Hygienearzt in zwei Gesellschaften

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Das Schönste



Das Leben ist schon das Schönste.



Mit all seinem Hol´s der Teufel



und Macht keinen Spaß-mehr und Wunderbar



und Glücklich-sein und Jeden Tag wieder neu.



Mit essen und schlafen und lieben und



wieder essen und trinken und arbeiten



und Erfolg haben und Misserfolg haben



und überhaupt.



Ich sage: Das Leben ist das Größte und Schönste.



Und wenn es dreimal so schwer wäre



und dafür dreimal so lang –



ich würde es leben.



Heinz Kahlau





Kapitel 3

Arzt in einer mecklenburgischen Kleinstadt

Demmin – eine kleine Stadtvorstellung



Demmin ist nicht sehr bekannt, darum will ich die Kleinstadt vorstellen. Wer von Berlin mit der Eisenbahn nach Stralsund fährt, kennt es als Eisenbahnstation nördlich von Neubrandenburg, zwischen Altentreptow und Grimmen. Befährt er mit dem Auto die B 96 nordwärts, müsste nördlich von Altentreptow, bei Burow, die Abzweigung nach schräg links ausgewiesen sein, die nach Demmin führt. Die Ostsee liegt circa 40 Kilometer entfernt. Demmin hatte 1960 etwa 17 000 Einwohner und war Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises, der ungefähr 730 Quadratkilometer umfasste und in dem 57 000 Einwohner lebten, die meisten von der Landwirtschaft.



Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt zu Pommern gezählt. Demmin war Garnisonstadt für Ulanen (leichte Lanzenreiter), denen die teilweise landwirtschaftlich nicht nutzbaren Wiesen entlang der Peene gute Übungsmöglichkeiten boten. Aus dieser Zeit blieb in der Stadt nach 1945 zwar kein Militär, aber eine Reitertradition zurück, was zu sehr guten Springreiterturnieren führte. In der DDR gehörte Demmin nach Auflösung der Länder (1952) zum agrarisch geprägten Bezirk Neubrandenburg. Die DDR war seit dieser Zeit in 14 Bezirke unterteilt. Jetzt zählt die Kreisstadt Demmin mit einem wesentlich vergrößerten zugehörigen Kreis zum Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Demmin hatte ein Krankenhaus, das die Grundversorgung der Patienten gewährleistete und einen guten Ruf genoss. Patienten mit spezielleren Diagnosen wurden von den Universitätskliniken Greifswald in guter Zusammenarbeit übernommen. Ebenfalls war eine Erweiterte Oberschule (EOS) am Ort. Die Stadt ist Treffpunkt der Flüsse Tollense, die von Süden (aus dem Tollensesee bei Neubrandenburg) und der Trebel, die aus Nordwesten kommt. Beide strömen hier in die Peene, die vorher den Kummerower See durchfließt. So kann man die Stadt nur nach Osten verlassen, ohne eine Flussbrücke zu passieren. Das trug 1945 zu ihrem Verhängnis bei.



Am 30. April 1945 erreichten sowjetische Truppen gleichzeitig mit Greifswald die Stadt Demmin. Greifswald wurde durch Oberst Petershagen entgegen den Befehlen der faschistischen Wehrmachtsführung kampflos und unbeschädigt übergeben, wofür die Einwohnerschaft lange sehr dankbar war. Auch in Demmin wurde versucht, die Stadt und Menschenleben auf gleiche Weise zu schonen. Aber unbelehrbare Fanatiker verhinderten das. Sie sprengten, als die Sowjetarmee bereits in der Stadt war, alle Brücken, einzelne Unbelehrbare schossen aus Gewehren und gerüchteweise versuchte die Apothekerfrau sogar noch, Sowjetsoldaten zu vergiften. Die saßen nun in der Stadt fest, wie in einer Falle. Daraufhin wurde Demmin den getäuschten und gereizten Truppen für drei Tage zur Plünderung freigegeben. Ich kenne das alles nur aus mündlichen Berichten, aber es muss entsetzlich zugegangen sein, mit Großbränden, vielen Toten und Grausamkeiten aller Art. Und das Misstrauen der sowjetischen Militärführung blieb wach, wie wir noch sehen werden.





Arzt in Demmin



Am 13. März 1961 begann ich meine Tätigkeit in der Inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses Demmin als Pflichtassistent. Damals durften Ärzte, die erst frisch vom Examen gekommen waren, im ersten Jahr nur unter Aufsicht erfahrener Berufskollegen arbeiten, was im Krankenhaus geschah. In die Arbeit der internistischen Abteilung fand ich mich rasch hinein und mein Studium erwies sich hier als sehr praxistauglich. Gearbeitet wurde täglich, so lange etwas zu tun war, meist über acht Stunden hinaus. Und schon nach einem Monat Arbeit, am 12. April 1961, stand mein erster eigener Bereitschaftsdienst an: notwendige Sofortmaßnahmen bei allen Patienten der gesamten Inneren Abteilung und der Kinderabteilung sowie Notaufnahmen und deren Erstversorgung. Das hieß im Krankenhaus schlafen, soweit und so lange das Telefon am Bett es zuließ. Für ernsthafte Probleme gab es eine zweite Bereitschaft, den sogenannten „Hintergrunddienst“, einen Oberarzt, den man zu Haue anrufen und um Rat fragen oder auch allenfalls bitten konnte, ins Krankenhaus zu kommen. Der Abend ließ sich ernst an. Es war nur ein Bett für Notaufnahmen frei. Nachmittags wurde es noch während der regulären Arbeitszeit mit einer Frau belegt, die einen schwersten Herzinfarkt hatte. Sie verschied – wie der Oberarzt schon vorhergesehen hatte und sie selbst es ahnte – trotz meines vollen Einsatzes nachts gegen 24 Uhr. Sofort danach kam als Notaufnahme ein Mann mit Magenblutung in ihr soeben frei gewordene Bett. Ihn konnte ich lebendig durchbringen und er hat später auch das Haus zunächst gesund verlassen.



So verbrachte ich jene Nacht, in der weltweit die Menschen an den Radios hingen, um zu hören, wie der erste Mensch im Kosmos die Erde umrundete: Juri Gagarin. Mein Bett blieb ziemlich unberührt. Und am nächsten Tag lief die normale Arbeit ganz selbstverständlich weiter. Diese Zusatzbelastung war etwa alle drei bis vier Tage angesagt. Schwangere und Ärzte über 60 Jahren waren von dieser Aufgabe freigestellt, was nicht dazu beitrug, Frauen bei jenen Kollegen beliebter zu machen, die dann noch mehr Nächte opfern mussten. Die mir vorgesetzte Stationsärztin sprach anfangs nicht über ihre vermutliche Schwangerschaft. Nur wunderten wir uns, warum ihr Ehemann – ebenfalls Arzt, aber nicht im Krankenhaus – ihre Nachtdienste übernahm, bis der Grund seiner Hilfe offenbar wurde.





Dr. Schwabe



Chefarzt und Leiter der Inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses Demmin war Dr. Schwabe. Er besaß eine außergewöhnliche naturwissenschaftliche Allgemeinbildung, von der jeder profitieren konnte. Seine Chemie-Kenntnisse wandte er auch zur Fleckenentfernung aus Textilien an und half mit Rat und Tat gern allen Mitarbeitern des Hauses. Vom Fotografieren und Entwickeln der Bilder verstand er mehr als die meisten. Am Ärzte-Stammtisch stellte er uns den Wankel-Motor anhand eines selbst gefertigten Pappmodells vor. Bei den wöchentlichen Chefvisiten durchmaß Dr. Schwabe alle internistischen Stationen, was ihn altersgemäß recht anstrengte und auch uns Jüngeren, die wir alle als „weiße Wolke“ mitlaufen mussten, etwas ermüdete. So gab es eine planmäßige Pause mit einer guten Tasse Kaffee und Erzählungen aus dem Leben unseres Chefs. Das war turbulent verlaufen. Als Landarzt in Ostpreußen hatte er viele Jahre unter schwierigsten Bedingungen gearbeitet. Einmal brachte eine Mutter ein Kind, das bei Diphtherie sehr nahe am Ersticken war. Sie begegnete ihm auf dem Treppenflur. Bis in die Praxisräume zurückzueilen fehlte die Zeit. Kurz entschlossen erledigte er den lebensrettenden Not-Schnitt unterhalb des Kehlkopfes auf dem Fensterbrett des Treppenabsatzes und die tief erschrockene Mutter konnte ihr Kind lebend und wieder atmend in die Arme nehmen.

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Dr. Schwabes Frau war Jüdin und die Nazis verlangten die Scheidung. Er widersetzte sich und wurde im KZ Sachsenhausen eingesperrt. Das war nicht seine letzte Gefangenschaft. Nach 1945 starb ihm die Frau eines sowjetischen Offiziers unter den Händen. Und wieder ging es ab nach Sachsenhausen. Das Misstrauen der sowjetischen Seite über die Zwischenfälle bei der versuchten kampflosen Übergabe Demmins lebte immer noch. Dr. Schwabe erzählte all das gelassen. Er hat Episoden aus seiner zweiten Inhaftierung berichtet, unter anderem dass er seinen Mithäftlingen die Ortskenntnis voraus hatte. Direkte Kritik an seiner Inhaftierung habe ich jedoch von ihm weder bei den Visitenpausen noch am Ärzte-Stammtisch gehört. Die Fakten sprachen für sich.





Eine besondere Erfahrung



Eines Tages zeigte sich im Röntgenbild des Brustkorbes eines Patienten ein unklarer Befund. Stationsarzt, Oberarzt und Chefarzt überlegten. Schwabe entschied: „Herr Loeff, gehen Sie mal damit zu Herrn Kollegen Lange, unserem Kreistuberkulosearzt im Hause.“ Ich wollte noch fragen, ob dieser mir noch unbekannte Kollege denn mehr sehen könne, aber „Sie werden schon sehen“, beschied mich der Chef.



Bei Dr. Lange angekommen, warf dieser einen Blick auf den Namen des Patienten und rief dann seiner Fürsorgerin zu: „Mal bitte alle Schirmbilder von Herrn … aus …, von Anfang an.“ Im Handumdrehen („Wenn das länger als 30 Sekunden dauert, kann ich ja hier gleich aufhören“, kommentierte er mir gegenüber dieses Tempo.) lagen, sortiert nach Jahrgängen, alle Mikrobilder des Brustkorbes dieses Patienten seit Einführung der Röntgenreihenuntersuchungen in der DDR auf dem Tisch. Und Herr Lange wertete am Lichtkasten für mich aus: „Das ist schon in den Jahren von … bis … zu sehen, im Jahr danach ist er zur Untersuchung nicht erschienen, dann wieder in den Jahren … und immer sieht dieser Befund ganz gleich aus. Das ist ein alter, eingekapselter Tb-Herd, inaktiv und hat jetzt nichts zu bedeuten, solange seine Widerstandskraft nicht extrem abnimmt. Schönen Gruß an Herrn Schwabe. Alles klar?“ – „Ja“ konnte ich nur laut staunen.





Lehrerin in Demmin



Meine Freundin hatte ihre Lehrertätigkeit im September 1960 an der Erweiterten Oberschule (EOS) begonnen, die damals den Namen Goethes trug, noch trägt und jetzt natürlich Gymnasium heißt. Hauptsächlich gab sie Latein, das im Lehrerkollegium und bei den Eltern noch den Ruf genoss, eine wichtige Grundlage für moderne romanische und auch andere Sprachen zu bilden. Ihr Hauptfach Französisch konnte sie dagegen kaum zur Geltung bringen. Zwar hatte eine Analyse der Universität Greifswald ergeben, dass nach der internationalen Verbreitung der Sprachen, dem politischen Gewicht Frankreichs und den Außenhandelsbeziehungen der DDR auf sieben Schüler, die Englisch lernen, drei kommen müssten, die Französisch können, aber wie das im Leben so ist: Aus dem Wichtigeren wird das Einzige und das Zweitwichtigste geht unter. Weder Eltern noch Pädagogen waren an Französisch interessiert. Der Zusammenbruch des französischen Kolonialreiches (Vietnam 1954, Algerien 1962) unterstrich die Abwendung von der einstigen Diplomatensprache, während Englisch durch die Macht der USA bis heute ungebrochen die große Weltsprache ist

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Das kollegiale Klima an der Erweiterten Goethe-Oberschule war gut. Es hatte nur einen Haken: die abendlichen pädagogischen Beratungen, deren Uhrzeiten sich oft nach Männern richteten. Wir hatten ein Theateranrecht auf Vorstellungen die monatlich einmal durch das Theater Greifswald in einer Schulaula stattfanden. Von den Veranstaltungen eines Jahres haben wir drei versäumt, weil ich Bereitschaftsdienste im Krankenhaus nicht verlegen konnte und fünf fielen Zusammenkünften des Pädagogischen Rates zum Opfer. Dagegen wurden bei den Terminen der pädagogischen Beratungen selbstverständlich die Fußballspiele im Fernsehen berücksichtigt. Die Anpassung an diese Situation kostete uns beide allerlei Nerven.





Die vergessene Verlobungsfeier



Meine Freundin und ich waren uns im Frühsommer 1961 einig: Wir wollten uns im Sommer verloben und zu Weihnachten heiraten. Damals ging gerade die Zeit zu Ende, dass ein junger Mann bei den Brauteltern „um die Hand der Tochter anhielt“. Das kam uns schon reichlich antiquiert vor, schließlich waren wir volljährig. Aber meine Schwiegereltern in spe waren mit dicken Formfehlern sicher nicht zu gewinnen und am familiären Einvernehmen lag uns schon. Die Lösung war einfach. Wir schrieben einen gemeinsamen Brief an meine Mutter und an die Eltern meiner Freundin und teilten unseren Entschluss mit. Das kam gut an, der Termin im Sommer 1961 wurde festgemacht und wir bereiteten uns auf einige Tage Urlaub vor, denn gefeiert sollte in Großräschen (bei Senftenberg/Lausitz) werden, dem Heimatort meiner Braut.



Meine Urlaubsvorbereitung war von besonderer Art. Ich musste etliche künftig für mich geplante Nacht-Bereitschaftsdienste vorziehen. So verbrachte ich vier oder sechs Nächte hintereinander im Krankenhaus und war pro Nacht mindestens vier Stunden auf den Beinen. Ich kannte dann fast alle Patienten aller internistischen Stationen genau, konnte sicher entscheiden und geriet fast in eine Art nächtlicher Arbeitseuphorie. Danach reisten wir gemeinsam nach Großräschen ab. Und nun kam der Hammer: Sicher war es eine schöne Feier, sicher hatten wir in der gesamten Familie viel Freude daran, sicher waren liebe Gäste anwesend. Nur: Ich weiß davon nichts! Ohne nennenswerten Alkoholgenuss habe ich für diesen Zeitraum von der Anreise bis zum Ende nach mehreren Tagen einen kompletten Filmriss.



Warum berichte ich das? Noch heute streiten Ärzteverbände, Arbeitsgerichte, Krankenhausträger, Juristen und Politiker – meist Menschen, die solchen Schlafentzug nie selbst erlebt haben – ob Nacht-Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit zählen, wie sie zu vergüten sind und wo das Geld dafür herkommen soll. Ich habe am eigenen Leibe erlebt, wie mehrere Tage Schlafdefizit wirken können. Zwar sind mir Behandlungsfehler nicht unterlaufen, aber ich wünsche niemanden, von einem Arzt behandelt zu werden, der hinterher derartige Gedächtnislücken hat. Verweise auf das ärztliche Berufsethos, die oft als Antwort auf ärztliche Forderungen kommen, sind zwar allgemein richtig, beheben aber keine Erschöpfungszustände. Die Gehälter der Ärzte ermöglichen ihnen sicher ein paar Tassen Bohnenkaffee zusätzlich, aber Gesundheitsschäden des Arztes verhindern sie so wenig wie Missgriffe am Patienten. „Rationalisierungsmaßnahmen“ im Krankenhaus, die selten mit Vernunft (ratio) aber viel mit Einsparungen zu tun haben, bringen kaum noch Nutzen für den Patienten, denn mit dem medizinischen Fortschritt steigen die diagnostischen Möglichkeiten und die Erwartungen an Sorgfalt, Wissen und Können des gesamten medizinischen Personals. Die zusätzlichen Beschäftigten für angemessene Ruhefristen der Nachtdiensthabenden und erträgliche Arbeitszeiten der Mitarbeiter aller medizinischen Berufe müssen einfach gefunden und natürlich auch adäquat bezahlt werden. Alles Andere ist unverantwortlich!





Frisch verlobt



Nun waren wir also verlobt und ich werde hier nicht mehr von meiner Freundin reden, sondern von Brunhilde, meiner ehemaligen Verlobten und seit dem 23.12.1961 meiner ersten, einzigen und immer noch Ehefrau.



Im Krankenhaus gratulierten mir nicht nur die Ärzte und Schwestern. Bei der nächsten Visite stand mir an einem Krankenbett die Stationsschwester ziemlich im Weg. Erst als ich mit dieser jungen Patientin fertig war, kam die Überraschung. Unter dem Beifall des Vierbettzimmers überreichte diese junge Frau mir im Namen der Patienten einen herrlichen Blumenstrauß, den sie hinter den Rücken der Stationsschwester gehalten hatte. Mein freudiger Dank machte sie glücklich. Nach der Visite gab mir die mitverschworene Stationsschwester Aufklärung. Ihr feines Gefühl hatte ihr längst verraten, dass sich diese junge Patientin in mich verknallt hatte. Ich selbst hatte das gar nicht bemerkt, denn Liebesgeschichten zwischen Arzt und Patient soll man generell vermeiden. Diese Patientin hatte sich auch in meiner Abwesenheit ausbedungen, mir die Blumen zu überreichen, was jede andere Patientin ja auch gekonnt hätte. Es war wohl ein wenig Abschied von ihrem flüchtigen Traum dabei und das auf eine hochanständige Art und Weise. Ihren Namen und ihr Gesicht habe ich vergessen, aber ich wünsche ihr noch heute, dass sie ihre große Liebe fürs Leben gefunden hat.



Ein paar Entscheidungen ergaben sich aus dem Verlöbnis. Brunhilde und ich waren evangelisch-christlich getauft, eingesegnet und nie unter denjenigen Spöttern, die Religionen nur lächerlich finden. Aber eine glatte Übernahme des tradierten Glaubens war uns nicht mehr möglich. Zusätzlich bot das Verhalten einzelner Pfarrer Kritikpunkte. Beide waren wir, noch ehe wir uns kannten, aber noch nicht aus der Kirche ausgetreten, weil wir auf einen noch unbekannten Ehepartner in diesem sensiblen Punkt Rücksicht nehmen wollten. Nun jedoch war alles klar und beide beendeten wir unsere Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche offiziell und schriftlich.



Mit der FDJ verfuhren wir weniger untadelig. Kein Mensch in Demmin wusste, ob wir je da drin waren und so ließen wir die Mitgliedschaft einfach einschlafen, indem wir uns an keinen FDJ-Funktionär wendeten. Es kam auch keiner zu uns, um uns zu fragen oder zu werben. Diese Art, aus Organisationen heraus zu kommen war damals weit verbreitet und ist wohl auch heute nicht unüblich, was dieses Verhalten aber nicht gerade korrekter macht.





Ernstes Zwischenspiel: 13. August 1961



Die Spannungen um Berlin spitzten sich im Sommer 1961 zu. Politische Diskussionen gewannen an Schärfe. Ich schrie einen jungen, hospitierenden Armeearzt an, dass er auf unsere Kosten privilegiert sei. Spionage gegen die DDR wurde aus Westberlin eh und je betrieben, wo und wie es nur ging. Ökonomische Probleme wuchsen. In Ostberlin gab es kaum Reinigungskräfte. Sie arbeiteten in Westberlin gegen niedrige Westlöhne und tauschten dann zum Wechselkurs von 1:4 bis 1:5 in Ostgeld um. So konnten sie gut leben, während in der Charité und anderen Krankenhäusern Studenten und medizinisches Personal mit Schrubber und Eimer unterwegs sein mussten. Selbst ostdeutsche Prostituierte boten ihre Dienste in Westberlin an, so lange sie nicht von den dortigen „Revierfürstinnen“ vertrieben wurden. Schon vorher hatten Westberliner ihre Lebensmittel und anderen Bedarf im Osten gekauft. In der DDR produzierte Waren wurden auf dem Schwarzmarkt weiter verschoben. Ferngläser von Carl Zeiss Jena wanderten bis Finnland. Die Regierung der DDR musste schließlich anordnen, dass bei Käufen im Einzelhandel generell der DDR-Personalausweis vorzuzeigen ist. Das schliff sich bei mir ein; ich habe ihn bis heute stets bei mir.



Sorgenvoll beobachteten Bürger der DDR und die Westalliierten, wie die DDR seit Monaten mit Eifer eine Umgehungsbahn um Westberlin ausbaute. Die Flüchtlingsströme nach Westen schwollen stark an. Ich selbst war weniger beunruhigt, weil ich eine absolut dichte Abriegelung der Stadt Berlin, mitten durch Straße, Häuser, Bahnhöfe und andere Anlagen hindurch für technisch undurchführbar hielt. Ich sollte mich täuschen.



Brunhilde war mit ihrer Schwester an die Ostsee gefahren, während ich als Neuanfänger noch keinen Urlaub nehmen konnte. An einem sonnigen Sonntag fuhr ich sie besuchen und wir verbrachten schöne Stunden miteinander. Auf der Heimfahrt überflutete mich in der Eisenbahn aufgeregtes Gerede. Erst langsam schälte sich der Kern heraus. Die DDR hatte mit Rückendeckung durch Sowjettruppen und im Einvernehmen mit dem Warschauer Pakt

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 Westberlin militärisch abgeriegelt und stoppte jede Bewegung im Sperrgebiet mit Stacheldraht (den sie, wie nach 1989 zu hören war, massenhaft auf dem westlichen Markt gekauft hatte), anderen provisorischen Hindernissen und mit der Schusswaffe. Das wurde in den Medien verdeutlicht. In einem sehr bald erscheinenden DDR-Bericht wurde über einen „Schatten in den Umrissen einer männlichen Gestalt“ berichtet, der nachts an einer Grenzbrücke gesehen wurde und nach Schusswaffengebrauch verschwand. Im Klartext: man hatte ohne zuverlässige Sicht geschossen und sich um den vermutlich Getroffenen – dem Bericht zufolge – nicht einmal gekümmert.



In den nächsten Wochen und Monaten wurden die provisorischen Sperren durch „die Mauer“ ersetzt und mit immer raffinierteren Hindernisse verstärkt, wozu auch Minen, Hundelaufstrecken und Wachtürme gehörten.



Viele DDR-Bürger waren tief betroffen, litten unter der Trennung von ihren Verwandten in der Bundesrepublik und der verlorenen Reise- und Ausreisefreiheit nach kapitalistisch orientierten Ländern. Wenn ich in den Folgejahren aus Demmin kommend mit dem Zug nach Berlin fuhr, rollte ich beim S-Bahnhof Bornholmer Straße im Norden Berlins zwischen Stacheldrahtverhauen hindurch. Wenn ich mit der Berliner S-Bahn fuhr, musste ich auf den so bequemen Ringverkehr verzichten. Zwischen den S-Bahn-Stationen Plänterwald und Treptower Park sah ich aus dem Wagenfenster die Grenzsperren in Gegenden, die mir aus der Schulzeit nicht unbekannt waren. Das tat immer wieder weh!



Durch die westliche Welt ging ein Sturm der Empörung. Der SPD-Politiker Willy Brandt protestierte wortgewaltig. Walter Ulbricht, damals fast unumschränkter Herr der DDR, erwiderte: „Spreize Dich, Pfau, morgen wirst Du gerupft.“ Seine zynische Sprache und das Mediengetöse sollten wohl abschreckend auf Fluchtwillige wirken und darüberhinaus westdeutsche Politiker demütigen.



Zur Wahrheit gehört aber mehr. Über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Umgehungsbahn und den gekauften Stacheldraht habe ich schon berichtet. Unter Berlinern war die Ablehnung der Mauer auch nicht ungeteilt. Hämisch schaute man auf die „Scheuerlappengeschwader“ genannten Frauen, die in Westberlin so leichtes Geld verdient hatten und nun aufgeregt und ratlos auf den S-Bahnhöfen standen. Endlich mussten sie da arbeiten, wo sie lebten, billige Wohnungen nutzten, ihre Kinder zur Schule schickten und auch sonst die Sozialpolitik der DDR ohne eigene Gegenleistung genossen. Der Arbeitskräftemangel der DDR besserte sich spürbar und das Bruttosozialprodukt machte einen Sprung nach oben.



Anfang August 1961 hatten sich die beiden mächtigsten Männer der Welt, der Sowjetführer Nikita Chruschtschow und der US-Präsident John F. Kennedy in Wien getroffen. Das Gespräch wurde öffentlich als gut dargestellt. Es ist fast unvorstellbar, dass dabei nicht über die wichtigsten Absichten des Ostblocks gesprochen wurde, noch dazu solche, mit militärischer Komponente. Hier hätte jedes Missverständnis die Gefahr eines Atomkrieges der Supermächte heraufbeschworen. Für die Vorkenntnis der Westalliierten spricht ein weiteres Zeichen. Westberlin wurde in der Nacht zum 13. August unter Einsatz zahlreicher Kettenfahrzeuge eingeschlossen. Einen Panzer, der über Straßenpflaster rollt, hört man in stiller Nacht vier bis acht Kilometer weit. Der Kettenlärm muss also von den Truppen Frankreichs, Großbritanniens und der USA, die sich in Westberlin aufhielten, wahrgenommen worden sein. Reaktion: Keine! Das kann nur heißen, sie wussten genau, dass sie nichts zu fürchten hatten, weil sie über die Absichten des Ostens wohlunterrichtet waren.

 



Wirtschaftsschwierigkeiten hin, Mitwisserschaft der Westmächte her. Kein Staat hat das Recht, seinen Bürgern das Menschenrecht auf freie Aus- und Wiedereinreise zu verwehren. Darüber hinaus war „die Mauer“ eine Abwehrhan

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