber? Gib mir wenigstens einen Anhaltspunkt.«

»Über das Flugzeug, das gestern über der Türkei verschwunden ist.«

»Nachher zum Mittagessen, um eins im Carré des Feuillants

»Perfekt.«

Er legt auf. Bestégui. Erste Begegnung 1960, mitten im Algerienkrieg, in den Räumen seiner Import-Export-Firma, Avenue de la Grande-Armée. Ein junger Student, der ein wenig linkisch wirkte angesichts des neonblauen Teppichbodens, des Gemäldes von Nicolas de Staël an der weißen Wand, der Möbel aus Stahl und der sensationellen Empfangsdame, die nichts dabei fand, mit Großkunden auch mal Überstunden zu schieben. Leicht zu blenden, leicht zu ködern. Bornand hatte sich weder das eine noch das andere nehmen lassen, weiß man je?, und er hatte recht daran getan. Heute ist Bestégui ein führender Vertreter jener investigativen Presse französischer Machart, die Bornand verabscheut, in der es aber klug ist Freundschaften zu unterhalten, gerade jetzt, wo die Affären ihre Blütezeit haben. Bestégui: hätscheln.

Jetzt ist er wach und betrachtet die orange-rot-braune Decke, die über das Bett gebreitet ist. Langsam kommt Licht in die Sache. Kein Unfall, ein Attentat. Die sind von der schnellen Truppe. Gestern verschwindet das Flugzeug, noch am selben Tag wird die Presse informiert. In gewisser Weise ist das sogar besser so. Wir müssen künftig noch effizienter sein. Ziel: Herausfinden, wer genau hinter dem Anschlag steckt.

Der Tag droht übervoll zu werden. Hoch jetzt. Im weiß und granatrot gefliesten Badezimmer eine eiskalte Dusche, wie immer an großen Tagen, und äußerst gründliche Körperpflege: rasche, effiziente Handgriffe. Er verspürt keine besondere Sympathie für diesen langen, zu dünnen Körper mit den runden, vorstehenden Schultern, dessen Haut hier und da faltig wird. Auch nicht für sein knochiges, markantes Gesicht und seine wässrig blauen Augen. Aber als professioneller Verführer nimmt er es mit seinem Erscheinungsbild sehr genau. Rasieren, den Schnurrbart akkurat stutzen, Gesichtswasser, das Haar in Form bringen und gelen, Parfüm, dann anziehen. Es ist die Jahreszeit der Kaschmir- und Seidenanzüge, grau in allen Schattierungen, körpernah geschnitten. Dazu heute eine rot-graue Krawatte von Hermès.

 

Erste, unumgängliche Etappe: der morgendliche Spaziergang mit dem Präsidenten.

Graues Wetter, kalter Regen, große, schwere Tropfen, die sich zeitweise wie geschmolzener Schnee anfühlen, Seite an Seite gehen sie durch die Straßen, zwei Gestalten in Wollmantel, Schal und Filzhut, in Richtung Élysée-Palast. Mit seinem langen taillierten Mantel und dem perlgrauen Borsalino sieht Bornand aus wie ein Dandy der zwanziger Jahre. Er beugt sich beim Gehen leicht zum Präsidenten hinab, der eher von untersetzter Statur ist. Träge reden sie über dies und das. Zwei alte Freunde.

Sie hatten zunächst verschiedentlich als Anwalt und Mandant miteinander zu tun. Mehr nicht. Dann kam ’58 de Gaulle an die Macht, und in der politischen Klasse Frankreichs trat als einer der sehr wenigen nicht kommunistischen Widersacher des Generals Mitterrand auf den Plan. Lange Gespräche zwischen Bornand und ihm. Sie stellten fest, dass sie dieselben proatlantischen Überzeugungen vertraten, denselben tiefsitzenden Antigaullismus, denselben klug differenzierten Antikommunismus. Sie gingen noch ein wenig weiter und sprachen über mögliche gemeinsame Sympathien während des Kriegs, ohne jedoch allzu sehr ins Detail zu gehen. Bornand entwickelte eine tiefe Bewunderung für Mitterrands Cleverness, sein taktisches Gespür, und da er selbst um die Hebel der politischen Macht herumstrich, ohne es bislang dorthin geschafft zu haben – seit Ende des Kriegs war er gewissermaßen verstoßen und dazu verurteilt, sich gegenüber den Amerikanern konspirativ und subaltern zu verhalten und unsauberen Geschäften nachzugehen, die zwar einträglich waren, ihm aber kaum Anerkennung eintrugen –, sah er mit dieser sich anbahnenden Freundschaft endlich die Gelegenheit gekommen, sich in den achtbaren Kreisen des politischen Lebens in Frankreich zu etablieren. Er bot Mitterrand seine Dienste an, und das war der Beginn einer dauerhaften Zusammenarbeit, bei der Bornand seine Rolle im Tross des Präsidenten zunächst im Verborgenen spielte, so wie er es mag, bis er schließlich 1981 sein Berater im Élysée wurde und einer der Begleiter seiner Spaziergänge durch Paris.

»Das Neueste aus Gabun … Präsident Omar Bongo hat in jüngster Zeit zugenommen.« Ein Hauch von Besorgnis in der tiefen Stimme. Der Präsident ist schon belustigt, Bornand lässt sich Zeit. »Das habe ich von Akihito, seinem Schneider. Zehn Zentimeter Taillenumfang in zwei Monaten.« Pause. »Auf dem franko-afrikanischen Gipfel in La Baule wird er lange zweireihige Sakkos tragen.«

»Dann würde ich an seiner Stelle den Schneider wechseln.«

»Ich auch. Aber für Akihito spricht manch anderer Punkt. Er hat ihm die Anzüge von fünf hinreißenden Blondinen liefern lassen. Die im Übrigen gar nicht so leicht aufzutreiben waren.«

»Nicht möglich.«

»Es kursieren Gerüchte über Bongos Gesundheitszustand …«

Der Präsident und Bornand bleiben vor dem Schaufenster eines Nobelcouturiers stehen. Zwei junge Verkäuferinnen erspähen sie von innen und lächeln ihnen zu. Der Präsident grüßt und setzt seinen Spaziergang fort.

»Die kleine Brünette ist reizend.«

Bornand merkt sich das, wechselt dann unvermittelt das Thema. »Gestern ist in der Türkei ein Flugzeug abgestürzt.« Der Präsident wirft ihm einen Seitenblick zu. »In den Pariser Redaktionen geht das Gerücht, dass es sich um ein Flugzeug handelt, das französische Waffen mit Flugziel Iran an Bord hatte.«

»Kommen auch Sie mir jetzt mit Waffengeschäften, das ist zurzeit ja eine regelrechte Manie. Und dann noch mit dem Iran! Ein Land, das mit einem internationalen Embargo belegt ist … Falls jemand sich leichtsinnigerweise zu einem solchen Geschäft hat hinreißen lassen, soll er auch dafür bezahlen.« Einige Schritte in Schweigen. »Sie wissen genau, dass ich Waffenverkäufe an kriegführende Staaten prinzipiell ablehne.«

»Das ist eine Regel, die ein paar Ausnahmen zugunsten des Irak durchaus erlaubt. Das Journal de Téhéran hat uns vor zwei Tagen bezichtigt, dem Irak fünf Super Étendards, 24 Mirage F1 und die ultramodernen Raketen geliefert zu haben, die in diesem Moment die iranischen Ölhäfen zerstören. Da lagen sie nicht falsch.«

Der Präsident hat einen Schritt zugelegt. »Verderben Sie nicht diesen wunderbaren Regenspaziergang. Von Waffenverkäufen an den Irak will ich nichts hören.« Er dreht sich zu Bornand um. »Und das wissen Sie. Wenden Sie sich an die zuständigen Minister.«

Sie gehen eine Weile schweigend weiter.

»Ich komme Ihnen nicht mit Waffengeschäften, sondern mit der Stellung Frankreichs im Mittleren Osten.«

»Frankreich ist kein Feind des Iran.«

»Das wird nicht reichen.«

»Aber das jahrhundertealte Gleichgewicht zwischen Arabern und Persern im Mittleren Osten darf nicht gefährdet werden.«

Bornand sichtlich gereizt: »Betrachten wir die Sache doch einmal von einer anderen Warte. Reden wir nicht über Waffen, reden wir über Wahlen. Wir haben vier französische Geiseln im Libanon, die seit sieben beziehungsweise neun Monaten gefangen gehalten werden. Die zuständigen Minister, um Ihre Worte zu gebrauchen, setzen auf Syrien und haben es nach all der Zeit noch nicht geschafft, nicht etwa Verhandlungen mit den Entführern aufzunehmen, davon rede ich gar nicht, sondern einfach nur herauszufinden, wer sie sind und was sie wollen. Ich versichere Ihnen, der Schlüssel zu den Geiseln liegt, wie alle Welt weiß, in Teheran, und ich kann ihre Befreiung erreichen.«

»Die Befreiung der Geiseln ist ein dauerhaftes Anliegen der Regierung, sie arbeitet tagtäglich daran, was ich begrüße.« Ein Moment Schweigen. »Selbstverständlich ist alles, was Sie in dieser Richtung in Teheran bewirken können, willkommen, das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Aber nicht offiziell. Offiziell unterhalten wir nach wie vor keinerlei Beziehungen zum Iran. Sorgen Sie dafür, dass ich meine Kontakte dort nicht nur im Verborgenen pflegen kann. Sonst wird sich vor den Parlamentswahlen für die Geiseln nichts tun, und bis März ist es nicht mehr lang.«

Nachdem sie schweigend ein paar Schritte gegangen sind, beginnt der Präsident einen Monolog über Saint-John Perse. Bornand schaltet ab und massiert seinen linken Handballen. Stechender Schmerz. Wie kommt man an die Auftraggeber heran?

Der Präsident bleibt stehen, wächsernes Gesicht, und stützt sich für einen Moment auf Bornands Arm. »Alles in allem wäre es sicher besser, die Pariser Zeitungen schrieben über Ihre Kontakte zum Iran und nicht über dieses bedauerliche Flugzeugunglück.«

Das erhoffte grüne Licht.

Bornand schaut in den Büros des Antiterrorstabs im Élysée vorbei. Nur zwei junge Frauen sind im Dienst. Die abgehörten Telefongespräche vom Vortag sind transkribiert, jetzt werden sie noch gesichtet und kategorisiert, bevor sie wie jeden Tag an das Sekretariat des Präsidenten weitergeleitet werden. Bornand nimmt sich die Zeit und setzt sich, sagt nicht Nein zu einem Kaffee, zwei Stück Zucker, erkundigt sich nach dem Befinden der Kinder, beklagt das graue Wetter, sieht nach Schnee aus. Und blättert rasch die Akten durch. Dieses kleine Vergnügen gönnt Bornand sich regelmäßig: den Deckel des Bienenkorbs lüften und den Bienen beim Honigmachen zusehen. Heute jedoch weiß er, was er sucht, und hat keine Zeit zu vertrödeln: alle Anrufe des gestrigen Tages, die Bestégui betreffen. Deckname: der Baske. Rund ein Dutzend bei seiner Zeitung. Verschiedene Verabredungen. Sieh mal an, mit dem Direktor der Stadtverwaltung. Bringt da einer mit Blick auf die kommenden Wahlen schon mal seine Schäfchen ins Trockene? Seine Tochter hat eine Mittelohrentzündung. Restoux wird seinen Artikel nicht pünktlich liefern, er muss auf nächste Woche verschoben werden. Wutanfall, Bestégui bereitet einen Ersatzartikel unter einem neuen Pseudonym vor (Rancourt, notieren, man kann nie wissen). Und schließlich: Ein gewisser Chardon verkündet, er sei im Besitz eines höchst brisanten Dossiers über ein randvoll mit Raketen beladenes Flugzeug mit Ziel Iran, das früher am Tag über der Türkei verschwunden sei. Der Baske rät umsichtig zu mehr Diskretion am Telefon und verabredet sich mit ihm noch für denselben Abend um 19 Uhr.

Na also.

Bornand überquert die Straße und steigt die Treppen des Élysée-Palasts hoch. Sein Büro ist ein kleiner, gemütlicher Raum im oberen Stock, von dessen zwei Fenstern man über die Dächer blickt. Viel Ruhe und viel Licht. An zwei Wänden Mahagonischränke, verschlossen, gute Sessel, ein paar englische Kupferstiche aus dem 19. Jahrhundert, die Szenen einer Hetzjagd zeigen, grüner Teppichboden und grüne Tapeten. Und in der Mitte des Raums ein englischer Diplomatenschreibtisch mit wildlederbezogener Arbeitsfläche. Darauf ein Block, ein Kristallglas mit Kugelschreibern und Filzstiften und eine farbige Pâte-de-verre-Lampe im Art-déco-Stil.

Fernandez erwartet ihn. Ein Polizist, dem Bornand zum ersten Mal vor etwa zehn Jahren auf der Rennbahn begegnet ist, wo er für den Zentralen Nachrichtendienst im Einsatz war, Abteilung Rennen und Glücksspiele. Sehr jung, ziemlich groß, breite Schultern, kein Bauch, kurzes schwarzes Haar, dunkler Typ, ein wenig auffallend gekleidet, protzige goldene Armbanduhr am Handgelenk, Siegelring am linken Ringfinger, enge Hosen, bunte Hemden. Ein Sonnyboy gewissermaßen, der auf schöne leichte Mädels steht: Die gemeinsamen Frauen haben sie einander schnell nähergebracht. Intelligent: hat schnell kapiert, wie man im Rennmilieu Beziehungen knüpft und wer die wirklich Mächtigen sind. Zupackend: für Mauscheleien und Kontakte aller Art zu haben, wenn sie nur Geld bringen und was hermachen. Und politisch links, mit anderen Worten, er fand Bornand sympathisch und hat ihm vertraut, als der von der Macht noch weit entfernt war. Deshalb berief Bornand ihn, als er in den Élysée-Palast einzog, von den RG in seinen persönlichen Sicherheitsdienst, was Fernandez neue Karrierechancen eröffnete und ihn in seinen politischen Überzeugungen bestärkte. Etwas zu sehr Straßenbengel, um in den engsten Familienkreis aufgenommen zu werden, aber doch ein entfernter kleiner Cousin, für den Bornand durchaus eine gewisse Zuneigung verspürt.

»Ich habe Arbeit für Sie, mein Kleiner.«

Bornand schlägt den Block auf, nimmt einen grünen Filzstift und gibt sich dem Zeichnen komplizierter Arabesken hin, seine langen, mageren Hände sind ständig in Bewegung. Für eine Weile herrscht Schweigen, dann fährt er fort: »Ein Journalist will Bestégui vertrauliche Informationen verkaufen über unsere Kontakte mit dem Iran und unsere geheimen Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln, einschließlich der Waffenlieferungen. Hatten wir darüber schon gesprochen?« Fernandez nickt. »Kennen Sie einen gewissen Chardon?«

»Nie gehört.«

Bornand notiert sich etwas, langsam, mit den Gedanken offenbar woanders, dann blickt er auf. »Aber Bestégui scheint ihn zu kennen. Wenn die Presse einen Skandal aus der Sache macht, werden die Iraner sämtliche Kontakte aussetzen. Wir müssen wissen, wer die Hintermänner von diesem Chardon sind, und sie kaltstellen. Und dabei zähle ich auf Sie. Wenn der Typ in solche Geschäfte verwickelt ist, haben die RG sicher eine Akte über ihn. Die fordern Sie für mich an. Dann, je nachdem, was die Ihnen geben, machen Sie diesen Chardon ausfindig und bringen möglichst alles an sich, was uns Klarheit darüber verschaffen könnte, was in diesem Dossier steht und von wem er es hat. Sie können mich entweder hier erreichen oder um die Mittagszeit im Carré des Feuillants.« Er massiert sich den linken Handballen, der ihm einen stechenden Schmerz bereitet. »Seien Sie brillant, Fernandez. Sie sind zum Erfolg verpflichtet.«

Kaum ist Fernandez weg, macht Bornand sich an die Arbeit.

Umgehend Anbieter finden, die Raketen liefern können, am besten im Ausland. Bei Meister in Hamburg anfragen. Wenn es erst nach Ankunft der neuen Lieferungen in Teheran zum Skandal kommt, dürfte uns das nicht übermäßig wehtun.

Dann: Undichte Stellen stopfen, so gut es geht. Und diesbezüglich nichts von den regulären Diensten erwarten, sondern vor allem auf die Familie bauen. Eine einfache Regel für die gesunde Lebensführung. Zuerst Pontault, im Kabinett des Verteidigungsministers. Gendarm. Ist mit einigen aus dem Antiterrorstab befreundet. Und sein Vater, ebenfalls Gendarm, beschloss seine Karriere als Sicherheitschef im Unternehmen von Bornands Schwiegervater, Pontault ist loyal. Er wird jeden, der es wissen muss, daran erinnern, dass die an den Iran gelieferten Raketen in aller Form der französischen Armee abgekauft worden sind. Es liegt auf der Hand, dass die Militärs kein Interesse daran haben, diese Transaktionen und die Modalitäten ihrer Finanzierung öffentlich diskutiert zu sehen. Genauso wenig wie die Politiker des Ministeriums, die nebenbei noch ihre Provisionen einstreichen. Das heißt: militärische Geheimhaltung auf allen Ebenen. Dafür bürgt Pontault. Von dieser Seite ist nichts zu befürchten. Bornand notiert Datum, Uhrzeit und Inhalt des Telefonats.

 

Intermezzo: Treffen mit einem israelischen Agenten, den er in Washington kennengelernt hat und der nach einer Reise an die Elfenbeinküste auf Durchreise in Paris ist. Der franko-afrikanische Gipfel naht. Informationsaustausch. Die Elfenbeinküste erkennt den Staat Israel an und spielt eine immer größere Rolle beim Waffenschmuggel nach Südafrika. Hängt das eine mit dem anderen zusammen? Jedenfalls sind in der Region derzeit größere Waffenmengen in Umlauf. Gut zu wissen, falls aus Hamburg nichts kommt.

Bornand schreibt eine Zusammenfassung des Gesprächs für den Präsidenten, lässt alles weg, was mit den Waffenverkäufen zu tun hat, denn davon will er ja nichts hören …

Zeit für die Verabredung mit Bestégui. Unterwegs ein Abstecher zum Geschäft des Nobelcouturiers, vor dem der Präsident am Morgen stehen geblieben war. Er kauft einen Vikunjaschal und bittet die hübsche brünette Verkäuferin, ihn am Nachmittag ins Élysée zu bringen. Das wird dem Präsidenten gefallen.

***

Erst mal die Akte der RG.

Chardon, Jean-Claude. Geboren 1953 in Vincennes, Val-de-Marne, wo sein Vater eine Eisenwarenhandlung hatte. 1973 Abitur mit Schwerpunkt Literatur. Dann tritt er in die Marineinfanterie ein, dient fünf Jahre in Gabun und an der Elfenbeinküste. 1978 kehrt er im Rang eines Oberleutnants zurück. 1980 wird er verurteilt wegen ausbeuterischer Zuhälterei. Er wechselt daraufhin zum Journalismus und schreibt unter verschiedenen Pseudonymen (die häufigsten: Franck Alastair, Teddy Boual, Jean Georges) als freier Mitarbeiter für France-Dimanche und Ici Paris jede Menge Artikel, in denen es vorwiegend um das Privatleben von Berühmtheiten aus Showbusiness und Jetset geht. Zahlreiche Beziehungen zu bekannten Callgirls und Models, die ihm als Informantinnen dienen. Seit der Zuhälterepisode von 1980 liegt nichts mehr gegen ihn vor. Er bewohnt zurzeit ein kleines Haus in der Rue Philippe-Hecht 38, 19. Arrondissement von Paris, dessen Eigentümer er ist.

Eine recht magere Akte. Sehr wahrscheinlich hat er sich durch die eine oder andere Erpressung ein paar Nebeneinkünfte verschafft. Aber wieso taucht er in einer Affäre auf, in der es um Waffenverkäufe geht? Na ja, immerhin habe ich einen Ausgangspunkt.

Fernandez hängt sich an Chardon, als der um 11 Uhr 47 aus seiner Haustür tritt. Braune Cordsamthose, derbe Bauarbeiterschuhe, khakifarbener Parka, nichtssagendes Gesicht, glanzloses und struppiges dunkelblondes Haar. Fernandez fühlt sich schön. Nach ein paar Dutzend Metern biegt Chardon in die Avenue Mathurin-Moreau ein, geht hinunter bis zur Place du Colonel-Fabien und betritt die Brasserie des Sports, Fernandez immer hinterher. Am Tresen ist viel los. Gleich nebenan ein großer Raum, etwa vierzig Tische, die durch dichtes Pflanzengrün voneinander getrennt sind. Viele Leute, reger Betrieb, vor allem Stammgäste, um diese Zeit aber noch reichlich freie Tische. Einer der Kellner erkennt Chardon und signalisiert ihm, dass er im hinteren Teil des Speisesaals erwartet wird. Fernandez folgt ihm mit einigem Abstand, bleibt dann abrupt stehen und taucht hinter einer Bambusreihe ab. Das Mädchen, das dort wartet, kennt er. Katryn, ein Callgirl, das Bornand regelmäßig einsetzt. Vorsicht. Unter Zuhilfenahme der Grünpflanzen schafft es Fernandez unbemerkt zu einem Tisch nicht weit von ihnen. Sie bestellen zweimal Bœuf Carottes, dazu eine halbe Flasche Rotwein. Fernandez ebenso. Es entspinnt sich ein lockeres Gespräch über den Zeitgeist. Kaffee, Rechnung. Jeder zahlt für sich. Dann gehen sie zur Kasse, reden kurz mit der Wirtin und steigen die Treppe ins Untergeschoss hinab, die gleich neben dem Tresen liegt. Nach ein paar Minuten will Fernandez ihnen nachgehen. Doch die Wirtin bremst ihn: Toiletten und Telefon seien hinten links im Speisesaal. Unten stehe bloß ein Billardtisch, und der sei gerade nicht frei. Fernandez flucht. Just in diesem Moment dürften die wichtigen Dinge zur Sprache kommen. Anruf bei Bornand.

»Katryn. Gute Güte.« Gestern Abend, mit dem Iraner. Vertrautheit … Kannten sie sich da schon? Sie kitzelt den Helden aus ihm heraus, entlockt ihm Informationen, zuzutrauen wär’s ihr. Gibt sie weiter an Chardon … Möglich. Aber für wen arbeiten die beiden? »Das ist eine Spur, Fernandez, bleiben Sie dran.«

Fernandez stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tresen und bestellt einen Kaffee mit Cognac.

Im Untergeschoss ein schmaler Raum, fensterlos, in der Mitte ein Poolbillardtisch. Eine Hängelampe aus Kupfer taucht das grüne Tuch in grelles Licht und lässt alles andere im Dunkel. Chardon hat die Kugeln zum Dreieck gelegt, nimmt den Rahmen weg, Kopf und Oberkörper schieben sich ins Licht, er macht den Anstoß. Zu schnell, zu fest. Das Dreieck sprengt auseinander, Kugeln knallen, wie eine Salve, keine geht rein. Er richtet sich wieder auf, tritt in den Schatten zurück und fragt: »Hast du was Neues für mich?«

Katryn scheint ihn nicht zu hören. Sie geht um den Billardtisch herum, enge schwarze Jeans, schwarzer Rollkragenpullover, scharfer Blick auf das Tuch. Dann beugt sie sich vor, Lichtreflexe auf ihrem schwarzen Haar, das Queue gleitet geschmeidig nach vorn, ein präziser Stoß, und die Kugel mit der Vier verschwindet in einer der Ecktaschen. Sie macht einen weiteren Stoß, zu hastig, verpatzt. Mit einem Seufzer richtet sie sich auf.

»Eine Neue ist eingetroffen, vor drei Wochen.«

»Das hast du mir schon erzählt.«

»Spielst du?«

Ein Stoß quasi aufs Geratewohl. Nichts.

Katryn umtanzt das Tuch regelrecht. Geht langsam, taucht halb ins Licht, richtet sich wieder auf, geht weiter. Entschließt sich. Und macht drei Stöße hintereinanderweg, während sie fortfährt: »Vor drei Tagen sind Lentin und seine Kumpels gekommen, um sie zuzureiten.«

»Lentin, der Filmproduzent?«

»Exakt. Er gehört zu Mados Stammgästen, was Aktionen dieser Art angeht.« Sie beugt sich schweigend vor. Dann fährt sie fort: »Mado glaubt, dass man Erfahrung braucht, wenn man eine gute Professionelle sein will. Womit sie nicht unrecht hat. Aus Rentabilitätsgründen neigt sie dazu, die Lehrzeit zu knapp anzusetzen.«

Chardon ist dran, keine geht rein. Genervt tippt Katryn mit ihrem Queue an die Hängelampe, die zwischen Hell und Dunkel zu pendeln beginnt.

»Du bist nicht konzentriert genug, so kommt doch kein Spiel zustande.«

»Was ist jetzt mit Lentin?«

»Die Dressurstunde ist diesmal aus dem Ruder gelaufen. Lentin kam mit zwei Freunden, die Anfänger in diesem Sport waren. Was da gelaufen ist, weiß ich nicht, vielleicht hatte das Mädchen romantische Vorstellungen vom Gewerbe, oder man hat sie geködert und sie wusste nicht, worauf sie sich einlässt, jedenfalls waren hinterher ihre Nase und ein paar Rippen gebrochen und ihr Rücken übel zugerichtet. Mado hatte größte Mühe, sie zu beschwichtigen und nach Périgueux zurückzuschaffen, wo sie herkam.« Sie schiebt ein doppelt gefaltetes Blatt über das Tuch. »Name und Adresse. Du könntest sie dazu bringen, über ihre Erinnerungen zu plaudern. Riskant, ich weiß. Aber sie ist noch keine fünfzehn. Lentin wird den Mund halten und zahlen. So, wie wär’s, wenn du jetzt mal richtig spielen würdest?«