Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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»Du brauchst lange zum Duschen«, grinste sie ihn an.

»Ich hatte eigentlich auf dich gewartet«, erwiderte Sentenza.

»Männer!«, konterte sie. »Und da hieß es früher, Frauen benötigen so lange für ihre Toilette.«

In diesem Moment fuhr das Schott zur Zentrale auf und Thorpa und Darius Weenderveen betraten die Brücke. Ihre Blicke fielen sofort auf den Captain und den Chief, die dicht beieinanderstanden und augenscheinlich Vertraulichkeiten austauschten.

Thorpa räusperte sich überlaut und raschelte zur Unterstreichung mit seinen Ästen. Weenderveen indes rollte die Augen und schüttelte demonstrativ den Kopf. Sentenza glaubte, ein Gemurmel zu vernehmen, das sich anhörte, wie: »Ich dachte, mit vierzig knutscht man nicht mehr wie ein liebeskranker Teenager herum.«

»Austritt aus dem Hyperraum in fünf Sekunden«, verkündete Trooid laut.

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Mr. Weenderveen«, versetzte Sentenza, während er sich von Sonja löste und in den Kommandosessel fallen ließ.

Mit eingeschnappter Miene stellte sich Darius vor die Kontrollen und schien die Frage des Captains zu ignorieren. Sentenza hatte eigentlich noch anfügen wollen, dass das erneute Zusammentreffen mit Jason Knight seine Gepflogenheiten weiter verschlechtert und sein Ruf als Dirty Darius schon corpsweite Ausmaße angenommen hatte. Doch der Gedanke an den Weltraumhalunken Knight und seine bezaubernde Begleiterin Shilla versetzten Roderick Sentenza einen Stich in der Brust. Die beiden waren mit ihrem Schiff Celestine in der Ringsonne der Seer’Tak-Anomalie verschollen.

Verschollen, dachte Sentenza und schalt sich im selben Augenblick für seine Wortwahl. Sie sind wahrscheinlich tot.

»Austritt!«

Die Schleier des Hyperraums verzogen sich vor den Sichtschirmen und gaben den Ausblick auf ein Trümmerfeld frei. Eine unüberschaubare Anzahl an Asteroiden trieb vor dem schwarzen Hintergrund des Alls.

»Gewöhnen Sie sich bitte an, mir vorher Bescheid zu sagen, wenn wir geradewegs in ein Asteroidenfeld fliegen, Trooid«, brummte Sentenza. »Notsignal lokalisieren.«

»Kommt direkt aus dem Feld, Captain«, teilte Weenderveen kurz darauf mit. »Entfernung eintausendzweihundert. Gebe Koordinaten an die Steuerkonsole durch.«

»Kann man schon sehen, was es ist?«, fragte Sentenza.

»Scheint eine Fluchtkapsel zu sein«, vermutete Weenderveen.

»Funkverbindung?«

»Kein Kontakt.«

Sentenza seufzte. Er verspürte nicht die geringste Lust, am Ende dieser aufreibenden Woche noch mit einem Felsbrocken zusammenzustoßen. Doch sein Vertrauen in die intelligente Steuerung der Ikarus II war groß. Bisher hatten nur Trooid und An’ta etwas über die Modifikationen, die Sentenza an dem neuen Schiff vorgenommen hatte, herausgefunden. Sie wussten zwar nicht, was er getan hatte, hatten aber akzeptiert, dass er sich bisher ausschwieg. An’ta konnte das Geheimnis ohnehin nicht mehr preisgeben.

Ein Kloß steckte in Sentenzas Kehle, als er abermals an die Grey denken musste. Erst auf ihrer letzten Mission bei Seer’Tak City waren sie sich ein wenig nähergekommen, hatte er erstmals den Panzer aufbrechen können, den sie um ihre Persönlichkeit gelegt hatte – und dann war sie gestorben.

Zu früh!, dachte Roderick betrübt. Zu früh …

Der Captain atmete tief durch. Er musste unbedingt die anderen über die Protomasse einweihen. Sie waren seine Crew und hatten ein Recht darauf zu erfahren, was er mit dem Schiffscomputer angestellt hatte.

»Trooid, nehmen Sie Kurs auf die Fluchtkapsel«, ordnete Sentenza ruhig an. »Und denken Sie an die Manöver, die Sie mit der neuen Ikarus schon bewältigt haben, wenn Sie uns dort hindurchmanövrieren.«

»Aye, Sir!«, bestätigte der Droid und ließ damit keinen Zweifel aufkommen, dass er Sentenzas Anspielung auf die intelligente Steuerung verstanden hatte.

Auf dem Hauptschirm huschten die Felsbrocken gefährlich nahe heran. Thorpa duckte sich instinktiv, als einer der Asteroiden mit der Ikarus zu kollidieren schien, doch nachdem der Pentakka feststellte, dass er der Täuschung der Bildschirmvergrößerung aufgesessen war, schaute er peinlich berührt in die Runde. Aber niemand hatte seine Gesten mitbekommen.

Trooid brachte den Kreuzer mit Vollschub in das Feld hinein. Selbst für Sentenzas Geschmack waren sie viel zu schnell. Er traute dem Droiden eine Menge zu, aber auch er würde irgendwann danebenliegen und musste sich physikalischen Gesetzen beugen. Bei der Geschwindigkeit war es nur eine Frage der Zeit, bis sie mit einem Brocken zusammenstießen. Trooid behielt unbeirrbar das Tempo bei. Er überließ sie der intelligenten Steuerung der Ikarus, die bereits zweimal ihr Können unter Beweis gestellt hatte. Das Schiff schützte sich quasi selbst.

Dennoch würde die Steuerung nicht allen Asteroiden ausweichen können, zumindest nicht den Kleinstsplittern, die zwischen den großen Brocken umherschwirrten wie ein Schwarm lästiger Insekten.

»Schutzschilde!«, befahl Sentenza.

Sonja bestätigte nickend und sofort leuchtete eine entsprechende schematische Darstellung auf den taktischen Displays auf. Die Anweisung kam keine Sekunde zu früh. Kurz darauf wurden erste Treffer von faust- bis fußballgroßen Trümmerstücken angezeigt. Die Legierung der Außenhülle des Schiffs hätte die meisten mühelos abprallen lassen, doch einem Dauerbeschuss würde auch sie irgendwann nachgeben.

Gebannt verfolgte Roderick Sentenza die Route der Ikarus auf der Kursdarstellung, blickte hin und wieder auf zum Hauptschirm und nickte anerkennend bei den gekonnten Ausweichmanövern. Er musste unbedingt nachher mit Trooid darüber sprechen, welche Flugkorrekturen der Droid und welche das Schiff selbst vorgenommen hatte.

»Ziel müsste gleich in Sichtweite sein«, sagte Weenderveen. »Wenn uns nicht vorher einer dieser Klumpen pulverisiert.«

»Vertrauen Sie unserem Piloten, Darius«, meinte Sonja. »Immerhin haben Sie ihn gebaut.«

»Ebendas beunruhigt mich«, erwiderte Weenderveen, allerdings nicht ohne die Mundwinkel zu einem breiten Grinsen zu verziehen. Trooid konnte dies nicht sehen und gab auch mit keiner Geste zu verstehen, ob der Scherz seines Schöpfers ihn beleidigt hatte oder nicht.

Die Darstellung auf dem Hauptschirm wurde vergrößert. Zwischen den dahintreibenden Asteroiden erkannte Roderick Sentenza etwas Metallisches, das sich deutlich von den Felsbrocken abhob. Das Objekt wurde bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit rasch größer und füllte nach wenigen Augenblicken den gesamten Schirm aus.

»Eigenartige Form für eine Fluchtkapsel«, sinnierte Sonja.

Sie sahen auf ein sternförmiges Objekt mit einem einzigen Nottriebwerk. Aussichtsluken oder eine Frontsichtscheibe waren nicht zu erkennen. Ebenso ungewöhnlich wie die Form war auch der Anstrich. Die Rettungskapsel glänzte in einem leuchtenden Gold. Trotz ihres Raumflugs, der unweigerlich seine Spuren am Material der Außenhaut hinterlassen hatte, schien die Farbe kaum stumpf geworden zu sein, geradezu als leuchte das sternförmige Design von innen heraus.

»Kann es sein, dass da jemand Wert auf einen strahlenden Abgang gelegt hat?«, wunderte sich Darius Weenderveen.

»Eher auf Imagepflege«, pflichtete Sonja bei. »Ich möchte nicht wissen, wie das Mutterschiff aussieht.«

»Immer noch keinen Kontakt?«, fragte Sentenza dazwischen.

»Negativ«, gab Weenderveen zurück.

»Wir sind in drei Minuten in Andockreichweite«, teilte Trooid mit. »Soll ich das Manöver einleiten?«

»Wir holen die Kapsel mit dem Traktorstrahl in Hangar eins herein. Was sagen die Sensoren?«

»Ein Lebenszeichen wird angezeigt«, verkündete Thorpa. »Humanoid mit schwachem Puls. Keine Kontamination der Außenhülle. Wir können die Kapsel gefahrlos bergen.«

»Manöver nach eigenem Ermessen, Trooid. Sonja und Thorpa, mit mir in den Frachtraum. Weenderveen, zur Krankenstation. Sie behalten dort unsere beiden Patienten im Auge und schicken den Doc ebenfalls zum Hangar.«

Die anderen bestätigten kurz. Danach verließen sie die Brücke. Als sie den Hangar erreichten, gab es noch keine Freigabe zum Betreten. Soeben wurde die Kapsel mit dem Fangstrahl hereinbefördert. Erst als der Druckausgleich wiederhergestellt und Frischluft in den Hangarraum gepumpt worden war, ließen sich die Schotten öffnen.

Sentenza schritt voran. Ihm folgten Sonja und Thorpa. Das Protokoll des Corps verlangte, dass zumindest einer bei der Bergung eines unidentifizierten Objekts bewaffnet war. Wie um Sentenza daran zu erinnern, zog Sonja den Strahler, den sie auf dem Weg an sich genommen hatte, und hielt ihn schussbereit in Richtung der Kapsel.

Das geborgene Fluchtvehikel parkte neben einem der beiden Beiboote der Ikarus. Die sternförmige Kapsel maß vielleicht drei Meter im Durchmesser. Aber niemand machte Anstalten, das Fahrzeug zu verlassen. Seltsam … Sentenza beschlich ein ungutes Gefühl, als er das sternförmige Objekt betrachtete. Er wusste nicht, woher die Nervosität kam. Möglicherweise war es eine Spur innerer Eingebung und etwas von angeborenem Instinkt, der ihn am liebsten das Ding wieder in den Weltraum hinausschleudern lassen wollte. Doch dafür war es jetzt zu spät.

Doktor Jovian Anande betrat den Hangar und prüfte nochmals mit einem medizinischen Handscanner die Außenhülle der Kapsel. Nach einer halben Minute schüttelte er leicht den Kopf und verkündete: »Keine bekannten Viren.«

»In Ordnung, an die Arbeit!«, befahl Sentenza.

Während Sonja weiterhin sicherte, öffneten Thorpa und der Captain die magnetische Versiegelung. Es gab an der Ausstiegsluke ein elektronisches Eingabefeld, das auf die Standardcodes des Freien Raumcorps ansprach. Zischend schob sich das Luk beiseite und gab den Blick auf den engen Innenraum der Kapsel frei. Sie bot gerade einmal Platz für eine Person und der Mann, der in dem unbequemen Schalensessel lag, hatte sich bei seiner Größe förmlich in den Raum zwängen müssen.

 

Anande bugsierte die Antigravtrage zur Öffnung, während Sentenza und Thorpa den Mann aus dem Sitz hievten und anschließend behutsam auf die Schwebe legten. Sonja steckte den Laser weg, da keine unmittelbare Gefahr drohte.

Der Fremde lag wie schlafend da, doch sein recht junges Gesicht war zu einer hässlichen Grimasse verzerrt, als wäre ihm vor seiner Bewusstlosigkeit etwas Schreckliches zugestoßen. Er trug eine weite, graue Robe, die ihm bis zu den Knien reichte, dazu gleichfarbige Stoffhosen und leichte Halbstiefel. Seine Haut war bleich wie bei jemandem, der schon lange kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte. Der Schädel des Mannes war kahl rasiert.

»Was fehlt ihm?«, fragte Sentenza, als Anande mit dem medizinischen Scanner die Vitalfunktionen des Bewusstlosen untersuchte.

»Sauerstoffmangel und traumatische Zustände«, sagte der Doktor. »Die Lebenserhaltung in der Kapsel konnte die Luft nicht mehr regenerieren. Offenbar ist das Fluchtfahrzeug nur für ein paar Stunden Flug ausgelegt – und diese Zeit ist überschritten worden.«

»Grundgütiges Raumcorps!«, fluchte Sonja. »Wer konstruiert solche Rettungskapseln? Die müssen doch damit rechnen, dass man manchmal Tage oder sogar Wochen im freien Raum treibt, ehe man gerettet werden kann.«

»Wenn überhaupt«, gab Sentenza zu denken. »Eine Rettungskapsel zu finden, gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Aufgrund ihrer Größe verfügen sie oft nicht über leistungsstarke Sender, um Rettungsschiffe über Lichtjahre hinweg zu erreichen. Mich wundert, dass diese Kapsel mit einem Hypersender ausgestattet ist.«

»Umso erstaunlicher ist, dass man den Flüchtigen nur eine kurze Lebensspanne einräumt«, fügte Thorpa hinzu und raschelte erregt mit seinen armartigen Astgeflechten. »Jetzt bin auch ich gespannt, wie das Mutterschiff aussieht.«

Anande hantierte mit der Fernsteuerung der Schwebeliege und ließ diese anfahren. Bei dem leichten Ruck bewegte sich der Bewusstlose plötzlich. Er wurde nicht wach, schlug aber um sich und murmelte kaum verständliche Worte, während Speichel aus seinen Mundwinkeln troff.

Sentenza bedeutete Anande, die Trage anzuhalten. Dann beugte er sich dicht über die Lippen des Patienten und versuchte, etwas von dem traumatischen Gebrabbel zu verstehen.

Doch der Fremde stieß nur noch ein einziges Wort aus, ehe er erneut in die Bewusstlosigkeit abdriftete. Dieses aber war auch für die anderen deutlich genug zu verstehen.

»Zuflucht«, sagte er und sank kraftlos in sich zusammen.


Die Luft war stickig geworden, schmeckte verbraucht. Gleichzeitig war die Temperatur im Tempelraum um einige Grad angestiegen. Beides sichere Anzeichen dafür, dass die Lebenserhaltung in dem Bereich versagte. Die Wärme zeigte Nova jedoch auch, dass nur in ihrem Bereich die technischen Einrichtungen versagten. Wären die Hauptmaschinen ausgefallen, hätte die Temperatur langsam, aber sicher abfallen müssen.

Nova beugte sich über den immer noch ohnmächtigen Akolythen. Er hatte sich beim Sturz den Kopf an einer Kante des Schreins aufgeschlagen und blutete heftig aus einer unschönen Wunde. Die Suchenden hatten sich kleine Stoffbahnen aus ihren grauen Gewändern gerissen und diese als Ersatzverband um Prosperos Stirn gebunden. Nova glaubte nicht, dass sie die Blutung damit gestoppt hatten, denn teilweise schimmerte es schon rot durch den Stoff hindurch. Der Akolyth musste schnellstmöglich zur Medostation gebracht werden. Vermutlich hatte er auch eine starke Gehirnerschütterung.

»Er wird schon wieder.«

Nova wandte den Blick und sah direkt in die Augen des Mannes, der sich als Erster den Anordnungen Prosperos widersetzt hatte und zur Tür gestürmt war. Jener Mann, den Nova heute das erste Mal in ihrer Gebetsgruppe gesehen hatte und dessen Namen sie nicht kannte.

»Sagst du das, um dich selbst zu beruhigen?«, fragte sie und gebrauchte die in der Gemeinde übliche Vertraulichkeit zwischen den Jüngern.

Der Mann zog die Brauen hoch. »So schlimm sieht es nicht aus. Nur eine Platzwunde.«

»Es ist mehr als eine Platzwunde«, widersprach Nova und fügte mit schärferem Ton als gewollt hinzu: »Das weißt du!«

Beunruhigt sah der Mann über seine Schulter zurück. Er entspannte sich sichtlich, als er keinen der anderen Suchenden in der Nähe gewahrte. Einige waren stur auf ihren Gebetsplätzen sitzen geblieben, während der Rest an dem Portal stand und versuchte, das Schott zu öffnen. Ohne Energie ein hoffnungsloses Unterfangen.

»Ich kann dir nichts vormachen, was?«, sagte der Mann geradeheraus. Im schwachen Schein der Glimmerstäbe, die über eine autonome Energieversorgung verfügten, wirkte sein Gesicht wie in Stein gemeißelt. Wie alle Suchenden war er barhäuptig. Erst den Adepten war es gestattet, wieder das Haar wachsen zu lassen. In seinen grauen Augen lag ein Ausdruck von Zuversicht. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Nova ihn als attraktiv bezeichnet, doch in ihrer jetzigen Situation war er nur ein Mitleidender.

»Ich wollte nur keine Panik verursachen«, sagte er.

Nova nickte. Das war das, was sie jetzt am wenigsten gebrauchen konnten. Sie mussten warten, bis jemand von außen das Portal gewaltsam öffnete oder die Energie in diesem Sektor der Zuflucht wiederhergestellt werden konnte.

»Mein Name ist übrigens Reno«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

Nova ergriff sie und nannte ihren Namen. Seine Finger fühlten sich seltsam weich an, als hätte er noch nie in seinem Leben schwere körperliche Arbeit verrichtet. Aber das war kein Wunder. Die Gemeinschaft nahm jeden auf, der bereit war, Hab und Gut aufzugeben und sein Leben in den Dienst des Erlösers zu stellen.

»Ich habe dich vorhin beobachtet«, gestand Reno ihr. »Du hast dir gewiss Gedanken über unsere Situation gemacht. Was, glaubst du, ist geschehen?«

Nova hob die Schultern. Sie sah zu Prospero hinunter, den sie auf die Stufen vor den Schrein gebettet hatte. Er lag da wie tot. Sein Brustkorb bewegte sich kaum, doch er atmete noch.

»Ich weiß nicht. Ein Energieausfall …«

Reno machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein«, unterbrach er sie, und seine Stimme nahm einen leisen, fast verschwörerischen Tonfall an, »da muss mehr passiert sein. Bei einem Energieabfall in einem Sektor wird kein Alarm ausgelöst. Wir wissen aber, dass vorhin noch die Sirenen zu hören waren. Ich denke, wir haben Schaden erlitten und einige Bereiche sind jetzt ohne Energie und können nicht reaktiviert werden.«

»Sicherlich wird man den Schaden bereits reparieren«, mutmaßte Nova und schickte sich an, den provisorischen Verband von der Stirn des Akolythen zu wickeln, doch ehe sie die Bewegung vollenden konnte, legte sich Renos Hand auf ihren Arm. Sie zuckte zusammen.

»Das glaube ich nicht. Die Zuflucht ist nicht für große Reparaturen ausgestattet. Und hast du dich nicht gefragt, warum sie noch kein Loch in das Schott geschnitten haben, um uns hier herauszuholen? Die müssen doch oben schon mitbekommen haben, dass uns hier langsam, aber sicher die Luft ausgeht. Stattdessen kümmert sich niemand um uns.«

Nova blickte den anderen verständnislos an. Was seine Worte zum Ausdruck bringen wollten, war ungeheuerlich. Für einen Moment rotierten ihre Gedanken um einen nicht fassbaren Punkt, der sich mit rasender Geschwindigkeit von ihr entfernte und sie in einen Abgrund zu reißen drohte. Erst als sie Renos Hände auf ihren Schultern spürte und den eindringlichen Klang seiner sonoren Stimme hörte, fand sie in die Realität zurück. Der Schweiß perlte auf ihrer Stirn und sie merkte, wie heiße Schauer ihren Körper erfassten, die sie von innen heraus scheinbar verbrennen wollten.

»Das … kann nicht sein«, sagte sie lahm, obwohl sie selbst schon darüber nachgedacht hatte, warum ihnen niemand zu Hilfe kam. »Der Erlöser würde nicht zulassen, dass den Suchenden etwas zustößt.«

»Der Erlöser«, erwiderte Reno, »ist fort.« Er deutete auf das erloschene Hologramm.

Nova schluckte. Ihr Blick wanderte hinüber zu den anderen Suchenden. Sie atmete ein paarmal tief durch, doch diesmal halfen ihr die Übungen nicht, sich zu beruhigen. Ihre Gedanken kreisten um die unfassbare Vorstellung, dass Reno mit seiner Behauptung recht behielt und der Erlöser sie tatsächlich verlassen hatte.

»NEIN!«

Ihr Aufschrei ließ die anderen Suchenden herumfahren. Selbst Reno zuckte erschrocken zurück. Ein Gefühl der Unsicherheit stahl sich auf seine Züge. Er hatte sich weit hinausgelehnt mit seinen Behauptungen. Auf Gotteslästerung stand im Allgemeinen schwere Bestrafung – und nichts anderes hatte Reno eben getan, als er die Macht des Erlösers infrage gestellt hatte.

Als ihrem Schrei nichts weiter folgte, beruhigten sich die anderen wieder. Einige untersuchten weiter das Portal, die Übrigen zogen sich aus dem Gebetskreis an die Wände zurück und sanken in sich zusammen wie ein Häufchen Elend. Sie mussten längst gemerkt haben, dass die Luft im Tempelraum knapp wurde.

»Oberstes Gebot bei den Gottesdiensten und Gebetsstunden?«, raunte Reno Nova zu. Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt und sie hatte das Gefühl, als würden seine Lippen jeden Augenblick ihr Ohr berühren.

»Keine Störung während der Riten«, zitierte Nova aus dem Rashett, der Heiligen Schrift der Gemeinde.

»Wie lange würde der Gebetszyklus noch dauern?«

Nova zuckte die Achseln. »Eine Stunde noch.«

»Eher wird niemand einen Versuch unternehmen, hier einzudringen«, behauptete Reno. »Und mehr noch. Absatz neun untersagt den gewaltsamen Zutritt zu einem Tempelraum, solange sich noch Jünger in ihm befinden.«

»Keine Gewalt …«, echote Nova und starrte gedankenverloren vor sich hin. Sie rückte von dem bewusstlosen Prospero ab und lehnte mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Schreins – ein Sakrileg ohnegleichen, doch niemand versuchte, sie deswegen zu maßregeln.

»Wir müssen selbst einen Weg hinaus finden«, sagte Reno.

Nova schüttelte kaum merklich den Kopf. Ihr Weltbild zerbröselte mit jeder verstreichenden Sekunde.

Sie schloss die Augen, presste sich die Hände gegen die Lider, als könne sie dadurch die gerade gewonnene Erkenntnis verleugnen, doch auf ihren Netzhäuten glitzerten Tausende von irrlichternden Funken, die ihr den Verstand aus dem Hirn zu fressen schienen. Die Übelkeit spürte sie schon nicht mehr. Nur noch das Rotieren, den Sog, der sie hinab in die Tiefe riss.


Warum mussten sich Raumschiffskapitäne alles zweimal erzählen lassen? Ähnlich verhielt es sich mit Polizisten, die einen wichtigen Zeugen vernehmen wollten, der gerade erst auf die Intensivstation eingeliefert worden war. Es war immer die gleiche Geschichte.

»Ich muss den Mann sofort sprechen!«

»Völlig ausgeschlossen.«

»Hören Sie, es ist wirklich wichtig.«

»Und wenn das Universum in Stücke geschossen wird, Sie sprechen jetzt nicht mit ihm.«

»Doktor!«

»Sie haben mich gehört. Geben Sie ihm eine Stunde. Eine Stunde!«

Jovian Anande schüttelte ein wenig genervt den Kopf, als sein Blick zu dem Chrono auf seinem Schreibtisch wanderte. Er ging jede Wette ein, dass Sentenza in der Hinsicht nicht anders war als all die Kapitäne und Polizisten, die der Doktor entweder persönlich kennengelernt oder von denen er gehört hatte. Auf die Minute pünktlich mit Verstreichen der Stunde würde er wieder auf der Matte stehen. Anande seufzte, erhob sich vom Schreibtisch und ging zum Hauptbehandlungsraum. Von den zehn Intensivmedostationen war nur eine belegt. Anande hatte die anderen beiden Patienten in das Zimmer für Leichtverletzte gebracht.

Eine Zeit lang beobachtete er konzentriert die Anzeigen des medizinischen Scanners, der an der Seite des breiten Bettes angebracht war. Die Lebensfunktionen des Fremden hatten sich stabilisiert. Anfangs hatte es nicht so ausgesehen, als würde er den Tag überstehen.

Anande hörte die Schritte und grinste.

Er kannte den Captain. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Ich habe Sie schon erwartet, Sir.«

 

»Ach?«, machte Sentenza und gesellte sich an die Seite des Arztes, den Blick auf den Patienten gerichtet. »Ich wusste gar nicht, dass Sie über hellseherische Fähigkeiten verfügen, Doktor.«

»Machen Sie sich nur lustig über mich.«

Der Captain drehte den Kopf in Anandes Richtung und grinste ebenfalls. »Na schön, wie sieht er aus?«

»Sein Zustand ist stabil, aber er wird noch einige Tage Ruhe brauchen. Ob sein Gehirn Schaden genommen hat, werde ich erst auf Vortex Outpost feststellen können.«

»Das muss warten«, sagte Sentenza.

Anande zog die Stirn kraus. »Wie bitte? Der Mann hat bei versagender Lebenserhaltung mehrere Stunden ausgehalten. Sein Hirn war mit Sauerstoff unterversorgt, er muss …«

Der Captain fiel ihm ins Wort. »Dort, wo er herkam, muss es ein Schiff geben, Doc. Die Fluchtkapsel ist von irgendwo gestartet und wir müssen erfahren, von wo. Wecken Sie ihn jetzt bitte auf. Ich verspreche Ihnen, mich kurz zu fassen.«

Anande murmelte eine unschöne Bemerkung, begab sich an die Tastatur neben dem Bett und tippte eine Zahlenkolonne ein. Automatische Injektoren näherten sich der Haut des Patienten und schossen mit Hochdruck Seren in seine Venen. Kurz darauf begannen seine Lider zu flattern. Die Arme zuckten unkontrolliert. Anande verabreichte ein weiteres Medikament.

»Fünf Minuten«, raunte er Sentenza zu.

Dieser nickte und trat näher an das Bett heran. Der Fremde blinzelte und schirmte seine Augen mit einer Hand ab. Er sah Sentenza an, doch sein Blick war leer, als schaue er durch den Captain hindurch.

»Ich bin Captain Roderick Sentenza vom Freien Raumcorps«, sprach Sentenza ihn an. »Können Sie mich verstehen?«

Der Blick des anderen klärte sich. Er blinzelte erneut, schluckte hart und deutete dann unter Anstrengung ein Nicken an.

»Wie ist Ihr Name?«

»G-gundolf«, stammelte der Patient.

»Und weiter?«

Der Mann zog die Brauen hoch. Dann erhellte sich seine Miene ein wenig und er schien erst jetzt zu begreifen, was Sentenza von ihm wissen wollte.

»Johannsson«, sagte er. »Ich heiße Gundolf Johannsson. Es ist lange her, dass ich diesen Namen benutzt habe.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sentenza verwundert.

»Da, wo ich herkomme, sind Nachnamen nicht gebräuchlich«, erklärte der andere.

»Womit wir zum Punkt kämen«, wechselte Roderick Sentenza das Thema. »Wir haben Sie aus einer defekten Rettungskapsel geholt. Von wo aus sind Sie gestartet? Ist ein Schiff in Not geraten? Wir sind ein Rettungsteam von Vortex Outpost und …«

»Nova!«, fuhr Johannsson dazwischen. »Großer …!«

Sein Oberkörper richtete sich auf. Schon machte er Anstalten, vom Bett zu springen, doch Anande war noch schneller als Sentenza. Der Arzt drückte den Patienten behutsam zurück auf das Lager und warf Sentenza einen drohenden Blick zu.

»Was haben Sie mit ihm gemacht?«

Sentenza wollte sich verteidigen, aber Johannsson kam ihm zuvor.

»Lassen Sie’s gut sein, Doktor. Es ist … meine Schuld.«

Sentenza seufzte, zog einen Stuhl an das Bett heran und setzte sich. Er bat den anderen, von vorn anzufangen. Johannsson fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Er fragte nach einem Glas Wasser, und erst als er das von Anande dargebotene Gefäß ganz geleert hatte, war er bereit zu reden.

»Ich komme … von der Zuflucht …«

Er machte eine Pause. Offenbar erwartete er, dass jeder in der Galaxis schon einmal von der Zuflucht gehört hatte, wobei er offenließ, ob es sich dabei um ein Schiff, eine Station oder gar eine Stätte auf irgendeinem Planeten oder Asteroiden handelte. Weder Sentenza noch Anande unterbrachen ihn.

»Ich bin Suchender, genau wie meine Gefährtin Nova. Es gab einen Unfall im Reaktor und Stromausfälle. Einige der Gebetsgruppen waren eingeschlossen. Richter Oberon wollte eine Rettungsmannschaft mobilisieren, um das Portal zum Tempelraum aufzubrechen, aber … aber …«

Johannssons Stimme versagte ihm den Dienst. Er sank schluchzend in dem Bett zusammen. Sentenza beugte sich vor und fasste ihn bei der Schulter, doch als er ihn leicht rüttelte, zog ihn Anande zurück.

»Das reicht jetzt«, meinte der Doktor, widmete sich wieder dem Medopult und versetzte dem Patienten eine Injektion, die ihn sofort einschlafen ließ.

»Doktor Anande, wir sind keinen Schritt weitergekommen«, schnappte Roderick. »Offenbar gibt es noch immer Leute auf dieser … Zuflucht, die unsere Hilfe benötigen!«

Anande lag eine bissige Bemerkung über die Behandlung seiner Patienten auf den Lippen, doch er schluckte sie herunter.

»Vielleicht kann ich ein wenig aushelfen.«

Sentenza und Anande zuckten gleichermaßen zusammen, als sie die Stimme hinter sich vernahmen. Sie hatten die anderen zwei Patienten ihrer letzten Bergung vollkommen vergessen. Nun stand einer der beiden vor ihnen.

Der Mann war noch relativ jung, besaß jedoch eine hohe Stirn und schütteres Haar. Er war Priester der Galaktischen Kirche zu St. Salusa. Zusammen mit seinem Schüler war er von der Ikarus-Crew aus dem Missionsschiff gerettet worden.

»Sie sollten lieber im Bett bleiben, Priester Lemore«, riet Anande und tippte wie zur Unterstreichung seiner Worte auf das Medoterminal neben dem Bett Johannssons. Er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, auf welche Weise er den anderen schlafen schicken wollte, sollte dieser sich nicht fügen.

»Nein, Anande«, wandte Sentenza ein. »Diesmal lassen Sie Ihren Patienten reden. – Also schön, Hochwürden. Was wissen Sie?«

Lemore kam nicht mehr dazu, seine Kenntnisse mit den anderen zu teilen. Ein Knacken im Interkom hinderte ihn daran. Sogleich schallte Trooids Stimme durch die Krankenstation.

»Brücke an Sentenza!«

Der Captain hastete zur Bordfunkanlage und hieb die Sprechtaste herunter. »Sprechen Sie, Trooid.«

»Unsere Instrumente orten einen starken Energieanstieg in Hangar eins. Sieht wie ein Reaktorbrand aus.«

»Unser Beiboot?«

»Negativ, Sir. Bei der Ferndiagnose ist alles in Ordnung.«

Die Fluchtkapsel, dachte Sentenza angestrengt. Laut fragte er: »Können wir da rein?«

»Die Strahlungsintensität ist bereits zu hoch, Captain.«

»Können wir den Hangar eindämmen?«

»Ich weiß nicht«, gab Trooid zurück. »Bei dieser Energiemenge nicht zu empfehlen.«

»Was haben Sie im Hangar gelagert?«, fragte Priester Lemore plötzlich.

Sentenza ertappte sich dabei, wie er einem Zivilisten antwortete, obwohl er das in solchen Situationen noch nie getan hatte.

»Ein Beiboot, Treibstoffvorräte und die Rettungskapsel von Mr. Johann…«

»Bei der Großen Stille!«, rief Lemore laut aus. »Sie müssen die Kapsel abstoßen. Schnell!

»Captain?« Trooid hatte mitgehört und wartete auf den Befehl.

»Tun Sie es, Arthur!« Er wandte sich zu Anande und dem Priester um. »Sie bleiben hier. Passen Sie auf ihn auf, Doc. Ich bin auf der Brücke.«

Sentenza verließ fast fluchtartig die Medostation und hastete den Gang entlang zum Aufzug. In der Kabine erwartete ihn bereits Weenderveen, der Dienst im Maschinenraum gehabt und seine Arbeit sofort unterbrochen hatte. Schweigend fuhren sie zwei Decks hoch, stürzten aus der Kabine und erreichten die Brücke.

»Lagebericht!«, befahl Sentenza, warf Sonja einen kurzen Blick zu und ließ sich in seinem Sessel nieder.

»Energieanstieg um einhundert Prozent«, verkündete Chief DiMersi. »Das Ding müsste den Werten nach mit fast Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, aber es treibt seelenruhig zwischen den Asteroiden umher.«

»Bringen Sie uns raus, Trooid.« In Sentenzas Stimme schwang Eile mit.

Der Droid bestätigte erst gar nicht. Seine Finger huschten über die Tastatur am Steuerblock. Auf dem Schirm war zu sehen, wie sich die Ikarus in Seitenlage begab und beschleunigte.

»Energieanstieg bei einhundertfünfzig Prozent«, las Sonja die Werte auf ihren Displays ab. »Das Ding hätte längst explodieren müssen.«

Die Asteroiden sausten auf dem Schirm nur so an ihnen vorbei. Trooid arbeitete fieberhaft an der Konsole. Doch trotz seiner Fähigkeiten und der intelligenten Steuerung der Ikarus II konnten sie nicht allen Gesteinsbrocken ausweichen. Ein ballgroßes Objekt kollidierte mit dem Schirm. Ein größeres Trümmerstück schob sich genau in die Flugbahn.