Das schwarze Korps

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Auf dem Rückweg ein etwas kitzliger Moment: sich beim Balancieren auf der Dachkante vergewissern, dass die Toilettenkabinen leer sind. Dann, allein im Inspektorenzimmer, überfliegt er nochmals seinen Bericht und legt ihn auf den Stapel für den Chef. Rückblende: Dora in ihrem Boudoir, ihre Tochter, es ist hart, die Tochter einer ehemaligen Hure zu sein. Irgendwie könnte er kotzen. Oder liegen ihm die Petits Fours schwer im Magen? Er geht ohne Umwege nach Hause.

Nichts zu essen. Da muss er eben bis morgen früh mit Doras Törtchen auskommen. Domecq macht sich einen Kaffee mit einer neapolitanischen Kaffeekanne, wie die Kaffeepäckchen ein Geschenk vom Wirt des Capucin, dann setzt er sich, Füße auf dem Balkongeländer, Blick auf Paris, das grau in grau im Zwielicht liegt.

Zehn Monate arbeitet er jetzt beim Sittendezernat. Kommissar Nohant hat ihn letzten August auf Wunsch des gaullistischen Geheimdiensts als Inspektorenanwärter eingeschleust, unter falscher Identität, mit falschem Lebenslauf. Nohant, eine beleibte bäuerliche Gestalt mit Filzhut auf dem Kopf, ein guter Polizist und Widerstandskämpfer der ersten Stunde. Im November ’43 zusammen mit drei anderen Kommissaren während einer geheimen Zusammenkunft in einem Kellerraum des Café Zimmer von Lafont und seinen Freunden verhaftet. Wer hatte sie denunziert? Brigadiers, die keine Kommissare mochten? Kommunistische Brigadiers, die keine nicht-kommunistischen Kommissare mochten? Kellner des Cafés, die auf eine Prämie aus waren? Ein pflichteifriger Polizist, der keine Widerstandskämpfer mochte? Ausgeliefert an die Deutschen, gefoltert, deportiert. Zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich tot.

Und er stand bei der Sitte schlagartig auf einsamem Posten. Er solle bleiben, hatte London verfügt, er sei hier ideal platziert, um die Kreise der Kollaboration zu beobachten. Er sei niemals Polizist gewesen und habe auch nie den Wunsch danach verspürt? Nebensächlich. Vor dem Krieg sei er Ägyptologe gewesen, einsames Arbeiten und genaues Hinsehen also gewohnt. Während seines zehnjährigen Aufenthalts in Kairo sei er regelmäßiger Gast am ägyptischen Hof und bei Botschaftsempfängen gewesen, eine hervorragende Annäherung an das Leben der High Society, dabei aber schön weit weg von den entsprechenden Kreisen in Paris, was das Wiedererkennungsrisiko in Grenzen halte. Er musste sich an totale Einsamkeit gewöhnen, und sein einziger Kontakt zur Résistance war allabendlich zwischen 20 Uhr und 20 : 10 Uhr die Funkverbindung nach London. Ohne je zur Aktion überzugehen, was noch frustrierender wurde, als die Kämpfe näher rückten. Und er hat Nohants Spitzel geerbt.

Darunter zwei Topleute. Chaves, einer von Lafonts Handlangern. Domecq hat viel nachgedacht. Hinter der Razzia im Café Zimmer kann auch er gesteckt haben. Deshalb hat er ihn noch nicht kontaktiert, aber ein paar von Nohants Aufzeichnungen gut verwahrt.

Und Dora Belle, die offizielle Geliebte eines der wichtigsten SS-Hauptsturmführer in Frankreich. Dora Belle, ein Star der Continental. Dora Belle, eine schmutzige Geschichte, in einem heruntergekommenen Viertel am Pariser Stadtrand auf der Straße geboren, Eltern unbekannt, mit zwölf Jahren Prostituierte, mit vierzehn Mutter und mit sechzehn Mörderin. Nohant wirbt sie an, legt die Mordsache ad acta und lenkt behutsam ihre Schritte. Er lehrt sie lesen und schreiben, sich zu kleiden, als Edelnutte zu arbeiten. Er hält die Zuhälter von ihr fern und hat ein Auge auf die Erziehung ihrer Tochter. Dora begleicht ihre Schuld, indem sie gewissenhaft den Spitzel gibt. Auch als Deslauriers sie zu sich ins Perroquet bleu holt, macht sie weiter. Sie ist zu diesem Zeitpunkt der beste Spitzel, über den die Sitte in Paris verfügt. Nach 1940 ändert sich die Lage. Dora, fasziniert von der virilen Schönheit und dem Charme der siegreichen SS-Hauptleute wie auch von der materiellen und moralischen Sicherheit, die das Naziregime ihr verschafft, hat nichts übrig für die Terroristenlümmel der Résistance, und Nohant geht vorsichtshalber auf Distanz zu ihr. Als Domecq an ihre Akte gelangt, beschließt er, den Kontakt zu erneuern. Er stellt sich als der geistige Sohn von Nohant vor, der leider Gottes an einer unheilbaren Krankheit leide und sich zum Sterben in die Charente-Maritime zurückgezogen habe. Mimt den Hingerissenen, was ihm umso leichter fällt, als er hingerissen ist, erwähnt nebenher, welche Unannehmlichkeiten es mit sich brächte, sollte Deslauriers von ihrem Verhältnis zu Nohant erfahren, wär doch schade, wo das Leben gerade so angenehm ist, und schlägt ihr vor, die französische Polizei auch weiterhin über das Tun und Treiben von Deslauriers und seinen Freunden zu informieren. Sie lässt sich darauf ein, denn ist man erst Teil des Räderwerks, kann man nicht mehr aufhören, zudem ist dies ein Spiel, das einiges Vergnügen bereitet. Gemeinsam erarbeiten sie eine Geschichte von Kindheitsfreunden, die sich zufällig begegnen, ein Wiedersehen, das sie mit viel Gefühl in Szene setzen. Und inzwischen zählt Doras Salon zu Domecqs Hauptwirkungsstätten. Bilanz: ausgesprochen positiv. Jede Menge Informationen über die Kollaboration französischer Unternehmer mit den deutschen Besatzungsstellen, über den tatsächlichen Zustand der französischen Wirtschaft, über die kleine Welt der Kollaborateure aus Kultur und Politik …

Doch heute Abend hat ihn der Ekel gepackt. Dora, die schöne Dora, die bezaubernde Dora ist gefangen in einer Scheinwelt, die auf eine Katastrophe zusteuert. Ist sie sich dessen bewusst? Oder nicht? Wie auch immer. Nicht nur unternehme ich nichts, um sie davon abzuhalten, ich ermuntere sie sogar zum Weitermachen, ich treibe sie weiter auf ihrer schiefen Bahn. Ich verhalte mich wie ein Zuhälter. Ein schrecklich kluger zwar, aber ein Zuhälter. Nicht viel anders als Nohant oder Deslauriers. Lass das Grübeln sein. Es herrscht Krieg. Trinkt seinen Kaffee aus. Kalt. Steht auf. Hebt mit der Messerspitze ein Dielenbrett an, holt ein paar akkurat gefaltete Zettel hervor. Nohants Aufzeichnungen über Dora Belle. Hat er nicht im Büro lassen wollen, es kann immer jemand neugierig sein, zu riskant. Nimmt ein Päckchen Streichhölzer und verbrennt die Blätter eins nach dem andern über dem Spülstein. Einer Freilassung gleich. Rein symbolisch. Und geht schlafen.

Die Tür zu seiner Zelle wird geöffnet. Mike Owen unterdrückt den Impuls zurückzuweichen. Wie viele Stunden oder Tage in dieser Zwei-mal-zwei-Meter-Zelle, ständig hell erleuchtet, die Handgelenke an einen Ring in der Wand gekettet, gerade so in der Lage, aufrecht zu stehen oder sich auf dem nackten Boden auszustrecken? Er kann es nicht sagen. Ohne ein Wort macht der SS-Mann ihn los und treibt ihn im Flur vor sich her. Owen bewegt Hände, Arme, schmerzhaft, schwankt. Der SS-Mann öffnet eine Tür. Owen bleibt reglos auf der Schwelle stehen. Sieht zunächst nur die festliche Tafel in der Mitte des Raums, weißes Tischtuch, Porzellan, Silberbesteck, verschiedene Kristallgläser, vier Gedecke. Der SS-Mann stößt ihn hinein, schließt die Tür hinter ihm, dreht den Schlüssel, einmal, zweimal, dreimal, wie in der Zelle. Vorm Fenster sind Gitter. Aus dem Nichts taucht Bauer auf, in Uniform, ein Mädchen an jedem Arm, eine Dunkle, eine Blonde, in roten Miedern und schwarzen Netzstrümpfen, Brüste, Geschlecht, Gesäß entblößt. Ihm schwindelt. Bauer packt ihn am Arm.

»Mein lieber Mike, der Name des Dorfs, in dessen Nähe du mit dem Fallschirm abgesetzt wurdest und an den du dich nicht erinnern konntest, ist Mortemart. Die Organisation, die dich in Empfang genommen hat, wurde zerschlagen, die Anführer exekutiert und das Dorf niedergebrannt. Eigentlich eine gute Nachricht, oder?« Er reicht ihm eine Champagnerschale. »Du hast für dein Recht zu leben bezahlt, zumindest vorerst.« Er hebt sein Glas. »Auf unsere Kollaboration, um einen sehr französischen Terminus aufzugreifen.«

Weiter, mach weiter. Was kannst du anderes tun? Mortemart, diesen Namen kennst du nicht, hast ihn nie ausgesprochen. Hör nicht auf das, was er sagt. Wiederhole: Kohle, Unternehmer, Banken – das, und nur das, ist deine Welt. Er leert sein Glas auf einen Zug.

Später sitzt er nackt auf einem Stuhl, eins der Mädchen auf den Knien, die ihn löffelchenweise mit Kaviar füttert und ihm aus Bordeauxgläsern Wodka einflößt. Klammert sich an das quadratische Stück Nacht jenseits des Fensters, an den Schmerz, den er spürt, wenn er sein Knie gegen die Tischkante schlägt. Und er trinkt. Sehr wenig getrunken, sehr wenig gegessen seit seiner Verhaftung, seit wann? Schwindelgefühl. Tournedos Rossini, schwere Feinschmeckerkost. Das Mädchen verschwindet unter dem Tisch und fängt an, ihm einen zu blasen. Er verschluckt sich und erstickt fast, kommt ohne Lust, verliert das Bewusstsein, Kopf auf dem Tisch.

Jemand hat ihn geweckt, indem er ihm eine eiskalte Flüssigkeit in die Nase gesprüht hat. Ein Brennen, regenbogenfarbener Funkenregen. Er fühlt sich wie ein Berg in einer klaren Winternacht. Eins der Mädchen tanzt Cancan und summt dazu. Sie hat ein riesiges blauviolettes Geschlecht. Wo ist Bauer?

Das Mädchen sitzt auf der Tischkante. Er nimmt sie, forschend, leicht distanziert, sein Geschlecht dringt in ihres ein, keinerlei Empfindung. Kalte Hände. Bauer, hinter ihm, an ihn gepresst, über seine Schulter gebeugt: Nichts ist schöner als der Arsch eines virilen jungen Mannes. Er packt seine Hüften und dringt in ihn ein, während er ihm in die Schulter beißt. Owen brüllt auf, stürzt das Mädchen, den Tisch, eine randvolle Schüssel Erdbeer-Burgunder-Bowle um. Bauer zerschießt die Lampen mit zwei Schuss. Die Mädchen verstecken sich hinter dem umgekippten Tisch, die Dunkle ist durch Glassplitter verletzt und blutet stark am Oberschenkel. Vier SS-Männer kommen herein, nehmen Bauer mit, jagen die Mädchen mit Tritten davon und lassen Owen auf dem Teppich liegen, inmitten von zerbrochenem Geschirr, mit Wein und Sperma besudelt, zwischen mehrfach verriegelten Schlössern und vergitterten Fenstern längst weggedriftet.

 
4

Sonntag, 11. Juni, morgens

An der Normandiefront wird auf der Linie Caen-Cherbourg der Brückenkopf auf 80 Kilometern Länge und etwa 10 Kilometern Tiefe gehalten.

Rund um Caen geht die Schlacht weiter.

In einem bürgerlichen Wohnhaus am Boulevard Haussmann steigt Domecq vier Stockwerke hoch, roter Teppich auf den Stufen, klingelt an einer Tür. Angélique öffnet ihm im Schlafanzug, unfrisiertes blondes Haar, mürrisch und mit bedrückter Miene.

»Ach, du bist es. Wie hast du mich gefunden? Hat dir der Wirt vom Capucin meine Adresse gegeben?«

»Nein. War nicht einfach …«

»Komm rein, Hübscher, wo du schon mal da bist, biete ich dir ein Gläschen an, aber nicht mehr.«

Die mahagonigetäfelte Diele ist düster. Eine Glastür führt ins Wohnzimmer, hell und geräumig, möbliert mit einfachen, bequemen Sesseln und einem Sofa mit großgeblümtem Stoffbezug. Ein paar Grünpflanzen, an einer Wand ein gut gefüllter Bücherschrank, und vor dem Marmorkamin ein Couchtisch mit Flaschen und Gläsern darin. Ein ziemlich luxuriöses und einladendes Interieur, tipptopp aufgeräumt, das nicht zu Angélique passt.

Er setzt sich neben den Kamin. Sie greift nach einer Flasche Cognac.

»Kannst du mir nicht lieber einen Kaffee machen?«

Träger Blick, Seufzer, dann verschwindet sie Richtung Küche und kommt wenige Minuten später mit einer Tasse zurück, die sie vor ihn hinstellt. Domecq betrachtet die dünne braune, nicht mal lauwarme Flüssigkeit.

»Siehst nicht gerade fit aus, Ange, was ist los mit dir?«

Sie rollt sich in einem Sessel zusammen, ihre Miene wird bitter. »Falicon ist offenbar tot. Das sagt jedenfalls Deslauriers, der Rose und mich Sonntagabend aus dem Capucin weggeholt und uns hier einquartiert hat.«

»Hübsche Wohnung.«

»Ist seine. Uns gefällt sie nicht. Wir fühlen uns hier nicht wohl. Und er hat uns ins One Two Two gesteckt.«

Das bekannteste Luxusbordell von Paris. Domecq pfeift bewundernd. »Toller Aufstieg.«

»Hast du ’ne Ahnung … Freitagabend, kleine Sexparty bei der SS in der Avenue Foch. Ein Hauptsturmführer fordert zwei Mädchen an. Wir waren als Letzte ins One gekommen, also mussten wir natürlich ran. Der Hauptsturmführer hat mit einem Amerikaner eine Party gefeiert. Hat sich total gehen lassen. Zum Schluss hat er wild um sich geballert, und Rose hat ’ne Kugel in den Oberschenkel gekriegt.« Domecq öffnet den Mund. »Es geht noch weiter. Gestern kommt Deslauriers vorbei, um Rose zu besuchen, fragt, wie die Wunde heilt. Danach trinkt er ein Glas mit mir, sitzt friedlich in dem Sessel, wo du jetzt sitzt. Ich sage ihm, dass ich keine Extranummern bei deutschen Militärs mehr machen will, dass ich zu große Angst hatte. Ohne ein Wort steht er auf, geht ins Bad, ich höre Wasser laufen, er kommt mit einem nassen Handtuch zurück, reißt mir den Morgenrock runter und verpasst mir die Tracht Prügel meines Lebens, immer noch ohne ein Wort.« Als sie Domecqs verdutzte Miene sieht: »Mensch, ein nasses Handtuch hinterlässt keine Spuren, du bist Polizist und weißt das nicht?« Sie fährt fort: »Ich lag dort neben dem Kamin auf dem Boden. Ich habe versucht stillzuhalten und nicht zu weinen. Als er mit Prügeln fertig war, hat er zu mir gesagt: ›Seit wann sucht sich eine Nutte ihre Kunden selbst aus?‹ Er brachte das Handtuch zurück ins Bad. Ich lag da neben dem Kamin, hab mich unauffällig verhalten. Als er ging, hat er die Wohnzimmertür noch mal aufgemacht und gesagt: ›Zwei Tage Auszeit. Montagmittag erwartet man dich im One. Kümmere dich um Rose.‹ Dann fiel die Tür ins Schloss. Mir tut noch alles weh.« Ein Moment vergeht. »Gut möglich, dass ich Falicon am Ende vermisse.«

»Wer ist dieser schießwütige Hauptsturmführer?«

»Nach dem, was die Mädchen im One sagen, die ihn gut kennen, ist das Hauptsturmführer Bauer, ein Stammkunde. Nicht sonderlich übergeschnappt oder schwierig.«

»Und was machte der Amerikaner dort?«

»Darüber weiß ich nichts. Er war ein Gefangener, du weißt schon. Wir waren in einer Zelle, mit Wachen vor der Tür und Gittern vorm Fenster. Champagner, Kaviar, alles da, aber eben eine Zelle. Bauer nannte ihn Mike, sagte, er würde den Beginn ihrer Verbindung feiern. Und er hat ihn in den Arsch gefickt, bevor er dann rumgeballert hat.«

Domecq schiebt die Tasse zurück, die er nicht angerührt hat, steht auf, beugt sich zu Angélique hinab, die klein und elend in ihrem Sessel hockt, nimmt ihre Hand, küsst ihre Fingerspitzen. »Liebe Ange, was kann ich für dich tun?«

»Versuch wenigstens rauszukriegen, was Falicon zugestoßen ist.«

Mike Owen betritt unter höflichem Geleit eines SS-Wachsoldaten Bauers Büro im fünften Stock, auf Höhe der Baumkronen der Avenue Foch. Kleiner Raum, sehr hell, auf dem Bücherregal tanzen grüne Schatten, die Bände stehen dicht gedrängt, zuweilen doppelreihig, streng alphabetisch sortiert, ausschließlich französische Autoren, Brasillach, Céline, Chardonne, Cocteau … Bauer steht hinter einem sehr eleganten Louis-XV-Sekretär und erwartet ihn. Er lächelt ihm zu, seltsames Lächeln, Lippen geschlossen, horizontal.

»Ich versuche mich auf dem Laufenden zu halten, was die Männer, denen ich in den Salons begegne, geschrieben haben. Wie es scheint, sind sie in Frankreich meinungsbildend …« Er verzieht zweifelnd das Gesicht. »Besiegtenliteratur.«

Bauer bedeutet ihm, sich auf das Ledersofa zu setzen, das unter vier Dürer-Zeichnungen an der Wand steht, nimmt eine Flasche Cognac, schenkt zwei bauchige Gläser halbvoll, reicht ihm eins und lässt sich ihm gegenüber in einem Lehnsessel nieder. Owen stellt das Glas auf den Boden und rührt es nicht mehr an. Bauer wärmt seins, indem er es mit den Händen umschließt, schwenkt die Flüssigkeit langsam, beugt sich über den Cognac, um in kurzen Zügen sein Aroma zu atmen.

»Warum warst du bereit, mir zu antworten?«

»Weil du alles, was ich weiß, schon weißt. Muss man kein Drama draus machen.«

»Ich bin nicht sicher, dass die Bewohner von Mortemart das auch so sehen.«

Mortemart. Er erinnert sich so undeutlich daran wie an den Rest des Abends. Vermeide unbedingt jeden Gedanken an Mortemart, wenn du überleben willst. Er zuckt die Achseln. »Wir sind im Krieg.«

»Jetzt musst du mir noch die Organisation verraten, die dich in Paris aufgenommen hat.«

Owen, Ellbogen auf die Schenkel gestützt, beugt sich mit ernster Miene vor. »So läuft das nicht. In Paris gibt es keine Organisation. Ich bin allein. Mein Auftrag ist es, ein paar einflussreiche Männer zu treffen und ihnen klarzumachen, dass die Amerikaner ein besseres Bollwerk gegen den Kommunismus darstellen als die Deutschen und dass wir durchaus in der Lage sind, den gaullistischen Widerstand auszuschalten. In der Regel hören sie mir zu. Und ich werde meinen Vorgesetzten Bericht erstatten, wenn sie in Paris eintreffen.« Ein Lächeln. »In wenigen Tagen. Bis dahin habe ich mich auf gut Glück in leerstehenden Wohnungen der feineren Viertel einquartiert, wo deine Polizei mich dann entdeckt hat.«

»Ich will die Namen dieser Kontakte.«

»Aber die gebe ich dir ja, kein Problem. Dassonville, zum Beispiel. Eine deiner treuesten Stützen. Du hast ihn damit betraut, dir Informationen über die französischen Wirtschaftskreise zu liefern, die den Amerikanern nahestehen. Das tut er und sucht bei der Gelegenheit unsere Nähe.«

Mit geschlossenen Augen trinkt Bauer seinen ersten Schluck Cognac. Bourseul hat ihm schon davon erzählt.

Owen wendet nicht den Blick von ihm. »Und sag mir nicht, du hast das nicht geahnt. Willst du weitere Namen? Bourseul und Patenôtre, deine persönlichen Freunde, zwei Mitglieder der Familie Gillet, Ardant, euer Fels in der Bankenwelt, Tiberghien, der Vorsitzende im Organisationskomitee Textilindustrie. Selbst der Champagner wankt. Allerdings glauben sie, dass wir nicht so gute Kunden sein werden wie ihr. Aber vielleicht lernen wir ja, wie die Franzosen zu trinken.«

Er weiß viel. Der kriegt mich noch dahin, wo er mich haben will. Muss nachdenken. »Du wirst gleich zurück in deine Zelle gebracht, bekommst Zettel und Stift und machst mir eine Liste der Leute, die du in Paris getroffen hast, mit Ort und Zeitpunkt dieser Treffen.«

Bleib dran. Schnell. »Jetzt habe ich aber noch eine Frage. Wieso hast du mich nicht längst abgeknallt? Ich habe da eine Vermutung. Du bist korrupt bis ins Mark, Bauer.« Ausdruckslose Miene, starrer Blick, leg nach. »Gemeinsam mit deinen Handlangern, mit deinem Kumpan Bourseul hast du in Frankreich ein Riesenvermögen angehäuft, und jetzt fragst du dich, wie du deine Kohle über die Niederlage rettest. Du denkst, ich bin vielleicht deine Chance.«

Bauer nimmt einen Schluck Cognac, behält ihn im Mund, lässt ihn langsam durch seine Kehle rinnen, herabgezogene Mundwinkel, undurchdringlicher Blick. »Du verstehst gar nichts, Amerikaner. Ja, ich habe viel Geld angehäuft. In einem besiegten Land ist das eine Methode der Kriegsführung, weiter nichts. Ich frage mich nicht, wie ich dieses Geld über die Niederlage rette, weil ich es mir verbiete, die Niederlage in Betracht zu ziehen. Es gibt nur Sieg oder Tod. Ich lasse dich am Leben, in meinem Zugriff, weil ich dich um dieses Leben zappeln sehen will. Eines Tages werde ich dich abknallen.« Und nach einem letzten Schluck Cognac: »Ich bin stolz darauf, dass ich so anders bin als du.«

Montag, 12. Juni

General Montgomery verkündet: »Die Schlacht um die Strände ist gewonnen.« Aber die für den ersten Landungstag gesteckten Ziele sind immer noch nicht erreicht. Die Alliierten haben binnen einer Woche 326 000 Mann und 54 000 Fahrzeuge an Land gebracht, haben aber nicht genug Raum zum Ausschwärmen.

Domecq liegt auf dem Rücken, den leeren Blick zur Decke gerichtet, und lässt langsam die Beklommenheit entweichen, die der letzte Traum der Nacht hinterlassen hat: Er versinkt bis zur Taille in einer Düne aus tiefem, brennend heißem, nahezu weißem Sand und löst sich auf. Erst die Füße, dann Beine und Geschlecht, er spürt ein unerträgliches Brennen im Unterbauch, schweißgebadet wacht er auf. Und wartet jetzt, dass ihm der Mut kommen möge, sich für einen neuen Arbeitstag im Sittendezernat von dem durchnässten Bett loszureißen.

Er geht die Rue d’Assas hinunter, am Jardin, dann am Palais du Luxembourg entlang. Verschanzte deutsche Truppen, Bunker und Sandsäcke. Die Blicke der Soldaten unter den Helmen, lange Zeit unbeteiligt und gelangweilt, sind jetzt wachsamer.

Im Inspektorenzimmer vergeht der Vormittag schleppend. Hier und da ein paar vorsichtige Bemerkungen über die Normandiefront. Die Engländer und Amerikaner wurden nicht ins Meer zurückgeworfen … Aber sie kommen nicht voran … Oder nur so langsam … Und nach jedem Satz ein ausgedehntes Schweigen.

Ricout stürmt herein, Domecq sieht ihn schnurstracks auf seinen Schreibtisch zusteuern. Ganz junger Inspektor, gerade mal vierundzwanzig, vor zwei Jahren in den Polizeidienst eingetreten, aus Berufung und Familientradition. Der Vater Kommissar im Ruhestand und ein älterer Bruder Inspecteur beim 1. Sonderdezernat der Renseignements Généraux, des Zentralen Nachrichtendiensts, wo er gut angeschrieben ist und mit Feuereifer auf alles einprügelt, was nach kommunistischem Terroristen riecht. Zudem ist der Kollege ein tüchtiger junger Mann, lebensfroh, nicht groß schwierig, mit dem Domecq regelmäßig zusammenarbeitet, ohne dass er klagen könnte.

Ricout nimmt einen Stuhl und setzt sich vor Domecqs Schreibtisch. »Ich bin gestern Abend im Schéhérazade zufällig an einen ziemlich kuriosen Tipp gekommen.«

»Schieß los.«

»Erst zeigte mir jemand eine Flasche Champagner der Marke Mumm Cordon Rouge, Jahrgang 1933.«

Domecq verzieht das Gesicht. »Von Wein verstehe ich nichts. Kein Fall für mich.«

»Lass mich zu Ende erzählen. In einer Ecke des Etiketts war in einem Medaillonrahmen das Foto einer ziemlich hübschen, lächelnden Frau aufgedruckt, und handgeschrieben stand da: Als Hommage für Florence, mit einem Namenszug, der von einem Mitglied der Familie Mumm stammen könnte.«

Höflich, uninteressiert: »Und diese Florence?«

»Laut meiner Quelle aus dem Schéhérazade, die sie sehr gut kennt, handelt es sich um Florence Gould, kein Zweifel möglich.«

 

Domecq springt immer noch nicht darauf an. Ricout lässt nicht locker.

»Florence Gould, die Frau des amerikanischen Milliardärs, in deren Salon die Hälfte der französischen Schriftsteller und drei Viertel der Wehrmachtsoffiziere verkehren.«

»Lass mich raten. Sie verkauft ihre Sammlerflaschen, um irgendwie über die Runden zu kommen, und du schlägst jetzt vor, dass wir eine Spendenaktion veranstalten, um sie zu unterstützen.«

Ricout fährt unbeirrt fort. »Die Flasche ist in der Nacht vom 9. zum 10. im Schéhérazade aufgetaucht. Aber nicht allein. Sondern mit 800 weiteren, verschiedene Weine, allesamt von sehr hoher Qualität. War mehr oder weniger ein Zwangskauf. Trotzdem waren es Flaschen für über 200 000 Franc.«

»Allerhand. Und? Was geht uns das an?«

»Wie! Diebstahl, möglicherweise Schutzgelderpressung, mit Sicherheit Schwarzhandel, in unserem Revier, und das soll uns nichts angehen?«

Domecq brummt etwas. Zweihundert Kilometer weiter der Krieg. Aber du bist nun mal Inspektor bei der Sitte, bleib glaubwürdig. Schneller Blick zu Ricout. »Was schlägst du vor?«

»Wir könnten zunächst den Umfang des Geschäfts überprüfen, indem wir in unserem Revier ein bisschen herumfragen. Sind es 800 schwarz gehandelte Flaschen, lassen wir die Sache auf sich beruhen. Sind es mehr, fangen wir an zu graben.«

Bereits am Nachmittag haben Domecq und Ricout an die 20 000 Flaschen gezählt, die innerhalb von vierundzwanzig Stunden an rund die Hälfte der Nachtclubs am Pigalle verkauft worden sind. Die Sache nimmt hübsche Ausmaße an. Sie beschließen daher, dass es an der Zeit ist, Madame Gould kennenzulernen.

Die beiden Polizisten gehen zu Fuß vom Pigalle zu den »Reichenvierteln« rund um die Place de l’Étoile. Florence Gould wohnt in der Avenue de Malakoff, wo sie auch Salon hält, nur einen Katzensprung von den Champs-Élysées, wo jeden Tag die deutschen Truppen marschieren, nur einen Katzensprung von der Avenue Foch, wo der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS seinen Sitz hat, von der Rue Lauriston und der Place des États-Unis, dem Reich von Lafont und seiner Bande, der gefürchteten Carlingue, von der Avenue Kléber und dem Hôtel Majestic, wo die Militärverwaltung der Wehrmacht untergebracht ist. Die Viertel der Reichen: breite, gerade Prachtstraßen, wuchtige Quadersteinbauten, zur Hälfte unbewohnt, strotzend vor Luxus, und überall Hakenkreuzfahnen, bewaffnete Wachsoldaten, feldgraue oder schwarze Uniformen, die zu Fuß oder im Wagen unterwegs sind. Hier sind die Deutschen keine Besatzer, hier sind sie zu Hause.

Ein junges Zimmermädchen, schwarzes Kleid, weiße Schürze und Spitzenhäubchen, macht ihnen auf. Ricout zeigt seinen Ausweis. »Polizei.« Ein Moment vergeht. »Französische Polizei.« Sie scheint unbeeindruckt, studiert gründlich den Ausweis, mustert dann ihn. Er ist jung, freundlich und bemüht sich um eine treuherzige Miene. »Wir würden gerne mit Madame Gould sprechen.«

»Madame Gould ist nicht in Paris. Sie ist an der Côte d’Azur, bei ihrem Mann. Sie beabsichtigt, am Donnerstag zurückzukommen.«

»Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.« Erneut freundlich-aufmunternder Blick. »Madame Gould besitzt einen berühmten Weinkeller …«

Zögernd: »Ich glaube schon …«

»Es ist dieser Keller, der uns interessiert. Wir möchten lediglich einen kurzen Blick hineinwerfen. Befindet er sich hier im Haus?«

»Nein, hier lagern wir nur einige wenige Flaschen für den täglichen Bedarf.«

»Wo ist er dann?«

»In Maisons-Laffitte. Im Château. Na ja, ein richtiges Château ist es nicht … Aber die Weinkeller sind erstklassig. Sie können hinfahren, es gibt einen Hausmeister. Wenn Sie ihm sympathisch sind …«

Die beiden Männer gehen Seite an Seite, Domecq vermeidet es, die unzähligen Hakenkreuzfahnen anzusehen. »Für Maisons-Laffitte ist es heute zu spät. Ich hole dich morgen früh ab, gegen zehn?«

Ricout nickt zustimmend.

»Sag mal, Bernard, ist dein Bruder immer noch bei den RG? Ich würde ihn gern um Informationen über einen meiner Kunden bitten. Meinst du, ich könnte morgen mal bei ihm vorbeischauen?«

»Kein Problem, ich sage ihm, dass du kommst.«

Deslauriers betritt das Deux Cocottes immer mit dem gleichen Behagen. Ein Gefühl, als schlüpfe man in bequeme, vertraute Kleider. Ein ganz schlichter, großer Raum, Fenster mit halbhohen weißen Gardinen, wenig Dekor, die Wände zum Teil holzgetäfelt, Fliesenboden, auf den Tischen kleinkarierte rotweiße Decken, in den Gläsern dazu passende fächerförmig gefaltete Servietten, Stühle mit geflochtener Sitzfläche, kupferne Deckenlampen, die immer brennen. Hinten neben der Küche eine kleine Bar und die Kasse, wo die Wirtin thront, eine kräftige Vierzigerin mit blond gefärbtem Kraushaar, die Aperitifs und Kaffee ausschenkt und, alles im Blick, die Rechnungen schreibt. Neben der Bar zwei Schwingtüren zur Küche, das Reich von Wirt Gégène und Hochburg der traditionellen gutbürgerlichen Küche nach Art der Pariser Auvergner. Gégènes Kochkunst ist Glück pur.

»Tagesgericht ist Bœuf Carottes«, verkündet die Kellnerin.

»Bestens. Das nehme ich zweimal. Mit einer guten Flasche Burgunder, die Wahl überlasse ich dem Wirt. Bring mir bis dahin einen Teller Hartwurst.«

Deslauriers setzt sich an seinen gewohnten Tisch in der Ecke neben dem Fenster. Sieht sich geistesabwesend um, halb voll, es ist noch früh. Ganz hinten, im Halbdunkel, das kreideweiße Gesicht von Dita Parlo. Leiser Stich ins Herz, die Erinnerung an die rührende Bäuerin in Die große Illusion ist noch wach. Heute halb Nutte, halb Geschäftsfrau. Der Krieg ist ihr nicht bekommen. Bauer sitzt an ihrem Tisch, neigt sich zu ihr, küsst ihre Hand. Feixen. Er macht sich an sie ran. Da wäre er von der SS-Führung der Einzige, der noch nicht über sie rüber ist. Der Kommissar des 18. Arrondissements sitzt allein an einem großen Achtertisch. Er erwartet eine größere Runde. Deslauriers grüßt ihn von fern.

Lafont stößt die Eingangstür auf, manövriert sich zwischen den Tischen hindurch, drückt hier eine Hand, verliert da ein paar Sätze, schaukelt dann auf Deslauriers zu. Vertraute Erscheinung. Seit die Besatzer Paris in den Wilden Westen verwandelt haben, herrscht zwischen ihnen ständige Rivalität, mitunter auch Krieg, zwei Kaimanmännchen im selben toten Flussarm. Messerscharfer Blick. Deslauriers registriert den plumpen, gebeugten Körper, das leichte Hinken. Es heißt, die Nordafrikanische Brigade, jene kleine Privatarmee, die der in seinen Träumen verfangene Lafont gegen den Maquis aufgestellt hatte, sei in die Flucht geschlagen und er selbst bei dem Fiasko verletzt worden. Verbraucht, gedemütigt, ich habe ihn in der Hand. Lafont lässt sich schwer auf einen Stuhl fallen. Die Kellnerin bringt die Bœuf Carottes. Deslauriers füllt die Gläser mit Wein. Schweigend beginnen die beiden Männer zu essen, Lafont mit langsamen, ungenauen Bewegungen.

Als sie Lafont eintreten sieht, beugt sich Dita über ihren Teller hinweg zu Bauer und erzählt lebhaft und schmunzelnd: »Weißt du, vor ein paar Monaten wollte ich mit Henri einen Film drehen. Ich kenne ihn gut, wir haben ein paar Geschäfte miteinander gemacht. Er ist ein aufregender Mann, aufregender als die Schauspieler jedenfalls. Ich hatte einen Produzenten gefunden, einen Regisseur, die Einzelheiten erspare ich dir. Schließlich standen wir beide für einen kurzen Probedreh auf einer Bühne. Eine Liebesszene. Film ab! Er beugt sich zu mir runter«, sie spielt die Szene nach, »schließt mich in seine kräftigen Arme und sagt etwas wie«, jetzt fistelnd, »›Ich liebe Sie seit dem Tag, an dem ich Sie zum ersten Mal sah‹, mit seiner Eunuchenstimme. Der Tonmeister, der ihn nicht kannte, war so überrascht, dass er anfing zu lachen, sein Lachanfall hat die ganzen Techniker angesteckt, und auch ich habe in seinen Armen Tränen gelacht und konnte nicht aufhören.«

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