Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

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Übungen zur Selbstüberprüfung

Übung 3.1: Analysieren Sie den Verlauf der Miet- sowie Kauf- und Verkaufspreise für Eigentumswohnungen in Ihrem Landkreis bzw. in der kreisfreien Stadt, in der Sie wohnen, von 2000 bis 2020.

Machen Sie sich wie in Übung 2.2 die methodischen Probleme bei der Datengewinnung klar, analysieren Sie, wie Sie damit umgehen, und erläutern Sie die Resultate Ihrer Analyse.

Übung 3.2: Ermitteln Sie den aktuellen Krankenkassen-Beitragssatz der Techniker Krankenkasse. Wie wird die Aufteilung der Beiträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorgenommen?

Übung 3.3: Studieren und interpretieren Sie die Entwicklung der Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rente.

Übung 3.4: Was versteht man unter einer „Rürup-Rente“?

Aufgabe zur Selbstreflexion (ohne Lösungshinweise):

Wählen Sie fünf europäischen Staaten (inklusive Schweiz, Norwegen, Island, Ukraine, Belarus usw.) und ordnen Sie diese Länder zu zwei Zeitpunkten, die mindestens drei Jahre auseinanderliegen, nach Ihrem BIP per capita. Versuchen Sie, die veränderten Rangfolgen zu begründen.

Ermitteln Sie in einem zweiten Schritt, welche Arbeitszeit2 in den einzelnen Ländern hinter den BIP per capita-Werten stehen. Versuchen Sie wiederum diese Durchschnittswerte zu verstehen: Zahlreiche Wohlhabende oder Reiche würden vielleicht gern weniger, während Geringverdiener gern mehr arbeiten würden; der Druck während der Arbeitszeit ist unterschiedlich usw.

Wo würden Sie c.p. (z.B., Sie sprechen die Sprache oder Sie stellen sich vor diese zu beherrschen) gern leben? Begründen Sie Ihre Überlegungen.

4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit

Es besteht weitgehend Konsens in unserer Gesellschaft, dass Deutschlands Zukunft wesentlich vom Bildungsstand seiner Bürger abhängen wird. Obwohl wir uns offensichtlich einig sind, dass Bildung eine notwendige Voraussetzung für qualifizierte Arbeit darstellt, lassen wir zu, dass die öffentliche Diskussion im wesentlichen um administrative und organisatorische Fragen von Kitas, Gymnasien und die Hochschulbildung kreist.

Der Verlauf der Corona-Krise hat uns auch hier verdeutlicht, dass es zahlreiche Baustellen – von einem überalterten Lehrkörper an den öffentlichen Schulen und damit verbunden mangelnden Digitalkenntnissen eines Teils der Lehrerschaft – bis hin zur Erstellung von Konzepten für die zukünftige Ausbildung der Kinder und Jugendlichen gibt. Die wichtigste Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft nach oder mit Corona steht, ist die Wiederaufnahme eines Schulbetriebes, der diesen Namen verdient. Dies kann und wird nicht vom Staat allein gewährleistet werden können, sondern es erfordert den Einsatz der viel beschworenen Zivilgesellschaft und das sind in diesem Fall nicht nur die Eltern der betroffenen Kinder.

Ich habe bereits an mehreren Stellen angedeutet, dass Finanzkennzahlen allein einen unzureichenden Eindruck von der Leistungsfähigkeit eines gesellschaftlichen Teilsystems vermitteln. Dann hätten die USA vermutlich auch das beste Gesundheitssystem der Welt und die Bundeswehr wäre eine der stärksten Armeen der Welt. So wie der ausschließliche Fokus auf die Staatsschulden eines Landes ohne Kenntnis der Unternehmens- und privaten Haushaltssschulden zwangsläufig verengt, müssen wir hier die Gesamtanstrengungen der Gesellschaft für Bildung, von denen nur ein Teil in das BIP eingeht, berücksichtigen. Nichtsdestotrotz ist es sinnvoll, uns einen ersten Zugang bezüglich der gegenwärtigen Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems über eine Analyse der Ausgaben für Bildung zu verschaffen. Hier steht Deutschland im Vergleich der entwickelten Länder relativ schlecht da: Die Gesamtausgaben für Bildung (also inklusive privater Bildungsträger und betrieblicher Weiterbildung) beliefen sich in den vergangenen Jahren auf ca. 9% des BIPs[44], wobei die Ausgaben der öffentlichen Haushalte davon in etwa die Hälfte betrugen.[45]

Die Zahlen einschlägiger Quellen bedürfen allerdings zumeist einer Erläuterung bzw. Präzisierung. So gibt das Statistische Bundesamt im Bildungsfinanzbericht 2019 mit ausführlichen Erläuterungen der methodischen Unterschiede für das Jahr 2016 alternativ die Summen von 164,4 Mrd. Euro als öffentliche Ausgaben laut Bildungsbudget und 129,1 Mrd. Euro als öffentliche Ausgaben laut Finanzstatistik an.

In Europa lag die Bandbreite der öffentlichen Ausgaben im Jahre 2015 zwischen 2,7% des BIPs Rumäniens und 7,1% für Schweden. Schweden, Sie erinnern sich, ging nicht nur einen Sonderweg in der Corona-Krise, es hat auch die höchste Lebensarbeitszeit in der EU (der deutsche Wert beträgt demzufolge 5,2 oder 4,1% des BIPs).

Auch weil wir wissen, dass die staatlichen Ausgaben für Bildung, die in Deutschland Ländersache sind1, nicht effizient sein können, kann Geld bzw. die staatlichen Ausgaben pro Bürger allein nicht der Maßstab für die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems sein. Wichtig zum Verständnis des Gesamtbildes sind somit weniger die Auswirkungen eines kompetitiven Förderalismus als die Beiträge der Familien, des privaten Bildungssektors sowie die Arbeitsmigration. Bezüglich letzterer geben fast alle entwickelten Länder kein gutes Bild ab, wenn man sich stellvertretend den Anteil ausländischer Ärzte in den OECD-Ländern anschaut. In Deutschland ist inzwischen jeder achte Arzt Ausländer (nach einem von dreißig im Jahre 1990); in der Schweiz sind es mehr als ein Drittel und Großbritannien war bereits vor der Ankündigung des Brexit auf ausländische Ärzte angewiesen. Woher diese kommen und welche Konsequenzen dies für die Entsenderländer hat, erschließt sich fast unmittelbar.[46]

Grundsätzlich sind Schul- und Hochschulsysteme denkbar, die ausschließlich privat betrieben werden (und die dabei gewisse staatliche Vorgaben erfüllen müssen und auch finanzielle staatliche Zuschüsse erhalten) und ebenso vollstaatliche Systeme. Praktisch gibt es diese Extrema in der uns zugänglichen Welt nicht: In China gibt es zwar die landeseinheitliche Hochschulaufnahmeprüfung Gaokao, an der z.B. im Jahre 2018 an zwei oder drei Tagen (abhängig von der Provinz) im Juni 9,75 Mio. Schüler in ganz China teilnahmen, wohl aber Privatschulen.[47] Der Anteil der Schüler in Privatschulen ist in der entwickelten Welt sehr unterschiedlich: tatsächlich stellen diese aber überall einen wichtigen Treiber dar, der die staatlichen Schulen zwingt, sich hinreichend „anzustrengen“, damit Menschen, die es sich leisten können, davon abgehalten werden, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. Das gesellschaftliche Hauptproblem ist, unabhängig von der Struktur des Bildungssektors, ein hinreichendes Maß an Gerechtigkeit (in Deutschland durch das Grundgesetz verbürgt) zu garantieren.

In Deutschland gibt und gab es nie dominante Universitäten wie Cambridge und Oxford in Großbritannien oder die historisch jüngeren École Nationale d’Administration (ENA) und die École Polytechnique als wichtigste Grandes Écoles in Frankreich. Auch wenn ein Doktortitel in Deutschland als „vergleichbare Währung“ oft noch Karriere und Einkommen befördert, war er, wie ein Abschluss einer „Eliteuniversität“, keineswegs notwendige Voraussetzung für Karrieren in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst. Dass der Absolvent (Joe Kaeser) einer mittelgroßen Fachhochschule (Regensburg) Chef des größten nationalen Industrieunternehmens (Siemens) werden würde, ist kulturell in China, Russland, Großbritannien, Frankreich und auch den USA kaum vorstellbar. Eine, wenn nicht die Stärke des deutschen Bildungssystems war es, dass man auf unterschiedlichen Wegen zu materiellem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung kommen konnte; sei es als Hauptschulabgänger, der sich über mehrere Etappen zum Handwerksmeister qualifizierte, sei es als Realschulabgänger, der Fachabteilungs- oder Behördenchef wurde oder als Abiturient, der 15 oder 20 Jahre nach dem Abitur Chefarzt wurde. Bildung war in Deutschland der klassische Weg zum sozialen Aufstieg. Eine wichtige Rolle haben hier im Kaiserreich übrigens die Arbeiterbildungsvereine gespielt. Zudem schrieben die berühmtesten deutschen Professoren in der Kosmos-Reihe populär verständlich und auch mehr als hundert Jahre später zumeist gut lesbare und bildende Abhandlungen zu Archäologie, Astronomie, Botanik, Geschichte, Zoologie, also zu praktisch allen Wissensgebieten ihrer Zeit. Eine hohe Volksbildung galt als ein Wert an sich.

4.1 Bildung im Lauf der Jahrzehnte: Der Weg zu Massenabitur und Massenuniversitäten

Während Mitte der 1960er Jahre nur etwa 300.000 Studenten und im Wintersemester 1970/71 bereits 422.000 Studierende an den westdeutschen Universitäten eingeschrieben waren, lag die Zahl der eingeschriebenen Studierenden an Fachhochschulen1 und Universitäten in Gesamtdeutschland im Jahr 2019 bei knapp 3 Millionen. Adjustiert um den Bevölkerungszuwachs durch die deutsche Wiedervereinigung hat sich die Studierendenzahl in Westdeutschland also innerhalb von etwa 55 Jahren verachtfacht. Dies war natürlich nur möglich, weil die Zahl der Abiturienten stieg. Von ca 10% eines Jahrgangs im Jahre 1970 über knapp 25% im Jahre 1992 stieg der Anteil der Abiturienten auf ca. 40% eines Jahrgangs; mit Fachhochschulreife bundesweit auf mehr als die Häfte. Dabei gibt es durchaus Unterschiede in den Ländern: Die niedrigste Abiturientenquote gab es im Jahre 2018 mit 32,1% Bayern, die höchste mit 54,8% in Hamburg. Der beste Notendurchschnitt wurde mit 2,16 in Thüringen erreicht und der schlechteste Wert mit 2,57 in Niedersachsen. Auch wenn die Unterschiede auf den ersten Blick gering erscheinen: Die Auswirkungen sind nicht nur im Individualfall gravierend. Im Sommersemester 2019 bewarben sich zum Beispiel 18.928 Studenten auf einen der 1.687 Studienplätze in Humanmedizin.2 Wichtigstes Auswahlkriterium für die Zulassung zum Studium war und ist die Abiturnote. Wenn Ihr ebenso intelligenter wie fleißiger Nachwuchs auf einem „strengen“ Gymnasium in Niedersachsen Abitur machen sollte, ist seine Chance, einen Studienplatz in Medizin zu „ergattern“, also eher gering.[48]

 

Nicht nur ist das Kurssystem in den 16 Ländern unterschiedlich, auch ist eine 1,0 in Hamburg und Thüringen offensichtlich einfacher zu bekommen als etwa in Bayern oder Hessen. Es waren schließlich wesentliche Eigenheiten unseres föderalen Bildungsystems in Verbindung mit der Datenschutz-Grundverordnung DSGVO, die in unseren Schulen während der Hochphasen der Corona-Krise im Frühjahr 2020 und erneut ab Beginn des Jahres 2021 die effektive Durchführung von Online-Unterricht spürbar behinderten. Ebenso wurde eine wirksame Unterstützung der Schulen durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen und den Rundfunk – aufgrund der Unmöglichkeit, bei den zersplitterten Lehrplänen wirksam zu unterstützen? – vermisst. In das Gesamtbild passt, dass die Möglichkeit, die Schulen auch an den Wochenenden zu öffnen, während eines vollen Pandemiejahres nicht einmal in Ansätzen diskutiert wurde.

Komplexe Lösungen werden oft mit dem Ziel, mehr Gerechtigkeit zu erreichen, begründet: Das deutsche Schulsystem ist aber weder gerecht noch kosteneffizient. Dass die Wenigen (wie z.B. die Schulbuchverlage und die Kultusbürokratie), die tatsächlich von der föderalen Struktur des deutschen Bildungssystems profitieren, eine wirklich starke Lobby darstellen, ist kaum vorstellbar: Es fehlt schlicht der Mut zu einfacheren Lösungen.

Bildungspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik. Tatsache ist, dass Mädchen statistisch mit der modernen Lern- und Studienwelt besser klarkommen als Jungen; das ist in Deutschland das gleiche wie in China oder auch im Iran. Bis zum Geburtsjahrgang 1972 erreichten mehr Männer als Frauen in Deutschland das Abitur, seitdem liegen die Frauen leicht vorn. Diese Entwicklung war politisch gewollt, korrespondierte also seit Mitte der 1960er Jahre zu den dominierenden sozialen Werten bzw. präziser dem angestrebten Wertewandel.

Bedenklich oder verwerflich, je nach Perspektive, ist aber, dass im deutschen Schulsystem weder das Gebot der Vergleichbarkeit der Abschlüsse noch der gerechte Zugang zu Ressourcen gewährleistet ist. Damit ist übrigens nicht der soziale Bias gemeint, dass Kinder studierter Eltern einen Vorteil gegenüber Kindern aus euphemistisch sogenannten bildungsfernernen Schichten haben und dass die Verkäuferin indirekt das Studium des Akademikernachwuchses mitfinanziert. So vernünftig die Öffnung des Abiturs ab den 1960er Jahren war, mit dem Ziel, mehr Kindern aus „Nichteliten“ Zugang zu einer Hochschulbildung zu verschaffen, so fatal wirkte sich dies langfristig auf die eigentliche Abiturqualität aus. Als logische Konsequenz wirkte der massenhafte Zustrom von neuen Studenten bei unzureichend angepasster materieller Ausstattung der Hochschulen auf die Qualität der Hochschul(aus)bildung. Praktisch beobachten wir im langfristigen Verlauf, dass das Abiturniveau seit Jahren sinkt und dass diese Aussage ebenso für zahlreiche Studien an den deutschen Universitäten gilt.

Dies ist bis auf Ausnahmen kein Versagen der Lehrer- oder Professorenschaft, sondern ein strukturelles und ebenso inhaltliches Problem. Während es in den Ländern kaum ein echtes Abiturkerncurriculum gibt und insbesondere das Deutsch-Abitur bis zur Beliebigkeit verkommen ist, gilt „Statt einer Einigung auf bestimmte Werke oder Werkauszüge von Lessing, Goethe, Heine, Ringelnatz, Brecht, Hesse oder Zeh wird rein formal als Ziel ausgegeben, sich mit literarischen Texten auseinandersetzen zu können.“ (Brodkorb und Koch, S. 62), wurde an den Hochschulen im Zuge des Bologna-Prozesses seit 1999 europaweit vereinheitlicht, was z.T. nicht mehr zu vereinheitlichen war. Praktisch bedeutet dies in beiden Fällen vielfach ein Rennen zu den niedrigsten Standards.

Mit den steigenden Abiturientenzahlen musste notwendigerweise das Niveau des Abiturs sinken. Dass sich das Gesamtbild nicht noch schlechter darstellt, ist zahlreichen motivierten und oft unter schwierigen Bedingungen arbeitenden qualifizierten Lehrern und Professoren zu danken.

Literaturtipp:

Der langjährige Kultusminister Mecklenburg-Vorpommererns Mathias Brodkorb und die Rostocker Universitätsprofessorin Katja Koch haben zu diesem Thema im Frühjahr 2020 die Streitschrift „Der Abiturbetrug“ im zu Klampen Verlag veröffentlicht. Der interessierte Leser findet hier nicht nur viel Deskriptives zur Tätigkeit der Kultusministerkonferenz, sondern ebenso „harte“ Vorschläge, mit dem bekannten Bildungsdilemma umzugehen.

Brodkorb und Koch plädieren für weniger Abiturienten und einen Bildungskanon bzw. ein weitgehend bundeseinheitliches Abitur. Unabhängig davon, ob man die Vorschläge der Autoren teilt, ist das Erscheinen des Buches sehr zu begrüßen, als hier eine Diskussionsgrundlage für die Entwicklung der Bildungspolitik dargestellt wird und beiden Autoren eine Grundvertrautheit mit der Materie nicht abzusprechen ist.

Weil hohe Studierquoten politisch gewollt waren und zudem Studienabbüche nicht erwünscht sind, mussten nun notwendigerweise auch die Studienniveaus sinken.3

Wer jemals eine „echte deutsche Massenuniversität“ von innen gesehen hat, weiß, dass es es dort selbst Vorlesungen mit mehr als 1.000 Studenten gab, wobei Studenten auf den Treppen saßen und der Professor per Video in die Nebenräume des Hauptvorlesungssaals für die dort sitzenden Studenten an die Wand gestreamt wurde. Es ist sehr zu hoffen und, etwas Willen vorausgesetzt, möglich, dass die Corona-Krise dieser Perversion des Bildungsgedankens ein Ende bereitet. [49] Hier handelt es sich nach einem bösen Wort des 1989 verstorbenen Verhaltensforschers Konrad Lorenz um Nutzmenschhaltung.

4.2 Entwertung der Nichthochschulbildung

Gesellschaftlich bedeutender als der Qualitätsrückgang im Abitur und an den Hochschulen ist, dass die Schulformen Realschule und Hauptschule mit dem Trend zum Abitur sozial entwertet wurden. Der ehemalige Kulturstaatsminister im Bundeskanzleramt von Kanzler Gerhard Schröder, Julian Nida-Rümelin, verfasste dazu im Jahre 2014 ein Buch unter dem Titel „Der Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung“, das wohlwollend besprochen wurde, aber wirkungslos blieb. Karrieren wie die von Horst Seehofer vom Realabschluss zum Ministerpräsidenten Bayerns und Bundesminister werden wir vermutlich kaum mehr erleben. Dabei sind wir bereits seit mehr als einem Jahrzehnt an einem Punkt angelangt, dass ein Universitätsstudium nicht fast automatisch ein gutes Lebensgehalt garantiert, sondern dass z.B. ein erfolgreich ausgeübter Handwerksberuf oft zu einem deutlich besseren Lebenseinkommen führt.

Lax gesagt gibt es heute also viel zu viele durchschnittliche Massenakademiker vor allem der besonders nachgefragten Geisteswissenschaften für die begrenzt verfügbaren gutdotierten Stellen im öffentlichen Dienst und in den Unternehmensadministrationen. Warum sich nicht mehr junge Frauen und Männer bei offensichtlich vorhandenen guten Verdienstmöglichkeiten und dankbaren Kunden in einer alternden Gesellschaft für handwerkliche Berufe entscheiden, kann vermutlich nur mit einer „gesellschaftlichen Abneigung“ gegen körperliche Arbeit, bei der man sich auch noch die Finger schmutzig machen kann, erklärt werden. Die bereits erwähnten surrealen Diskussionen über ein paar Zehntausend „Erntehelfer“ aus Osteuropa, ohne die im Jahre 2020 eine vernünftige Spargel- und Erdbeerernte in Deutschland (bei explodierender Arbeitslosigkeit!) nicht möglich gewesen sein soll, weisen in diese Richtung.

Für Vermutungen, warum sich junge Menschen all dies antun, sei in Analogie auf Hararis Ausführungen zur Frage, warum die Menschen vor ca. 12000 Jahren das gesündere und bessere Leben der Jäger und Sammler gegen das der Ackerbauern getauscht haben, verwiesen.[50]

4.3 Bildungspolitik und Ideologie

Im Jahre 2008 veröffentlichte der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie das Buch „Visible Learning (auf Deutsch in etwa „Sichtbare Lernprozesse“), das sich der wohl wichtigsten Frage der Bildungsforschung widmet: „Was ist guter Unterricht?“ Hattie wertete zunächst sämtliche ihm zur Verfügung stehenden englischsprachigen Studien zum Lernerfolg aus und untersuchte z.B. die Bedeutung von Hausaufgaben, Vokabellernen, der Unterstützung der Eltern, zum Sitzenbleiben und zum Förderunterricht. In seine Analyse gingen mehr als 50.000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern ein. Für die unterschiedlichen Unterrichtsmethoden und Lernbedingungen bestimmte er dann einen jeweiligen Erfolgsfaktor. Das Resultat ist nur auf den zweiten Blick verblüffend: Äußere Strukturen von Schule und Unterricht, wie staatliche versus private Organisation, die materielle Ausstattung und die Klassengröße sind, nach Hattie, was das Lernen betrifft, weitgehend unwichtig: Es kommt hauptsächlich auf den guten Lehrer an.[51]

Egal, ob Sie dies überzeugt oder nicht: Lesen Sie Tschingis Aitmatovs wundervolles Frühwerk „Der erste Lehrer“!

Das hat wiederum nichtfinanzielle Implikationen, die die Anerkennung des Lehrerberufs (im weltweiten Vergleich zählen die deutschen Lehrer zu den bestbezahlten) betreffen: Können Lehrer ihre Tätigkeit in einer Art und Weise ausführen, dass sie ihnen Freude und Genugtuung bereitet? Inwieweit können sie in die Erziehung der Kinder eingreifen, ohne das Primat der Familie zu verletzen? Wie werden sie auf der Universität bzw. Pädagogischen Hochschule auf ihren Beruf vorbereitet? Welche Anerkennung erhalten sie von der Gesellschaft für ihre Tätigkeit, und, und, und …?

Sie sehen wieder viele Fragen, die unterschiedlich beantwortet werden können, die aber in jedem Fall beantwortet werden müssen! Wir werden uns im Folgenden mit den Rahmenbedingungen von frühkindlicher BildungBildung, Schulbildung, Berufsausbildung und Hochschulbildung befassen.

4.4 Rahmenbedingungen für Bildung, Bildungseinrichtungen und Bildungsteilhabe

Wenn man die Bildungsberichte von 2014 und 2018 nebeneinanderlegt, die von der Kultusministerkonferenz und dem Bundesministrium für Bildung und Forschung herausgegeben wurden, so hat sich das Gesamtbild nur in Nuancen verändert.[52]

Das Problemverständnis der staatlich Verantwortlichen lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1 Der schrittweise Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in die Rentenphase sowie geringe Geburtenzahlen begrenzen die zukünftige Erwerbstätigkeit der (bisherigen) einheimischen Bevölkerung. Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung stieg bereits vor Ausbrechen der Flüchtlingskrise 2015 in den jüngeren Altersgruppen stark an.

2 Von den unter 6-jährigen hatte bereits im Jahr 2013 etwa ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Der Anteil der Kinder, die in einem erwerbslosen, armutsgefährdeten oder bildungsfernen Elternhaus – in einer Risikolage – aufwuchsen, verringerte sich vor der sogenannten Migrationskrise leicht auf immer noch stolze 30%. Die Anzahl der Bildungseinrichtungen nimmt insgesamt mit dem demografischen Wandel ab; die Sicherung eines wohnortnahen Bildungsangebots ist in Teilen Deutschlands bereits eine Herausforderung.

3 Die Zahl der unter 3-jährigen in der Kindertagesbetreuung und den höher qualifizierenden Bildungsgängen steigt. Problematisch in westdeutschen Großstädten bleibt ein ausreichendes und qualifiziertes Angebot seitens staatlicher und privater Anbieter. Alleinerziehende Haushalte (ca. 20% aller Haushalte laut 2018er Bericht) stehen hier vor besonderen Schwierigkeiten.

4 Die duale Ausbildung und der Hochschulbereich verzeichnen eine etwa gleich große Zahl an Anfängerinnen und Anfängern. Anders ausgedrückt: Immer mehr junge Leute studieren (dies geht Hand in Hand mit einer Akademisierung zahlreicher Berufe) zulasten einer Berufsausbildung. Von dieser Entwicklung sind nicht nur kleine Unternehmen im ländlichen Raum betroffen. Die Aussagen von Daimler-Chef Dieter Zetsche vom Sommer 2015, unter den Flüchtlingen gezielt Ausschau nach potenziellen Mitarbeitern zu halten[53], besagen, dass selbst Unternehmen wie Mercedes-Benz offensichtlich Probleme haben, qualifizierten Blue-Collar-Nachwuchs zu finden. Ob die Entwicklung hin zur Akademisierung zielführend für die deutsche Wirtschaft und damit Gesellschaft sein wird, muss zumindest teilweise bezweifelt werden. Eine gute Nachricht ist indes, dass sich immer mehr junge Menschen berufsbegleitend qualifizieren.

 

5 Ein oder das zentrale Problem aller Schulformen stellt ein bereits existierender oder absehbarer Mangel an qualifizierten Lehrern dar. Die Länder unternahmen vor Corona bereits teils abenteuerliche Versuche, sich Lehrer gegenseitig abzuwerben und diese Lücken mit Seiteneinsteigern zu füllen. Hier ist zu beachten, dass pädagogische Fähigkeiten, die erworben werden müssen, eine umso größere Rolle spielen, je jünger die Schüler sind. Anders ausgedrückt: Die Chance, dass ein ehemaliger Meister oder ein Maschinenbauingenieur ein guter Lehrer an einer Technischen Berufsschule wird, ist deutlich höher, als dass ein ehemaliger Universitätsassistent ein guter Mathematiklehrer in der Mittelstufe wird oder dass Germanisten erfolgreich Schulanfängern das ABC beibringen.

6 Es bleibt insgesamt weiterhin eine starke soziale Ungleichheit bei der Bildungsbeteiligung zu konstatieren: Problematisch für Deutschland wie für fast alle EU-Staaten ist die relative Undurchlässigkeit des Bildungssystems. Vereinfacht: Es sind zumeist die Kinder von Akademikern, die an Universitäten studieren.

Bemerkung:

Mit dieser Argumentation machen wir es uns allerdings wieder zu einfach: So zählen die Kinder vietnamesischer Kontraktarbeiter in der DDR heute zu den statistisch besten Abiturienten in Deutschland.[54] Ebenso sind die Kinder der in den 1990er Jahren zugewanderten Russlanddeutschen sowie die Kinder von Migranten aus dem Iran überdurchschnittlich gute Abiturienten.

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