Letzte Schicht

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Nourredine ist gerührt und öffnet ihr das Tor. »Komm rein, Rolande. Wenigstens solange wir da sind, bist du hier zu Hause.«

Und dann treten die wichtigen Persönlichkeiten in Erscheinung, dunkle Limousinen, dunkle Anzüge, Unbehagen, großes Unbehagen, der Bürgermeister mit seiner blauweißroten Schärpe, der Abgeordnete, unauffälliger, und der Arbeitsdirektor des Departements, der so tut, als sei er gar nicht da. Sie drücken ein paar Hände, lächeln gezwungen, klopfen Amrouche auf die Schulter und reden dann vor dem Tor mit Nourredine und seinen Schichtkollegen.

»Das Tal braucht diese Arbeitsplätze … Passen Sie auf, was Sie tun … Monsieur Park, Ihren Direktor, kennen wir gut, das ist doch ein vernünftiger Mann … Versuchen Sie es auf dem Verhandlungsweg …«

Was wissen die drei denn von dem Leben hier drin? Was weiß dieser Arbeitsdirektor mit seinen getürkten Sicherheitskontrollen, seinen ewig positiven Berichten, nicht eine Beanstandung in zwei Jahren in der gefährlichsten Fabrik der ganzen Region, was weiß der schon von dem Mann mit dem abgetrennten Kopf, von Émilienne, von Rolande, von Aïsha? Nourredine ist verlegen in seiner zu engen Jacke, seiner schmutzigen Jeans. Plötzlich überkommt ihn Wut, in seiner Phantasie packt er den Arbeitsdirektor am Revers, schüttelt ihn, schlägt seinen Kopf gegen die Gitterstäbe des Tors, zertrümmert ihm Stirn und Nase, Blut fließt auf den schönen marineblauen Anzug, er lässt ihn los, der Arbeitsdirektor sackt zu Boden.

»… Wenn Daewoo wegen dieses Streiks schließen würde, was, wohlgemerkt, möglich ist, wäre das eine Katastrophe für das ganze Tal.«

»Wir haben große Anstrengungen unternommen, um diese Fabrik hierher zu bekommen«, fügt der Bürgermeister hinzu. »Ich weiß, was die Stadt das gekostet hat.«

Nourredine fällt nichts ein, was er entgegnen könnte.

Da tritt der vierte Mann, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hat, lächelnd auf Nourredine zu und streckt ihm die Hand hin. Er ist groß und kräftig, hat eine einfache, direkte Art. Und sein Händedruck sagt deutlich, dass er keine Angst hat, sich schmutzig zu machen, wenn er einem Arbeiter die Hand gibt. Auftreten, Ausdruck und Ton sind kaum wahrnehmbare Erkennungszeichen: dieselbe Welt, die Welt der Fabrik, nicht auf demselben Posten, aber trotzdem, das schafft Nähe.

»Maurice Quignard. Ich vertrete den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung.« Die europäischen Subventionen, die Registrierkasse, übersetzt Nourredine. »Bevor ich hergekommen bin, habe ich mit Ihrem Direktor telefoniert. Wissen Sie, das ist kein schlechter Kerl. Ich glaube, in dieser ganzen Angelegenheit gibt es ein riesiges Missverständnis. Seinen Worten zufolge müsste der sofortige Verkauf der Lagerbestände eigentlich die Zahlung bestimmter Prämien erlauben …« Nourredine gerät ins Wanken, atmet schwer. Denkbar wär’s schon, wir haben ja gleich losgelegt wie die Bekloppten … »Wir müssten doch eine Verhandlungsbasis finden.«

»Verhandeln, nichts anderes fordern wir seit heute Morgen.«

»Es gibt keine Verhandlungen, solange das Management festgehalten wird.«

Nourredine ist ehrlich überrascht. »Niemand wird festgehalten. Wir hindern die Leute am Reinkommen, nicht am Rausgehen.«

»Und verhandelt wird nicht hier, unter Druck, sondern im Rathaus.«

»Ich entscheide nicht allein.« Er blickt sich um. »Das müssen wir erst bereden. Ich sehe da aber kein Problem.«

Wie selbstverständlich geht Quignard durch das Törchen, Nourredine ist überrumpelt, zögert, zu spät. Quignard ist schon im Pförtnerhaus, einer der beiden Wachleute schiebt ihm einen Stuhl hin und reicht ihm ein Telefon. Er setzt sich, ruft die Direktion an, er ist hier zu Hause. Als er wieder herauskommt, erklärt er: »In einer Viertelstunde werden die ersten Führungskräfte die Fabrik verlassen, in ihren Autos natürlich. Die Geschäftsleitung empfängt Sie in zwei Stunden im Rathaus. Selbstverständlich nur, wenn Sie einverstanden sind.«

Dann geht Quignard zurück in Richtung Kreisel, wo ihn sein Wagen, ein großer schwarzer Mercedes, und sein Fahrer erwarten, wechselt ein paar Worte mit den drei hochrangigen Repräsentanten der Republik, das wird schon wieder, warum auch nicht, niemand will Krieg. Ein Stück weiter begegnet er einem düster dreinblickenden Maréchal, der gekommen ist, um zu sehen, was es Neues gibt.

»Antoine, gehst du in die Fabrik zurück?«

»Nein, meine Schicht geht nur bis vierzehn Uhr, und bis auf Weiteres gehöre ich nicht zu den Streikenden.«

»Dann begleitest du mich in mein Büro. Die Verhandlungen dürften sehr bald beginnen, und Park wird mich telefonisch auf dem Laufenden halten. Ich würde gern deine Meinung dazu hören.«

»Hast du was zu trinken da?«

Lächeln. »Wie üblich. Deinen Lieblingscognac.«

»Zu Hause wartet eh keiner auf mich.«

Auf dem Brachland hinter der Fabrik betreibt Karim sein kleines Geschäft. Er mag diesen Ort. Vor ihm erstreckt sich das Tal mit seinen grünen Flussufern bis nach Pondange. Als er Kind war, war dies eine Straße aus Hochöfen, Tag und Nacht Feuer, Lärm, Rauch und Staub. Sein Vater ging von Hochofen zu Hochofen immer mehr kaputt, und Karims eigenes Schicksal als ältester Sohn war klar vorgezeichnet. Mit sechzehn ab ins Stahlwerk, als Hilfsarbeiter, an der Seite seines Vaters. Heute stirbt sein Vater mit einer guten Rente langsam vor sich hin, ihm selbst geht es prima dank vieler kleiner Tricksereien, die Luft ist sauber und das Tal ist grün. Ist das Leben nicht schön, von Daewoos Brache aus betrachtet? Er hat aus Palettenresten Kleinholz gemacht, einen behelfsmäßigen Grill aufgestellt und brät mit Billigung des Cafeterialeiters auf Draht gespießte Würstchen, die er günstig verkauft.

Zwei Unbekannte, sehr breitschultrig, ultrakurzes Haar, um die dreißig, aggressive Ausstrahlung, kommen langsam heran, die Hände hinter dem Rücken. Seh’n aus wie Bullen, aber nicht wie gute, denkt Karim, zögert, schneller Blick nach allen Seiten, kein Fluchtweg. Bemerkt die marineblauen Security-Jacken, die Uniform der Daewoo-Wachleute. Beruhigt lächelt Karim ihnen zu und streckt ihnen zwei Wurstspieße entgegen. Für Sie, ist gratis. Die beiden Männer nicken, nehmen die Spieße und entfernen sich ohne ein Wort. Karim bedient seine Kundschaft weiter, und Stammkunden schiebt er gegen Aufpreis noch etwas Hasch in die Papierserviette, die es zu den Würstchen gibt. In einer Ecke des Warenlagers ist ein Raucherzimmer eingerichtet worden, inmitten der Styroporverpackungen, gut geschützt vor den patrouillierenden Wachleuten.

Rolande ist unterdessen in der Cafeteria angekommen und hat die Kochecke mit Beschlag belegt. Sie macht sich an die Arbeit, jeder Handgriff sitzt, Gerätschaften, Teller, beglückt schält sie, spült, schneidet, rührt. Sorgende Mutter. Halb Spiel, halb verdrängter Wunsch. Ihre Art, sich an der gemeinschaftlichen Aktion zu beteiligen.

Schon bald verlässt das erste Auto den Parkplatz für das Führungspersonal am rechten Gebäudeflügel und fährt Richtung Werkstor, durch ein Spalier aus Arbeiterinnen und Arbeitern, die aus allen Winkeln der Fabrik herbeigeströmt sind, um die spottenden Schaulustigen zu spielen. Über die Motorhaube gebeugt, mustern sie den Insassen aus nächster Nähe, verpassen der Karosserie Schläge und ein paar Tritte und haben echten Spaß daran, nun ihrerseits Angst zu machen, heitere Saturnalien, bis jetzt. Étienne ist wieder voll da und amüsiert sich prächtig. Aïsha steht erst ganz vorn, erstaunt über ihren Wagemut, hat das Spiel aber bald satt, zu viele Männer, zu nah, lässt sich aus der Menschentraube hinausschieben und geht ins Pförtnerhaus, wo die beiden Wachleute sich gleichmütig einen Kaffee machen und ihr eine Tasse anbieten.

Das erste Auto fährt ungehindert davon, das zweite auch. Am Steuer leitende Angestellte, Franzosen, die so gut wie keiner kennt. Arbeiten wahrscheinlich in der Finanzabteilung. Dann kommt ein Peugeot 605 mit einem Koreaner am Steuer. Viele in der Fabrik mögen die Koreaner nicht. Ist halt so, muss man nicht verstehen. Und der hier hat noch dazu den miesen Ruf, die Putzfrauen aus der Fabrik unbezahlt in seinem Apartment arbeiten zu lassen. Irgendwer schreit: »Das Auto durchsuchen!« Und schon kann das Spiel weitergehen. Der Vorschlag wird sofort angenommen und in die Tat umgesetzt. Während eine Gruppe Arbeiter der Limousine den Weg versperrt, geht Nourredine zur Wagentür und wirft einen Blick auf die Rückbank. Leer.

»Öffnen Sie bitte den Kofferraum, Monsieur.«

Der Koreaner, ein verschrecktes Gesicht hinter einer dünnen Stahlbrille, fährt schnell die Scheiben hoch, verriegelt die Türen und signalisiert, er verstünde nicht. Seine Haut färbt sich grün, er zwinkert heftig, öffnet und schließt den Mund im Takt seiner tonlosen, abgehackten Atemzüge. Ein Fisch im Aquarium, lächerlich.

Was ist dann geschehen? War es Panik? Der feste Wille, sich den Weg notfalls mit Gewalt zu bahnen? Das Auto macht einen Satz nach vorn und bringt drei Arbeiter zu Fall, die Menge schreit auf, etwa zwanzig Männer greifen nach der Karosserie und rütteln an dem Wagen, der auf und ab federt, beinahe abhebt. Einer der umgefahrenen Arbeiter steht wieder auf und übernimmt vor der Motorhaube das Kommando. Linke Seite hoch, rechte Seite hoch, immer im Wechsel, und eins, und zwei, das Auto schwankt, und drei, ein letzter Stoß kippt es auf die linke Seite, wo es mit dem Geräusch von knirschendem Blech aufschlägt. Der Koreaner ist platt an die linke Wagentür gepresst, verbirgt sein Gesicht hinter den Händen und rührt sich nicht mehr.

»Was hat der denn dabei, dass er so viel Angst hat? Drogen? Waffen?«

Der Kofferraum ist verschlossen und lässt sich nicht öffnen. Den Schlüssel aus dem Wageninneren holen? Nourredine ist dagegen, zu kompliziert, außerdem besteht die Gefahr, dass es zu einer Schlägerei kommt.

 

Karim tritt mit einem selbstgefälligen Lächeln neben ihn und knufft ihn in die Rippen. »Was zahlst du mir, wenn ich ihn für dich öffne?« Wütendes Schnauben. »Ist ja gut, war ’n Scherz. Aber das Recht dazu haben wir, oder? Das ist heute unsere Party.«

Aus der Innentasche seiner Lederjacke holt er einen sehr feinen Schraubenzieher, steckt ihn ins Schloss, dreht ihn behutsam zwischen den Fingern, horcht, ob sich etwas tut, findet die Raste, Drehen, Drücken, der Kofferraum öffnet sich quietschend, und darin, einfach hineingeworfen, ein Computer und drei Kisten voller Akten. Die schaffen Unterlagen weg. Die Menge verstummt. Jetzt ist das Spiel vorbei.

Nourredine fühlt sich wie im Rausch, er, der noch nie einen Tropfen Alkohol getrunken hat. Die Gestalten um ihn herum schwanken. Ein Schritt, und du kippst um. Seit heute Morgen nichts gegessen. Ständig unter Strom, und dann wieder diese Abstürze. Ihm ist zum Kotzen. Quignard, sein offener, direkter Händedruck, Ihr Direktor, kein schlechter Kerl, riesiges Missverständnis … Meine Fresse, klar. Und du blöder Hund musst auf diesen Kitsch natürlich jedes Mal reinfallen. Er schüttelt sich kräftig, das Unwohlsein vergeht, die Wut bleibt. Jemand macht für ihn die Räuberleiter, er klettert auf die Flanke des Wagens. All die Gesichter, die sich ihm zuwenden, ihm, Nourredine, dem angelernten Araber, und unter seinen Füßen, in seiner Kiste verkrochen, der koreanische Manager. Stolz wallt in ihm auf. Der Wagen schwankt. Breites Grinsen.

»Der da unten soll sich lieber ruhig verhalten. Okay, die Sache ist ganz einfach. Die Koreaner schaffen heimlich Unterlagen hier raus, um die Fabrik hinter unserem Rücken leichter schließen zu können. Lassen wir das zu?«

Hundertfünfzig Leute schreien: »Nein!«

»Ich schlage vor, wir besetzen die Büros und setzen die Führungskräfte fest …«, die Arbeiter halten den Atem an, »… bis unsere Forderung erfüllt ist: Zahlung der Prämien. Es gibt nämlich eine Lösung. Die Lager sind voll. Sie verkaufen die Lagerbestände unter unserer Aufsicht, und von dem Geld zahlen sie zuerst unsere Prämien.«

Lebhafte Diskussionen in der kleinen Schar. Die Lagerbestände verkaufen, gute Idee, mal was Konkretes, da ist noch mehr drin als bloß unsere Prämien. Vielleicht, aber gleich festsetzen … Wir müssen uns absichern … Sie lassen uns keine Wahl. Eine Provokation nach der anderen. Man könnte meinen, sie legen es darauf an … Das ist ja das Beunruhigende.

»Hört zu, Leute, wir müssen jetzt schnell sein, und effektiv. Wir gehen alle zusammen hin, wir sperren sie ein, über Nacht wird reichen, morgen früh sind sie fertig mit den Nerven. Ihr seht ja den Koreaner in seiner Karre hier.« Leichter Tritt mit dem Absatz gegen das Wagendach, ein blecherner Klang ertönt. Jeder sieht noch einmal das angsterfüllte Gesicht, das schaukelnde Auto, gemeinsam sind wir stark. »Sie haben Angst vor uns. Das nutzen wir. Wenn wir uns heute nicht Respekt verschaffen, machen sie die Fabrik morgen dicht, und uns bleibt gar nichts. Wir setzen sie fest, jetzt gleich. Wer ist dafür?«

Sehr kurzes Zögern. Étienne und die erste Schicht aus der Verpackung heben die Hand. Alle heben die Hand. Aïsha kann es kaum glauben, aber auch sie stimmt für Festsetzen. Während vier Männer den Computer und die Aktenkisten aus dem Kofferraum holen (nichts, was der Firma gehört, darf die Firma ohne unsere Zustimmung verlassen), findet sich die Abordnung erneut zusammen und tritt an die Spitze des sich formierenden Zuges. Relativ geordnet setzt sich der kleine Trupp in Bewegung. Das auf der Seite liegende Auto wird mit offenem Kofferraum einfach vor dem Tor liegen gelassen, der Koreaner hat sich immer noch nicht gerührt.

Kreidebleich umklammert Park sein Telefon. »Sie kommen, sie besetzen die Büros … Das gibt eine Katastrophe.«

»Was haben Sie denn jetzt wieder für einen Mist gebaut? Und was für eine Katastrophe, erklären Sie mir das.«

»Als ich hier anfing, habe ich ein System mit fingierten Rechnungen erstellt, um den koreanischen Führungskräften eine Auslandszulage zahlen zu können …«

Ein Brüllen am anderen Ende. Quignard springt auf, wirft seinen Stuhl um, lässt seine Faust auf die Schreibtischplatte krachen, die Cognacgläser hüpfen, eine Vase mit Chrysanthemen kippt um, setzt die wartenden Akten unter Wasser. Maréchal nimmt die Gläser, bringt sie in Sicherheit, stellt die Vase wieder hin.

»Löschen Sie alles, verdammte Scheiße, worauf warten Sie denn noch?«

Ihm sagen, dass man versucht hat, den Computer rauszuschaffen, und dass er jetzt in den Händen der Streikenden ist? Lieber krepieren. »Der Buchhalter, der sich darum kümmert, ist heute nicht da, und sonst weiß keiner, wo das abgelegt ist, wir können ja nicht die gesamte Buchhaltung löschen …«

Park fiept wie ein verängstigtes Kaninchen, die Verbindung ist unterbrochen.

Der Weg zum Gebäude der Geschäftsleitung, einem Spiegelglaskubus mit einer zweistufigen Freitreppe vor dem Haupteingang, eine Art bessere Lagerhalle, nicht sehr eindrucksvoll, ist kurz, ein paar Dutzend Meter vielleicht, aber doch lang genug, damit jeder noch einmal darüber nachdenken kann, was er da eigentlich tut.

Freiheitsberaubung. Wir werden hineingehen, wo wir nicht hineingehören, ihr Terrain besetzen, unsere Chefs höchstpersönlich einsperren, ihnen auf die Pelle rücken, sie mit uns einschließen, von Gleich zu Gleich mit ihnen reden. Wenigstens eine Zeitlang. Wir rühren an die soziale Ordnung. Wenigstens eine Zeitlang. Es zählt also jeder Schritt, wir werden uns später an jeden Schritt erinnern. Und wir halten zusammen, dicht zusammengedrängt, schweigend.

Die Frauen folgen am Ende des Zuges, hängen ein wenig zurück, zu viele Männer in zu dichten Reihen, sie sind besorgt, zögerlich. Einige machen sich unauffällig davon, durch die Fabrik und über das Brachland.

Amrouche lässt sich widerstrebend mitziehen. Jetzt stecken wir mittendrin, die Explosion, die Wut, seit Jahren verfolgt mich das, die anderen sind so viel stärker, sie haben immer gewonnen, sie werden immer gewinnen. Schafe zur Schlachtbank. Er schließt zu Hafed auf. »Wir müssen das Ganze stoppen, das gibt eine Katastrophe.«

»Ich begreife nicht, warum diese Managerärsche nicht alle längst nach Hause gefahren sind. Worauf spekulieren sie? Wir können jedenfalls nichts ändern.«

Getragen von seinen Leuten geht Nourredine bis zur automatischen Schiebetür: geschlossen. Probiert sie aufzubekommen: vergeblich.

Er hat nicht mal mehr Zeit, sich umzudrehen: Der Ansturm der nachdrängenden Arbeiter, der sich mit jeder Reihe verstärkt, bringt die Männer an der Spitze aus dem Gleichgewicht und lässt sie gegen die Glastür krachen, die nachgibt und birst.

Die Zeit steht still, Amrouche ist gestolpert und bäuchlings in den Glasscherben auf dem blauen Teppichboden gelandet. Nourredine, blutüberströmt, mit gebrochener Nase und Schnittwunden im Gesicht, sieht sich dem koreanischen Direktor gegenüber, der starr und bleich mitten in der Empfangshalle steht.

Jemand schreit: »Holt sie aus ihren Löchern und bringt sie her.« Die Männer stürmen wieder los, trampeln über Amrouche hinweg, schwärmen aus zu den Büros, reißen die Türen auf, zerren die Leute von ihren Stühlen, schleifen sie halb bis in die Empfangshalle, die sich zunehmend mit zerrupften Anzugträgern füllt.

Amrouche hat sich hochgerappelt, kurzatmig zieht er den Direktor hinter sich her in den Sitzungsraum, er kennt diesen Raum gut, so viele nutzlose Palaver, diese Schwachköpfe, die nie zugehört haben, und jetzt … Hafed, leicht angeschlagen, kommt dazu. Sie lassen die leitenden Angestellten einen nach dem anderen hineingehen, nein, nicht alle Arbeiter, so viel Platz ist nicht, nur die Abordnung, wir lassen die Tür auf. Sofortige Zahlung der Prämien, alle wissen, warum wir hier sind, und wir lassen niemanden gehen, bevor unsere Forderung nicht erfüllt ist, aber von jetzt an bewahren wir Ruhe. Wir sind ja keine Kriminellen.

Nourredine hat sich in der Empfangshalle auf einen Stuhl gesetzt, den Kopf vornübergebeugt, er versucht mit einer Rolle Klopapier sein Nasenbluten zu stoppen, er hat die Augen geschlossen, seine Hände sind blutig, das Hirn träge und die Gedanken verworren.

Hafed hockt sich neben ihn. »Amrouche und ich kümmern uns im Sitzungsraum um die Chefetage. Du musst in den Büros ein bisschen für Ordnung sorgen. Hörst du?« Nourredine knurrt nur. »Das ist wichtig. Organisier die Besetzung. Streikposten an die Türen, Kontrollrunden durch Fabrik und Büros. Okay?« Nourredine nickt stumm. »Denk dir was aus, damit die Jungs was zu tun kriegen.« Er wiederholt: »Das ist wichtig«, und geht zurück in den Sitzungsraum.

Quignard stellt seinen Stuhl wieder hin, setzt sich mit geschlossenen Augen, zwingt sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, indem er durch den Mund ausatmet, seine großen Hände liegen flach auf dem Schreibtisch.

Während Quignard sich langsam beruhigt, hat Maréchal wieder sein Glas genommen und trinkt in kleinen Schlucken, um nicht loszulachen. »Und, was hat sich dein zündelnder Feuerwehrmann nun wieder ausgedacht?«

»Es ist ein Alptraum, Antoine. Vor nicht mal einer Stunde bin ich dort weggegangen, sie haben Verhandlungen vereinbart, und nun besetzen die Arbeiter die Büros der Geschäftsleitung.«

»Das ist schon anderen Chefs passiert, und die haben’s auch überlebt.«

»Vielleicht, aber bei der Gelegenheit eröffnet mir Park, dass er mit einem System fingierter Rechnungen Geld unterschlägt, um seiner koreanischen Managerbande, die allesamt Stümper sind, Gehaltszulagen zu zahlen, und dass das Ganze zu allem Überfluss auch noch schwarz auf weiß in der Firmenbuchhaltung steht … Wenn da irgendwelche Schlaumeier einen Blick drauf werfen … Das Werk muss geräumt werden.« Quignard greift zum Telefon. »Ich rufe den Kommissar an …«

Maréchal bremst ihn. »Tu das nicht. Das führt nur zu Ausschreitungen, die die Bullen vom Kommissariat nicht in den Griff kriegen. Und das Anfordern von Spezialeinsatztruppen braucht Zeit und gute Gründe.«

Die beiden Männer trinken schweigend. Quignard grübelt. »Zündelnder Feuerwehrmann, hast du gesagt. Die Feuerwehr, das ist eine Idee. Ein Feuer bricht aus, und alle werden evakuiert.«

Erneutes Schweigen. Die beiden Männer trinken. Quignard brummt, mehr zu sich selbst: Zumal wir nicht Gefahr laufen, dass die Versicherungsschnüffler uns auf die Nerven gehen.

Maréchal hat sein Glas geleert und erhebt sich. »Karim Bouziane hat auf dem Gelände hinter der Fabrik einen Grill aufgestellt. Der muss an so einem Streiknachmittag nur so geglüht haben. Na dann, ich überlass dich deinen Angelegenheiten, ich fahr nach Hause. Danke für den Cognac.« Er hebt die Hand zum Gruß, die Tür klappt zu.

Schnell mal überlegen. Ein Glas Cognac. Wäre jetzt nicht Tomaso der richtige Mann? Er denkt an ihre erste Begegnung zurück. Ein Geschäftsfreund hatte ihn nach Nancy ins Oiseau Bleu mitgenommen. Ein ganz besonderer Laden, hatte er gesagt. Ein Restaurant, das beste von Nancy. Der Besitzer, Tomaso, war gekommen und hatte sie begrüßt. In der hochgewachsenen eleganten Erscheinung hatte Quignard eine unnachgiebige Härte gespürt, Blaustahl, die ihn sofort fasziniert hatte. Nach dem köstlichen Abendessen dann der Nachtclub im Untergeschoss des Restaurants, Nutten, die besten von Nancy. Er war Stammgast geworden im Oiseau Bleu, wo er viel mehr Zeit verbrachte als zu Hause, und hatte sich mit Tomaso angefreundet, der sich ihm ein wenig geöffnet hatte: ein ehemaliger Hund des Krieges, der dabei war, sich neu zu orientieren, noch gezeichnet von Einsätzen und Gewalttaten, von denen der junge Quignard während seiner kurzen Zeit in der militärischen Geheimorganisation OAS geträumt hatte. Ach ja, das waren Zeiten … Und Tomaso war vierzig, hätte fast sein Sohn sein können, der Sohn, den er nie hatte. Also hatte Quignard ihm Aufträge für seinen Sicherheitsdienst verschafft, auch den für Daewoo Pondange, und er konnte sich dazu nur beglückwünschen. Linke Tricks gegen unliebsame Gewerkschafter, Übergabe von Geldkoffern, hier und da ein wenig Wirtschaftsspionage. Tomaso hat ihm nie einen Gefallen abgeschlagen, alles effizient und diskret erledigt. Für einen brennenden Mülleimer in einer besetzten Fabrik ist er natürlich der richtige Mann.

Vor der offenen Tür drängen sich etwa zwanzig Arbeiter und versuchen einen Blick nach drinnen zu erhaschen. Zu hören ist die Stimme von Amrouche, der die Sitzung mit einer gewissen Feierlichkeit eröffnet.

Während Nourredine immer noch benommen dasitzt, den Kopf in die Hände gestützt, und nicht richtig Luft bekommt, verteilt sich der Rest der Truppe in den Büros und nimmt mit sichtlichem Vergnügen die Räumlichkeiten in Besitz. Teppichböden, richtige Wände, saubere, solide Möbel, zarte Pastelltöne, reichlich Platz, eine andere Welt als die Fabrik, eine Welt, in der man Lust bekommt zu spielen, sich in einen der Drehsessel zu setzen, Füße auf den Tisch, die metallenen Aktenschränke als Grundausstattung für ein Schlagzeug neuen Typs zu verwenden, alle Apparate der Telefonanlage zum Klingeln zu bringen. Wir sind hier zu Hause, oder besser, wir tun so, als seien wir hier zu Hause. Dann wird das Spiel langweilig, in einer Schublade findet sich eine Flasche Whisky, die aus Kaffeetassen geleert wird, man ruft entfernt lebende Freunde an, ein bisschen Kleinzeug verschwindet in namenlosen Taschen, elektronische Terminkalender, Handys, bunte Filzer als Mitbringsel für die Kinder, ein Montblanc-Kugelschreiber, durch ein Fenster gegenüber der großen Fabrikhalle schaffen zwei Männer einen topmodernen Computer samt Zubehör hinaus.

 

Im Sitzungsraum zieht sich die Diskussion durch endlose Präliminarien in die Länge, der Dolmetscher übersetzt jeden Beitrag ins Koreanische oder Französische. Amrouche geht Punkt für Punkt eine Liste mit Beschwerden durch, die sich seit Gründung der Fabrik angesammelt haben. Die Gruppe der vor der Tür versammelten Zuhörer wird allmählich kleiner. Der Nachmittag zieht sich hin, man beginnt sich zu langweilen. Im Hauptgang drehen die dafür Eingeteilten ihre Runde, was niemanden weiter interessiert. Im Büro des Personaldirektors sitzt ein Grüppchen im Kreis und lässt Joints herumgehen. Schade, dass die Sekretärinnen schon weg sind, mit ihnen wär die Party lustiger. Und wo sind unsere Mädels? Die haben Schiss gekriegt, kannste dir doch denken. Lacher, Kerle unter sich. Andere sitzen neben dem Kaffeeautomaten schon wieder bei ihrem unvermeidlichen Kartenspiel. Im Büro vom Chef steht ein Fernseher, aber die Fernbedienung ist unauffindbar. Das Gerät wird auf den Boden geschmissen. Nourredine ist mit dem Kopf auf den Knien auf seinem Stuhl eingeschlafen.

Étienne hat den Computer aus dem Wagen des koreanischen Managers geholt. Er setzt sich in ein ruhiges Büro und schließt ihn an. Mit Computern, denkt er, kennt er sich ein bisschen aus. Mal gucken, wie sie in den Büros arbeiten, wo er schon mal die Gelegenheit dazu hat, das macht ihm Spaß, das interessiert ihn. Er kommt ohne weiteres in den Rechner hinein, drückt ein paar Tasten. In der Rubrik »Verwaltung Einkauf-Verkauf Lieferanten« erscheinen mehrere Ordner, denen Nummern zugeordnet sind. Er öffnet irgendeinen und stößt auf Namensdateien, französische und ausländische Namen, er kennt keinen. Klickt einen an. In einem Fenster links auf dem Monitor der Mund einer Frau, der einem männlichen Schwanz einen bläst, Nahaufnahme, eine handfeste, sich ständig wiederholende Animation. Étienne wechselt die Datei, wieder ein Bildchen, wieder ein Blowjob, aber Blickwinkel und Stellung diesmal anders. Étienne ist hocherfreut. Er klickt sich durch Ordner und Dateien und springt von Masturbationen und Analverkehr zu flotten Dreiern und anderen Spezialitäten. Étienne ist hellauf begeistert. Diese Bürohengste, nicht zu fassen, die wissen, wie man sich die Arbeit einteilt. Er sieht wieder Aïsha vor sich, wie sie im Dunkeln auf dem Boden liegt, riecht den Shampooduft ihres vollen schwarzen Haars, dann den kräftigen Geruch von Blut. Eine Jungfrau, ein besonderes Gefühl, das war gut. Schöne Erektion. Er zuckt zusammen. Karim beugt sich über seine Schulter, Vertrautheit zwischen Händler und einem seiner Stammkunden, und steckt ihm einen fertig gedrehten Joint in die Kitteltasche. »Schenk ich dir. Ich mach Feierabend und fahr nach Hause.« Sein Blick fällt auf den Bildschirm. Gerade lässt sich eine Frau auf allen vieren von einem Hund besteigen, einer großen, schwarzweiß gefleckten Deutschen Dogge, die mit hängender Zunge hechelt. Ihm stockt der Atem. So was kriegt man hier in Pondange nicht oft zu sehen.

Verhandlungspause. Die Führungskräfte haben den Wunsch geäußert, sich miteinander zu besprechen, und Amrouche und Hafed haben sie im Sitzungszimmer allein gelassen. Sie nutzen die Gelegenheit, um einen Gang durch die Büros zu machen und eine Zwischenbilanz der Besetzung zu ziehen. Amrouche betritt den Raum, in dem Étienne und Karim Schulter an Schulter vor dem Computer kleben und sich glucksend in die Rippen stoßen. In einer Ecke des Bildschirms nimmt ein Mann eine Frau in der Hündchenstellung, Halbnahaufnahme der sich bewegenden Hintern. Amrouche, zutiefst schockiert, murmelt ein paar Teufelsbeschwörungen und knallt im Hinausgehen die Tür hinter sich zu.

Das Geräusch lässt Karim zusammenzucken, der, aus seiner Betrachtung gerissen, seinen Geschäftssinn wiederentdeckt. »Kannst du mir nicht schnell eine Kopie von den Bildern ziehen? Dann vergrößerst du sie, du kennst dich doch aus mit diesen Geräten, und wir machen eine hübsche Diskette draus, die ich zu einem guten Preis verkaufe. Die Kundschaft dafür hab ich. Und wir machen halbe-halbe.«

»Genial. Warte, das ist schnell gemacht.«

Étienne wühlt in den Schränken, findet Disketten, legt eine ein, startet den Kopiervorgang. Der dauert drei Minuten, Zeit genug, den Joint anzuzünden und die ersten Züge mit Karim zu teilen, der die Diskette einsteckt und in Richtung Cafeteria verschwindet.

Étienne raucht weiter und träumt vor sich hin. Wie viel bringt diese Nummer? 1000 Franc? Mehr? Er sieht wieder auf den Bildschirm. Die Pornobildchen sind verschwunden, und jetzt weckt der Name der Datei, in der er sich befindet, seine Aufmerksamkeit. Nourredine Hamidi. Nourredine, mein Kumpel aus der Verpackung? Unter dem Namen stehen wie auf einem Kontoauszug Kolonnen von Zahlen und Daten, unterteilt in Soll und Haben, und am Ende der Liste ein Guthabenbetrag: 100 000 Franc. Er springt von Datei zu Datei, plötzlich hellwach. Andere Namen erscheinen, mit anderen Kontoauszügen, die meisten kennt er nicht, aber da ist ja der von diesem scheinheiligen Amrouche. Nicht schlecht, 150 000. Und etwas weiter unten der von Rolande Lepetit, nur 50 000, die hat auch nie Schwein. Und Maréchal, 200 000. Die Hierarchie wird gewahrt. Erste Reaktion: Die haben einen Haufen Zaster in der Firma stecken, die haben’s besser auf die Reihe gekriegt als ich, sogar Rolande, die immer so spröde tut. Zweite Reaktion: Moment mal, wenn Nourredine so einen Batzen Geld in Daewoo stecken hat, worauf will er dann mit dieser Prämien-Geschichte hinaus? Dem können die Prämien doch scheißegal sein. Für wen arbeitet er? Und die gute Rolande, entlassen? Das würde mich wundern. Das muss geklärt werden.

Étienne findet Nourredine schlafend auf einem Stuhl in der Empfangshalle. Er rüttelt ihn. »He, alter Heimlichtuer, du hast uns gar nicht erzählt, dass du einen Haufen Zaster in der Firma stecken hast.«

Nourredine kommt mühsam zu sich. »Sei so gut und lass den Scheiß.«

»Komm mit, ich zeig dir deinen Kontoauszug. Du bist im Moment bei über 100 000 Franc.«

»Du hast zu viel geraucht oder zu viel getrunken.« Nourredine erhebt sich schwerfällig, schüttelt seinen schmerzenden Kopf und geht in Richtung Toiletten.

Zu viel geraucht, zu viel getrunken, ist das etwa eine Antwort? Verärgert läuft Étienne die Flure entlang, um ein paar Kumpels zusammenzutrommeln.

»Nourredine, Rolande, Maréchal und ein Haufen anderer Leute kriegen von den Daewoo-Bossen Millionen, kommt mit und guckt, ich hab die Liste mit den Zahlungen in einem Rechner gefunden …« Erheiterung, niemand rührt sich. »… und Pornos sind da auch.«

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