Letzte Schicht

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Schweigen. Alle sehen Aïsha an. Verkrampft und bebend, mit ihrem blassen Gesicht und dem gescheitelten tiefschwarzen Haar, das ihr glatt über die Schläfen fällt und im Nacken zusammengebunden ist, verkörpert sie in diesem Augenblick auf diesem Stück Brachland hinter der Fabrik aus Blech die Tragödie in ihrer aller täglichem Leben.

Amrouche schließt die Augen. Auch er hat seinen altvertrauten Alptraum. Er ist zwanzig, er arbeitet oben auf dem Steg in der großen Halle, die Pfanne mit dem flüssigen Stahl explodiert zehn Meter unter seinen Füßen, dreißig Tonnen kochender Stahl, die etwa fünfzehn Männer verschlingen, wilde Schreie, der Geruch von verkohltem Fleisch, unerträglich. Hör auf, reiß dich zusammen.

Jemand sagt: »Meine Frau arbeitet in den Büros. Sie hat gehört, dass im Dezember die Prämien nicht gezahlt werden sollen.«

Alle Blicke richten sich auf Amrouche, der sich räuspert.

»Ich glaube, das stimmt. Ich glaube, sie haben entschieden, die monatlichen Prämien nicht zu zahlen, die letzten Februar beschlossen worden sind und die im Dezember auf einen Schlag ausgezahlt werden sollten. Keine Prämien dieses Jahr. Die erste Prämie wird nächsten Januar gezahlt.«

Warum hast du das in diesem Augenblick gesagt? Zu spät wird dir klar, dass du Öl ins Feuer gießen wolltest, weil du dir nicht anders zu helfen wusstest. Vielleicht wolltest du von Maréchal ablenken, der früher auch Stahlarbeiter war, vor allem aber wolltest du der unerträglichen Angst ein Ende machen, die dich seit Aïshas Bericht, seit der übermächtigen Wiederkehr dieser Walze aus flüssigem Stahl gepackt hält, dieser Angst vor Unfall und Tod, weil der Mensch so ist, denkst du, weil du nichts dafür kannst, denkst du, und weil du lieber vergessen willst. Dass sie uns aber von hier auf jetzt die Prämien stehlen, die sich angesammelt haben und inzwischen fast einem Monatsgehalt entsprechen, die Prämien, die einem zustanden, mit denen man gerechnet hat, die schon für bestimmte Ausgaben verplant waren, das ist was anderes, ein anderes Thema, vertraut, überschaubar, irgendwie beruhigend.

In der Gruppe, die da auf dem unbebauten Gelände hinter der Fabrik vor Kälte bibbert, entladen sich jetzt Angst, Wut, Groll und Not: sofortige Zahlung der Prämien. Nourredine fügt hinzu: sofortige Wiedereinstellung von Rolande. Die Gruppe kehrt in die Fabrik zurück, um durch alle Werkstätten zu ziehen. Eine halbe Stunde später steht die ganze Fabrik still.

Vertrauliches Mittagessen in einem Luxemburger Gasthof gleich an der französischen Grenze, ein Tisch mit zwei Gedecken in einem kleinen Speiseraum.

Maurice Quignard trinkt Pastis und wartet. Um die sechzig, groß, breitschultrig, kein Bauch, er bewahrt sich sein sportliches Aussehen. Das Gesicht ist vierschrötig, die Haut gebräunt und faltig. Nach einer langen Laufbahn in der Stahlindustrie hat er eine Unternehmensberatung speziell für Umstrukturierungsmaßnahmen gegründet, er arbeitet mit zahlreichen europäischen Gremien zusammen und sitzt im Auftrag des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung als ehrenamtlicher Berater in der Geschäftsleitung von Daewoo Pondange.

In gewisser Hinsicht ist Daewoo sein Werk. Dank seiner politischen Freundschaften in Lothringen konnte er den Verbindungsmann zu den Koreanern spielen, er hat die Bedingungen für die Ansiedlung des Unternehmens ausgehandelt und dafür gesorgt, dass die europäischen und französischen Subventionen in Strömen fließen. Auch das alles ehrenamtlich. Im Interesse der Region und ganz Frankreichs. Die Idee, Daewoo und Matra für die Thomson-Übernahme zusammenzubringen, wurde zwei Jahre zuvor bei einem geselligen Abendessen geboren, bei dem er den Präsidenten des lothringischen Regionalrats zu Gast hatte. Heute ist er fast am Ziel. Und er weiß, dass er in dem neuen Unternehmensgefüge, das Daewoo und Thomson Multimédia vereinen soll – ein Weltkonzern –, als HR-Berater tätig sein und Einfluss haben wird. Der krönende Abschluss seiner Karriere. Ganz zu schweigen davon, was finanziell für ihn abfällt.

Dank der freundschaftlichen Kontakte, die er sich auf allen Hierarchieebenen aufgebaut hat, ist er immer auf dem Laufenden über das, was sich bei Daewoo tut. An diesem Morgen ist Maréchal gegen zehn Uhr in sein Büro in Pondange gekommen und hat ihm von der Lage im Betrieb berichtet. Bedenklich. Wieder ein Unfall, ein schwerer. Und die Entlassung einer guten und obendrein sehr beliebten Arbeiterin, eine unnötige Provokation seitens dieses Hornochsen von HR-Manager. Während des Gesprächs ein Anruf aus der Fabrik: In der Werkhalle war ein Streik ausgebrochen. Was habe ich dir gesagt? Doch Maréchal war nicht sonderlich beunruhigt: Das ist ein lokal begrenzter Streik, spontan, keiner von denen hat Organisationstalent, du weißt doch, wie diese jungen Wichser sind, morgen nehme ich die Sache wieder in die Hand, aber das hätte man sich wirklich sparen können.

Quignard aber hat die Wut gepackt. Er hat den Direktor einbestellt, um Klartext mit ihm zu reden. Der verspätet sich. Das macht es nicht besser. Quignard ist bei seinem dritten Pastis.

Park, der koreanische Direktor, erscheint, ein Lächeln im runden glatten Gesicht, kreisrunde Schildpattbrille, immer sieht er ein wenig verblüfft aus. Quignard drückt aufs Tempo und lässt sofort die Vorspeisen servieren, eine Auswahl Wurst und Schinken und ein guter Burgunder. Kaum sind sie allein, geht er barsch und voller Ungeduld zum Angriff über.

»Wie kommen Sie dazu, in einer Fabrik, in der seit zwei Jahren niemals etwas vorgefallen ist, nicht eine Stunde Streik, in der es keine Gewerkschaften gibt, derart leichtfertig mit dem Feuer zu spielen – noch dazu im für unsere Geschäfte denkbar ungünstigsten Augenblick?«

»Mit dem Feuer … die Wortwahl scheint mir doch übertrieben.« Die Stimme ist sanft, kultiviert, das Französisch tadellos, gerade mal ein leichter Akzent. In der Fabrik spricht er nie Französisch, das er angeblich nicht kann, sondern Englisch oder Koreanisch. »Bisher haben zwei Werkstätten die Arbeit niedergelegt, nicht mal zwanzig Leute.« Kommt nicht in Frage, diesem Großmaul, das mich verachtet, zu sagen, dass gerade eine ganze Schicht in Streik getreten ist, da er ja offensichtlich noch nicht Bescheid weiß. Dafür ist später immer noch Zeit.

»Meine Gesprächspartner sagen mir, die Stimmung in der Fabrik ist sehr angespannt. Dass es viele Unfälle gibt, die Taktzahlen hoch und die Löhne mager sind, ist ja auch nicht zu leugnen. Solange sich das in Fehlzeiten niederschlägt, nun gut. In meiner Jugend sagte man allerdings: Ein Funke kann die ganze Steppe in Brand setzen. Keine Funken also. Sie müssen Ihrem HRM den Kopf zurechtsetzen.«

»Das habe ich sehr wohl verstanden.« Das Lächeln ist verschwunden, am Mund eine bittere Falte. Diesen HRM hat er mir selbst empfohlen. Der Sohn von irgendeinem hohen Tier aus der Region. Wichtig für die Einbindung des Unternehmens in die lokalen Strukturen, hat er gesagt. Ein Stümper.

Der Kellner bringt den nächsten Gang, ein üppiges Pot-au-feu und eine weitere Flasche Burgunder. Quignard fährt fort, immer noch aggressiv: »Keinerlei Aufsehen, solange die Privatisierung von Thomson nicht unter Dach und Fach ist.«

»Das ist eine Frage von wenigen Tagen, so lange werden wir uns schon halten.«

»Nein. Vielleicht noch ein paar Stunden bis zum Votum der Regierung, dann ist die Hauptarbeit geschafft, da stimme ich Ihnen zu, aber wir müssen sehen, wie die Öffentlichkeit reagiert, und die Entscheidung der Privatisierungskommission abwarten. Wir brauchen einen vollen Monat Ruhe. Das ist doch nicht zu viel verlangt.«

»Bei den Löhnen kann ich keine Zugeständnisse machen. Wir haben zurzeit einen Engpass, da in einer Woche ein hoher Betrag an die Bank fällig ist. Den kann ich nur durch den Vorschuss auf eine Warenlieferung decken, den ich in zwei Tagen erwarte. Wir sind so klamm, dass ich wegen der gerade wieder fälligen Beiträge sogar die Brandschutzversicherung gekündigt habe, um die Durststrecke zu überwinden.«

»Das ist mir bekannt. Sie haben das Firmenbudget kräftig überstrapaziert. Vor allem in Anbetracht der gegenwärtigen Umstände. Das ist sehr unvorsichtig und zudem unnötig.« Quignard legt plötzlich die Stirn in Falten. »Sagen Sie, es droht doch wohl wenigstens in den nächsten zwei Tagen keine Arbeitsniederlegung? Wenn Sie Ihre Lieferfristen auch nur ein Mal nicht einhalten, hätte das verheerende Folgen für unsere Interessen auf nationaler Ebene.«

»Ich werde daran denken.«

»Daran denken reicht nicht. Treffen Sie entsprechende Vorkehrungen, und zwar schnell.«

Gut hundert Arbeiter stehen jetzt in der Cafeteria herum, viele Männer, die meisten sehr jung, höchstens zwanzig Frauen. Es haben sich Grüppchen gebildet, immer innerhalb der Schichtteams, und es wird hitzig über die Prämien diskutiert. Zwischen den Gruppen gibt es jedoch nur wenig Austausch, schließlich kennt man sich kaum und misstraut sich eher. Für fast alle ist es die erste Arbeitsniederlegung.

Was jetzt? Kader, der bekannteste Gewerkschafter dieser Schicht, ist krankgeschrieben, verkündet ein Betriebsrat. Allgemeines Feixen. Amrouche, der in einer Ecke nahe der Eingangstür steht, hält sich zurück. Nourredine zögert, blickt sich um, niemand drängt sich vor, er steigt auf einen Tisch. Wer ist das denn? Der Kerl aus der Verpackung, ein Großmaul … Hat der irgendeinen Posten? Nein, hat er nicht … Er erzählt von Émiliennes Stromschlag, unbeholfen, schroff, nicht alle hören ihm zu, hier und da Gespräche, Rolandes Entlassung, viele sind ihr schon begegnet, eine mutige Frau, das schon, bei der man sich aber ständig anbiedern muss. Wollen wir nicht über die Prämien reden?, ruft ein junger Mann, Nourredine winkt Amrouche herbei, der sich mürrisch weigert, auf den Tisch zu steigen, und ohne weiteren Kommentar die Streichung der Prämien für das laufende Jahr sowie die Zahlung der ersten Prämie im kommenden Januar bekannt gibt. Jetzt brodelt es in der Cafeteria, immer mehr Leute beteiligen sich an der Diskussion. Einige wollen es nicht glauben, Vereinbarung ist Vereinbarung, daran lässt sich nicht rütteln. Andere meinen, man hat es nicht anders verdient, wenn man so blöd ist, diesen koreanischen Freibeutern zu vertrauen. Um Nourredine und Amrouche formiert sich eine Abordnung, die zur Geschäftsleitung gehen soll, um Informationen einzuholen, die schnelle Zahlung der ausstehenden Prämien zu verlangen und die Wiedereinstellung von Rolande zu fordern. Die Delegation verschwindet in Richtung der Büros.

 

In der Cafeteria haben sich wieder Grüppchen gebildet. Einige fangen an, Karten zu spielen.

Étienne hat sich zu Aïsha gestellt. »Ich bin der Freund von Nourredine. Ich arbeite seit zwei Jahren in der Verpackung. Wie kommt’s, dass wir uns noch nie begegnet sind?«

»Ich bin erst seit einem Monat in der Fertigung.«

»Stimmt ja.« Jetzt sieht er sie wieder vor sich: das blasse Gesicht, der Rotor, Rolande hat mich in die Fertigung geholt … Da hab ich ja ’nen Bock geschossen, jetzt bloß nicht den abgetrennten Kopf erwähnen.

Lächeln. »Es hat mir so gutgetan, darüber zu reden. War das erste Mal. Ich hab auch zum ersten Mal vor so vielen Leuten geredet, mindestens zehn. Jetzt fühl ich mich besser.« Sie denkt: anders.

Erleichtert. »Darf ich dir einen Kaffee spendieren?«

Vor den Kaffeeautomaten stehen die Leute Schlange. Étienne stellt die beiden heißen Becher auf einen Pappteller, nimmt Aïsha bei der Hand und durchquert mit ihr die große Werkhalle der Fabrik, menschenleer, schwach erleuchtet vom trüben Tageslicht und der orangen Sicherheitsbeleuchtung. Tiefe Stille. So anders, ein bisschen seltsam. Aïsha entzieht ihm nicht ihre Hand. In der Verpackung, einem großen, luftigen Raum, knipst Étienne eine Neonröhre an, bleibt aber nicht stehen – weder bei den Maschinen, fremd in ihrer Reglosigkeit, noch bei den Holz- und Styroporlagern, dabei sind die doch ganz dekorativ, noch bei dem Förderband, auf dem die verpackten Bildröhren zur Decke empor und ins Lagerhaus schweben. Er zieht Aïsha zu einem alten Holzschreibtisch, der verlassen in einem Winkel der Werkstatt steht, und stellt die Kaffeebecher darauf ab.

»Hier können wir in der Pause etwas essen, die Cafeteria ist zu weit weg, man verliert zu viel Zeit. Und jetzt guck.« Stolz. Er öffnet eine Schublade, ein Gasbrenner kommt zum Vorschein. Nächste Schublade, eine Kaffeemaschine. Die Rückwand des Schreibtischs lässt sich aufschieben, dahinter: ein kleiner Kühlschrank und ein Fernseher. »Der Fernseher ist nur für die Nachtschicht.« Lachen. »Was den Rest betrifft, haben wir eine Abmachung mit Maréchal, dass er während der Pause nicht in die Werkstatt kommt.«

Sie trinken schweigend. Aïsha fährt mit dem Finger über die Flecken und Kerben auf der Schreibtischplatte. Ein Stück Freiheit, das die Männer ganz für sich allein haben, hier mitten in der Fabrik. Die Werkstatt der Frauen auf der anderen Seite der Blechwand: ein anderes Leben. Das Unglück, eine Frau zu sein.

»Du hast noch nicht alles gesehen.« Étienne setzt sie auf einen der Hocker. »Mein Arbeitsplatz, aber eigentlich steht man oft, man bewegt sich viel.« Er öffnet die obere Schreibtischschublade, breit, tief, flach, vollgestopft mit Besteck und diversen Korkenziehern, holt ein Brettchen hervor, das ganz hinten steckt, sowie einen Tabakbeutel und Zigarettenpapier. »Ein kleiner Joint, ist schnell gemacht.«

»Ich rauche nicht.«

»Das ist keine Zigarette, das schadet nicht.« Seine Hände arbeiten im Eiltempo, einmal lecken, Feuerzeug, er nimmt einen ersten Zug, einen tiefen, lächelt, reicht ihr den Joint.

Tohuwabohu in ihrem Kopf, Émilienne, Rolande, der Streik, Étiennes Hand in ihrem Haar, in ihrer Hand, ein Schauer überläuft sie, sie nimmt den Joint, führt ihn an die Lippen, inhaliert tief, Nase zu, Augen zu, wie sie es bei ihren Brüdern gesehen hat, schluckt den Rauch, gar nicht so stark, besser als ich dachte, atmet durch die Nase aus, ohne zu husten. Leises Wohlbefinden.

»Ein echter Profi«, sagt Étienne lachend.

Er löscht das Licht, die Werkstatt versinkt in gelblichem Halbdunkel. Aïsha wankt und zieht wild an ihrem Joint. Hört auf einmal wieder Émiliennes Stimme, wie sie sich in der Cafeteria vor Lachen biegt, als sie von ihrem »ersten Mal« erzählt, bäuchlings auf einer Mülltonne in einer Toreinfahrt, und es hat Bindfäden geregnet, Rolande lächelt ihr zu, nimmt sie am Arm, damit sie an einem anderen Tisch zu Ende isst. Ich hab nicht mal sein Gesicht gesehen, wiederholt Émilienne zwischen zwei Japsern. Und die Stimme ihres Vaters, rau, gekränkt, die Beschimpfungen, als sie nicht in sein Kaff zurückwollte, nicht mal in den Ferien, ich weiß, was dort passieren kann. Étienne kommt näher, mit langsamen Bewegungen, fasst sie am Arm, um die Taille, um ihr hochzuhelfen. Angst, aber danach ist es endgültig, ich geh nicht zu meinem Vater zurück. Er führt sie hinter einen Stapel Kisten. Ein Teppich.

»Nourredines Gebetsteppich.«

Er lächelt, kniet sich hin, sie setzt sich, fühlt sich, als schwebe sie, er löst ihr Haar, das ihr über die Schultern fließt. Sie denkt: vom einen Mann zum anderen, und legt sich mit geschlossenen Augen hin. Gedämpfte Dunkelheit und Stille, Étienne küsst sie auf die Wangen, die Augen, die Lippen, sie verkrampft sich, er gleitet zu ihrem Nacken, legt die Hand auf ihre Hüfte, wandert ihren Oberschenkel hinab, unter ihren Rock, Aïsha liegt reglos da, angespannt, das Herz klopft, die Hand fährt langsam wieder hoch zu ihrem Unterleib, wo sie verweilt, flach liegt sie da, warm, beharrlich. Aïsha wartet, gleich wird es geschehen.

Dann geht alles ganz schnell. Étienne zieht seine Hose herunter, streift mit beiden Händen Aïshas Strumpfhose und Slip über ihre Knöchel, legt sich auf sie, dringt in sie ein, braucht zwei oder drei Anläufe, es schmerzt, hab schon Schlimmeres erlebt, sie ist seltsam weit weg, er beginnt sich zu bewegen, ein stechender Schmerz zerreißt sie, sie schreit auf, dann spürt sie nicht mehr viel, er stöhnt und wird erregter, grunzt ein letztes Mal und rollt ausgestreckt von ihr herunter, neben sie, das Gesicht in ihrem Haar, riecht angenehm sauber, Küsschen auf die Wangen, sehr lieb. Sie fühlt etwas Warmes ihre Schenkel hinabrinnen, lacht, als sie an die Flecken denkt, die sie auf Nourredines Gebetsteppich hinterlassen wird, diese Unbekümmertheit, ihr Leben beginnt sich zu ändern, und das ist gut.

Die Abordnung kehrt in die Cafeteria zurück, ist sogleich dicht umringt. Ohne zu zögern steigt Nourredine auf den Tisch.

»Zu den Prämien: Darüber wird in einer Woche mit dem Betriebsrat gesprochen. Vorher keinerlei Informationen. Angeblich ist noch keine Entscheidung gefallen. Aber der Personaldirektor hat’s nicht abgestritten. Wir glauben, sie wollen sie streichen und es bloß noch nicht sagen. Und wegen Rolande wird der Personaldirektor mit dem Betriebsrat sprechen, wenn wir die Arbeit wieder aufgenommen haben.«

Hier und da fallen Schimpfwörter, Diebe, Dreckskerle, eine beleibte Dame mit Kraushaar bezeichnet die Chefs als Banditen. Und die große Frage: Was machen wir jetzt? Zunächst weiß keiner eine Antwort. Eine Woche Streik, bis der Betriebsrat zusammenkommt? Das ist lang. Und auch nicht der beste Moment, die Lager sind voll … Nourredine schlägt vor, auf die zweite Schicht zu warten, die in weniger als zwei Stunden kommt, und gemeinsam mit ihr zu entscheiden, ob der Streik verlängert wird oder nicht. Der Vorschlag klingt vernünftig, wird einstimmig angenommen.

Die Gruppen verteilen sich. Einige spielen in der Cafeteria weiter Karten, andere machen in den Räumen des Betriebsrats Musik. Amrouche verkrümelt sich, will wahrscheinlich wieder um die Büros herumschleichen. Frauen stehen in Grüppchen um den Kaffeeautomaten und unterhalten sich, ein paar Mütter machen sich unauffällig davon, um mit der Wäsche voranzukommen, und zwei Männer brechen zum Pilzesammeln auf. Jetzt, wo die kalte Zeit beginnt, müssten sich doch Semmelstoppelpilze finden lassen.

Nourredine sitzt auf einem Tisch, neben ihm Hafed, Arbeitnehmervertreter im Ausschuss Hygiene und Sicherheit, der bei der Abordnung dabei war, ein junger Techniker, schlank, elegant, spuckt gern große Töne, wird aber wegen seiner technischen Sachkenntnis sehr geschätzt. Einer von denen, die man mit Entlassungsdrohungen nicht beeindrucken kann. Er lebt – ob zu Recht oder nicht – in der Gewissheit, ein unentbehrlicher und gefragter Mann zu sein. Die beiden Männer kommen aus verschiedenen Welten und haben noch nie miteinander gesprochen, heute trinken sie zusammen Kaffee und empfinden die gleiche Machtlosigkeit.

Eine Angestellte aus den Büros schlängelt sich so unauffällig wie möglich durch die Cafeteria, schiebt sich dicht neben Nourredine und raunt ihm zu: »Der Direktor hat eine Umzugsfirma bestellt, um die Fertigwarenlager räumen zu lassen. Ich habe den Dolmetscher gehört, er hat im Büro neben mir telefoniert, während eure Abordnung darauf gewartet hat, dass man sie empfängt.«

Die beiden Männer sehen sich an, geben sich unwillkürlich die Hand und halten sie gedrückt. Beider Herz eine brennende Wunde. Angesichts dieser Missachtung möchten sie am liebsten schreien, schlagen, etwas zertrümmern, um zu spüren, dass es sie gibt. Und sie verstehen die Drohung genau, die sich hinter dieser Ohrfeige verbirgt: erst die Lager, dann die Maschinen und die Schließung der Fabrik, die Schließung, von der die Chefetage seit zwei Jahren ständig redet.

»Das bedeutet Krieg«, murmelt Nourredine aufgelöst.

Hafed lächelt. »Immer mit der Ruhe, so weit sind wir noch nicht, aber wir müssen uns überlegen, wie wir reagieren.«

Auf der Stelle erneute Generalversammlung. Hafed berichtet in neutralem Ton. Die Reaktion ist einmütig und prompt: All das gehört uns mindestens so sehr wie denen. Hier aufs Werksgelände kommt kein Lkw. Kein Zögern, Schwanken, Sichverzetteln mehr, fast alle beteiligen sich jetzt an der Diskussion. Wie soll man die Sache anpacken? Die Zufahrtstore schließen. Und die Pforte besetzen, unerlässlich, wenn man das Öffnen und Schließen der Tore kontrollieren will. Heißt das, wir besetzen die Fabrik? Du sagst es, wir besetzen die Fabrik. Und wir müssen schnell machen, an Firmen, die sich auf Fabrikumzüge spezialisiert haben, herrscht in Lothringen kein Mangel. Wir besetzen, bis die zweite Schicht eintrifft, entscheidet Nourredine. Dann sehen wir gemeinsam weiter. Einhellige Zustimmung.

Die Cafeteria leert sich, und etwa hundert Arbeiter, darunter vielleicht zehn Frauen, finden sich am Eingang zum Werksgelände ein. Zwischen Pforte und Gebäudefassade eine freie Fläche von etwa dreißig Metern, auf der das Gras kräftig – lothringisches Klima verpflichtet – und wild vor sich hin wächst. Hinter der getönten Spiegelglasfassade die Büros der Direktion. Chefs und leitende Angestellte, Koreaner und Franzosen, bestimmt sind sie alle dort und verfolgen aufmerksam das Geschehen. Sie sind nicht zu sehen, aber sie zu spüren ist belastend, man fühlt sich ungeschützt. Immerhin noch keine Lkws in Sicht, das ist schon ein kleiner Sieg, und vielleicht kommen ja auch keine, ein falsches Gerücht, gut möglich, man macht sich Mut, so gut man kann.

Erkundung des Geländes. Zwei große Rolltore, die von der Pforte aus elektrisch bedient werden. Das rechte führt zum Personalparkplatz, der sich am rechten Werksflügel entlangzieht, das linke zum Lagerhaus und zu den Verladerampen für die Lkws. Rechts ein Törchen für die Fußgänger. Zwischen den beiden Toren die Pforte, ein Leichtbaukubus mit großen Fenstern. Da passen sicher zwanzig Leute rein. Im Augenblick befinden sich nur zwei Wachleute darin, die hinter der Scheibe die Arbeiter beobachten, ohne sich zu rühren.

Dort muss man hinein. Inzwischen hat sich auch Amrouche mit undurchdringlicher Miene zu den Arbeitern gestellt. Die Abordnung formiert sich erneut und betritt das Pförtnerhaus. Wieder ergreift Nourredine das Wort. Wir besetzen, wir übernehmen die Kontrolle über das Öffnen und Schließen der Tore. Die Wachleute, zwei gut fünfzigjährige Männer, kräftig, beleibt, in marineblauen Blousons mit Security-Schriftzug, zucken die Achseln. Wie ihr wollt. Wir sind keine Daewoo-Angestellten, und unser Boss hat gesagt, wir sollen nicht eingreifen. Er hat uns nur gesagt, wir sollen im Pförtnerhaus bleiben, und er schickt noch zwei Kollegen zur Verstärkung, die Sicherheitsrundgänge machen sollen. Ihr werdet sie schon erkennen, sie tragen die gleiche Uniform wie wir. Nourredine lässt sich erklären, wie man die Tore öffnet und schließt. Sieht alles einfach aus. Draußen kommt jetzt die Sonne ein wenig durch, die Arbeiter unterhalten sich und spazieren in kleinen Gruppen müßig umher. Ein paar Frauen gehen ins Pförtnerhaus, um sich aufzuwärmen, oder laufen zurück in Richtung Cafeteria.

 

Die ersten Arbeiter der zweiten Schicht treffen ein, die meisten im Auto. Nourredine öffnet das rechte Tor, die Autos werdenauf dem Parkplatz abgestellt, dann kommen die Arbeiter grüppchenweise zurück, und die Schichtteams tauschen sich aus. Keine Prämien dieses Jahr. Nein, die Zahlung wird nicht nur im Dezember ausgesetzt, es gibt gar keine Prämien. Und die Vereinbarung vom Februar? Für’n Arsch. Die Frauen debattieren unter sich. Weihnachten naht und keine Prämien, das heißt vor allem keine Geschenke für die Kinder. Die Reaktionen sind bunt gemischt, reichen von Ungläubigkeit bis Wut.

In diesem Moment sieht Nourredine, der immer noch das Tor überwacht, drei riesige Lastzüge der Firma Rapid Umzüge Lothringen. In Zeitlupe nähert sich der Konvoi dem Kreisel, von dem die Zufahrt zur Fabrik abgeht. Nourredine betätigt die elektrische Schließvorrichtung des Tores, aber es rührt sich nicht. Adrenalinstoß, Schweißausbruch, grelle Gedankenblitze: Die Ankunft der Lkws wurde auf das Eintreffen der zweiten Schicht abgestimmt, das offene Tor muss von den Büros aus blockierbar sein, wenn die hier reinkommen, Krawall, Polizei, wir sind erledigt.

Er stürzt nach draußen und brüllt: »Die Lastwagen, die Lastwagen! Das Tor klemmt, versperrt die Einfahrt, los, versperrt die Einfahrt!«

Die Lastwagen nähern sich in einer langsamen, unerbittlichen Prozession. Der erste fährt in den Kreisel ein, umrundet ihn majestätisch, in der Fahrerkabine sind die Umrisse von drei Männern zu erkennen. Etwa zweihundert Arbeiter, alles Männer, Hafed in der ersten Reihe, haben sich eilig am Tor versammelt, verkrampfte Kiefer, untergehakt, an die Gitterpfosten geklammert, in mehreren Reihen, zusammengeschweißt, verflochten, mit klopfenden Herzen.

Hinter der menschlichen Barrikade haben Nourredine und fünf andere Arbeiter gleichzeitig dieselbe Idee. Ein paar leere Paletten auf einen Haufen, die Trennpappe mit dem Feuerzeug anzünden, etwas anderes hat keiner, Scheiße, wenn das bloß brennt, es brennt.

Der vordere Lastwagen ist in die Zufahrt zur Fabrik eingebogen, er kommt näher, keine zwanzig Meter mehr, monströse Kühlerhaube über ihren Köpfen. Die Männer schließen stumm die Augen. Zu behaupten, man hätte keine Angst … Keine fünf Meter mehr, nicht daran denken, wie der Körper auf dem Boden liegt, nicht daran denken, wie das Rad ihn zerquetscht, an gar nichts denken. Zusammenhalten. Zusammen. Halten. Und bloß nicht hinfallen.

Keine zwei Meter mehr. Eine Parole wird von hinten nach vorn durchgegeben: Wenn einer »Feuer« schreit, so schnell wie möglich zur Seite weg und abhauen. Die Stoßstange berührt die Männer der ersten Reihe, und der Lkw rollt weiter, Zentimeter um Zentimeter. Wer kann zehn Tonnen in Bewegung aufhalten?

Ein langgezogener Schrei, einstimmig aus sechs Kehlen: »Feuer!« Die Menschenketten reißen, bloß schneller sein als der Fahrer, sechs mit Brettern bewaffnete Männer schieben wie die Wahnsinnigen einen Stapel brennender Paletten heran, in einer Funkengarbe schrappt er über den Boden und unter die Kühlerhaube des Lastwagens, der inzwischen das Tor erreicht hat.

»Diese Hurensöhne, wir fackeln sie in ihren Kabinen ab!«, brüllt Nourredine, schweißgebadet, die Hände verbrannt, außer sich.

Panik im ersten Lastzug. Der Fahrer legt jäh den Rückwärtsgang ein, setzt ein paar Meter zurück, zu schnell, der Anhänger kommt von der Fahrbahn ab, seine Räder versinken im weichen Boden, er stellt sich quer, die Beifahrer springen mit Baseballschlägern heraus, um den Lkw zu schützen. Hafed und ein Dutzend Arbeiter gehen dazwischen.

»Aufhören jetzt, aufhören. Wir bleiben auf unserer Seite, innerhalb des Werksgeländes. Wir zünden die Lkws nicht an. Wir haben gewonnen. Sie verziehen sich, wir lassen sie gehen.«

Die Wachleute hinter ihrer Scheibe sehen dem Schauspiel regungslos zu.

Hinter den brennenden Paletten – das trockene, luftig angeordnete Holz gibt ein schön helles, lebendiges Feuer – drängen sich die Arbeiter und gucken zu, wie die schweren Lastwagen unbeholfen mit ihren Anhängern manövrieren, um wegzukommen. Spötteleien und Gelächter, pass auf, dir schmort noch der Motor durch, stellen sich nicht gerade geschickt an, die Fahrer, Erdklumpen fliegen gegen die Windschutzscheibe, ein paar Steine, man reagiert sich ab, nichts wirklich Schlimmes. Nourredine hat sich seinen grauen Kittel heruntergerissen und ins Feuer geworfen. Dann fahren die Lastwagen in einer langsamen Prozession wieder ab, wie sie gekommen sind. Je weiter sie sich entfernen, durch die Flammen hindurch nur undeutlich zu sehen, desto stiller wird es, und die Stille hält auch, nachdem sie in Richtung Luxemburg verschwunden sind, noch ein paar Minuten an. Jeder sieht noch einmal ein Stück Kühlerhaube, den Zipfel einer Stoßstange, die Kante eines Kotflügels, ein Rad, jeder durchlebt noch einmal die Berührung der zusammengeschweißten Körper, die der Angst widerstehen, die Stiche des Feuers und die Riesenfreude über das Debakel des Monstrums, das gemeinsam ausgekostete Gefühl, dass wir, wir alle miteinander, eine Macht sind, uns gehört die Welt. Gereckte Fäuste in Richtung der blinden Fenster der Geschäftsleitung.

Hätte man uns nicht gewarnt, wären die Lkws problemlos reingekommen, denkt Nourredine benommen und glücklich.

Dann schnappt sich Hafed einen Stuhl aus dem Pförtnerhaus und steigt darauf. »Da sie uns den Krieg erklärt haben, müssen wir uns organisieren, damit wir ihn auch führen können.«

An diesem sonnigen frühen Nachmittag verbreitet sich das Gerücht von dem Streik, dem Machtkampf und der Niederlage der Bosse in der ganzen Umgebung. Die Fabrik wirkt wie ein Magnet, und sie kommen von überall aus dem Tal, Arbeitslose, Rentner, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, um zu hören, was es Neues gibt, um zu sehen, wie die jungen Leute sich schlagen, um über ihre Erinnerungen zu reden. Als die Stahlindustrie noch alle Täler ringsum einnahm, als das Wort »Streik« noch eine Bedeutung hatte, als man die Polizeireviere mit Bulldozern angriff, als man massenhaft und ohne friedliche Absichten nach Paris marschierte … Erinnerungen, neben denen das, was sich soeben bei Daewoo ereignet hat, zu fast nichts, zu einer Bagatelle schrumpft, glaubt mir, Jungs. Auf dem Grünstreifen vor den Toren bilden sich Menschentrauben bis hin zum Kreisel. Amrouche ist hinausgegangen, um alte Bekannte zu begrüßen. Arbeiter von der Spätschicht diskutieren mit den Alten, bevor sie aufs Werksgelände gehen. Auch ein paar dubiose Gestalten kreuzen auf, wie Karim Bouziane, wegen eines Arbeitsunfalls für sechs Monate krank geschrieben, ein simulierter Hexenschuss, den er sich geholt hat, als er während der Arbeitszeit für den koreanischen Direktor den Möbelpacker spielte. Eine Weile schnuppert er die Atmosphäre vor den Toren, dann betritt er das Werksgelände. Nourredine lässt ihn widerwillig passieren. Mit welchem Recht ihn daran hindern?

Rolande trifft ein, mit strahlendem Lächeln schiebt sie einen mit Kartoffeln, Zwiebeln, Eiern und Brot beladenen Einkaufswagen. »Ich habe im Supermarkt gehört, wie man von euch sprach, da habe ich eine Spendenaktion in den Läden organisiert. Das hier ist alles für euch. Damit ihr heute Abend warm essen könnt. Das ist meine Art, euch danke zu sagen.«