Schatten über Adlig-Linkunen

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„Herr Perloff, wir wollen es miteinander versuchen; probeweise, sagen wir für ein halbes Jahr. Wenn’s gut geht, können Sie für den Rest Ihres Lebens unser Gut verwalten!“ Dann sagte Kokies noch etwas wie: „Dem Personal vorstellen“ und „Sie können nächste Woche anfangen“ und „persönliche Dinge regeln“, aber Perloff nahm alles nur noch durch einen Schleier von Glück wahr.

Als er das Herrenhaus verließ, hoffte er, Anna noch einmal zu sehen. Ihr Daumendrücken hatte offensichtlich geholfen. Er merkte, dass ihm von allen Händen zur Begrüßung, die er heute gespürt hatte, nur Annas in Erinnerung geblieben waren.

Dezember 1887

Franz Perloff hatte seine Arbeit angefangen und war als neuer Herr ins Verwalterhaus gezogen. Er begann mit einem großen Elan und hatte viele Vorschläge für Verbesserungen im Gut. So viel Zeit hatte Kokies schon lange nicht mehr mit seinem Verwalter zugebracht, aber er tat es gern und war von den Ideen Perloffs begeistert. Etliche land- und forstwirtschaftliche Bereiche wurden rationalisiert und effektiver gestaltet.

Ansonsten verlief das Leben auf Adlig-Linkunen in seinen gewohnten Bahnen. Hannes war wieder in Berlin, um sein Studium fortzuführen. Er wollte allerdings an Weihnachten wieder zu Hause sein. Friederike hatte alle Hände voll mit der Vorbereitung der alljährlichen Weihnachtsfeiern zu tun. Es war Tradition auf Adlig-Linkunen, dass kurz vor Weihnachten zwei Festlichkeiten stattfanden: Zum einen eine Feier für das Hauspersonal, woran auch die Familie Kokies teilnahm und Freunde eingeladen wurden - dieses Ereignis spielte sich im Herrenhaus ab. Zum anderen eine Art Rummel für das restliche Personal mit Festzelt und allerlei Buden, zu dem auch bisweilen Schausteller, z.B. Jongleure engagiert wurden. Friederike hatte zwar viele fleißige Helfer zur Seite, vor allem Berta arbeitete eng mit ihr zusammen, aber dennoch hatte sie kaum eine freie Minute. Berta hatte sich vor vielen Jahren die Kalligraphie und Graphologie zum Hobby gemacht. Eine begabte und intelligente Frau hatte zu dieser Zeit kaum die Chance, einen intellektuellen Beruf auszuüben, sondern musste ihre Begabung meist im Privaten ausleben. Bertas Vorliebe zum Schreiben und Schriftdeuten zeigte sich aber zuweilen von Nutzen. Die Einladungen zu der Hausweihnachtsfeier schrieb Berta kunstvoll selbst, statt sie einer Druckerei in Hirschburg in Auftrag zu geben. So saß Friederikes Zofe oft bis spät in der Nacht am Schreibtisch, denn die anderen Arbeiten mussten weiter erledigt werden. Für die andere Feier wurden keine Einladungen geschrieben, das hätte den Rahmen gesprengt; lediglich ein Aushang am Verwalterhaus wies auf den Termin hin.

Maria und Anna unterstützten ihre Mütter redlich bei ihrer Arbeit, aber sie gönnten sich ein wenig mehr Freizeit. So genossen sie zum Beispiel Ausritte in die winterliche Landschaft, in verschneiten Wäldern und an zugefrorene Seen, natürlich immer mit Bewachung. Aber es kam jetzt immer wieder mal vor, dass Anna Maria einen Korb gab, weil sie Franz Perloff versprochen hatte, ihm das eine oder andere in der Umgebung des Gutshauses zu zeigen. Der Verwalter kannte sich noch nicht so gut aus und war auf Hilfe angewiesen, wenn er Arbeiten außerhaus zu erledigen hatte. Diese Aufgabe hätte zwar jeder Diener oder Wildhüter übernehmen können, aber es war für Perloff eine optimale Gelegenheit, Anna zu sehen und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Natürlich hatte sich Perloff offiziell bei Doepius die Erlaubnis eingeholt, mit seiner Tochter auszureiten, aus rein beruflichen Gründen. Es fiel jedoch auf, dass er offenbar viele Orte auf dem Gut vergessen haben musste, schließlich war er ja hier in der Gegend aufgewachsen. Als Bauernjunge hatte er zwar nicht viel Zeit für Ausflüge gehabt, so wie Anna, Maria und Hannes, aber ein bisschen besser hätte er sich schon auskennen müssen.

Als Berta eines Abends mit Feder und Bütten an ihren Einladungskarten arbeitete, trat Anna in ihr Zimmer. Sie schaute ihrer Mutter über die Schulter und sagte: „Wunderschön, keine Druckerei könnte es besser machen!“

„Danke, mein Schatz, aber bist du gekommen, um mir das zu sagen, oder hast du noch etwas auf dem Herzen?“

„Ich finde, wir hatten in der letzten Zeit nicht viel voneinander bei all deiner vielen Arbeit. Vielleicht kannst du ja eine kleine Pause vertragen?“

„Das stimmt, die täte ganz gut. Auf der Kommode steht eine Karaffe mit Wasser, wenn du so lieb wärst und mir ein Glas einschenken würdest?“

Berta kannte ihre Tochter viel zu gut, um zu wissen, dass das nicht der eigentliche Grund ihres Kommens war, aber sie verhielt sich völlig unbedarft. Sie wollte Anna die Möglichkeit überlassen, selbst mit der Sprache rauszurücken.

Nachdem diese ihr das Glas Wasser gereicht hatte, setzte sie sich zu ihrer Mutter. „Sag mal, hast du schon einmal darüber nachgedacht, was du alles mit deinen Fähigkeiten hättest erreichen können?“

„Ich bin Zofe bei den nettesten Herrschaften, die ich mir vorstellen kann; Dein Vater Butler. Meine Tochter hat von Privatlehrern dieselbe schulische Ausbildung genossen wie die Kinder der Herrschaften; was, bitte schön, soll man noch mehr erreichen wollen, Anna?“

„Was soll ich mit meiner Ausbildung anfangen? Dienstmädchen in einem Haushalt werden? Das will ich nicht!“

Berta war über diese Wendung des Gesprächs erstaunt, hatte sie doch ein ganz anderes Thema erwartet. Anna kam jetzt ins heiratsfähige Alter und ihr war das häufige Zusammentreffen mit dem jungen Verwalter nicht entgangen. „Worauf willst du hinaus, Anna?“

„Ich habe viel nachgedacht in der letzten Zeit. Du hast ja sicherlich bemerkt, dass ich sehr lange Gespräche mit Dr. Markowski geführt habe.“

Anna machte eine kurze Pause, um ihrer Mutter die Gelegenheit zu geben, das bisher Gesagte zu verdauen.

„Du willst doch nicht etwa Krankenschwester werden, das ist deiner nicht würdig!“

„Nein, Mama, ich will Ärztin werden!“

Berta wäre beinahe das Wasserglas aus der Hand gefallen, und sie schaute ihre Tochter mit offenem Mund an. Dann schüttelte sie langsam mit dem Kopf. „Das geht nicht, Anna, das kannst du dir aus dem Kopf schlagen!“

„Doch es geht“, sagte Anna und erzählte ihrer Mutter dasselbe, was sie Maria schon berichtet hatte und beendete ihre Rede mit dem Hinweis, dass Dr. Markowski bereit sei, mit ihren Eltern darüber zu sprechen. Berta wurde bewusst, dass es Anna ernst meinte; sie hatte sich offenbar alles genau überlegt und war bereit, ihren Weg bis ins Detail zu planen. Und was sich Anna einmal vorgenommen hatte, war ihr schwer, ja fast unmöglich, wieder auszureden.

Also fiel Berta im Moment keine passende Antwort ein, und sie holte erst einmal tief Luft.

„Hast du mit deinem Vater schon geredet?“, fragte sie schließlich.

„Nein. Ich hoffe, dass du ihn vielleicht ein bisschen vorbereiten könntest. Du hast doch einen großen Einfluss auf ihn und wenn du meine Pläne in den höchsten Tönen lobst, fällt es mir bestimmt wesentlich leichter, ihn auf meine Seite zu bringen.“

„Das setzt voraus, dass ich deine Pläne gutheiße und darüber bin ich mir noch ganz und gar nicht im Klaren. Da ist auch noch die finanzielle Seite. Ich muss mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen.“

Anna wollte jetzt nicht auch noch die Sprache auf die Möglichkeit bringen, dass sie als Krankenpflegerin arbeiten und damit das Studium finanzieren könnte. Das wäre fürs Erste sicherlich zu viel gewesen.

Berta verspürte das Bedürfnis, mit jemandem über Annas Pläne zu reden und so erzählte sie am nächsten Morgen Friederike von der Sache. Und diese war genauso erstaunt wie am Abend zuvor Berta. Aber sie fand den Vorschlag, ein Gespräch mit Dr. Markowski zu führen, sehr interessant.

„Die Zeiten ändern sich, vielleicht wird es im nächsten Jahrhundert Gang und Gäbe sein, dass Frauen studieren und Rechtsanwälte oder Ärzte werden. Mein Mann und Pfarrer Stankover unterhielten sich neulich, dass es sogar in der Kirche Stimmen gäbe, Frauen als Pastoren zuzulassen. Der Herr Pfarrer war außer sich und tat dies als krankhaftes Hirngespinst ab. Er schlug sogar vor, dass jene, die das öffentlich begrüßen würden, aus der Kirche ausgeschlossen werden sollten. Aber seine Frau Martha wandte ein, die Pfarrersfrauen würden schon jetzt viel seelsorgerische Tätigkeit ausüben, warum könnten dann Frauen nicht auch Pastoren werden? Wenn Wilhelm-Antonius nicht sofort ein anderes Gesprächsthema gewählt hätte, wäre ein handfester Ehestreit ausgebrochen. Aber Sie sehen, Berta, es brodelt bei uns Frauen und irgendwann wird es Veränderungen geben, nicht alle auf einmal, sondern nach und nach. Reden Sie mit Ihrem Mann und vereinbaren Sie ein Treffen mit Dr. Markowski.“

Berta spürte eine deutliche Erleichterung. Frau Kokies` Worte waren einleuchtend. Und mit genau diesen Argumenten konnte sie vielleicht Friedrich überzeugen, Annas Pläne nicht sofort vom Tisch zu fegen.

Trotz der vielen Arbeit hatte Familie Doepius an diesem Tag Gelegenheit, gemeinsam zu Mittag zu essen. Berta fasste sich ein Herz und sprach das Thema dabei an. Anfänglich lehnte Friedrich jegliche Diskussion kategorisch ab. Aber Anna und ihre Mutter blieben hartnäckig und erreichten schließlich tatsächlich seine Zustimmung zu einem Treffen mit Dr. Markowski, natürlich nicht ohne den Einsatz einer gehörigen Portion weiblichen Charmes.

Anna suchte sofort nach dem Mittagessen Maria auf, um ihr den Teilerfolg mitzuteilen. Diese freute sich für Anna, lange unterhalten konnten sie sich aber nicht, weil Maria ihrerseits mit ihrer Familie zu Mittag essen musste.

Maria konnte es sich jetzt nicht mehr verkneifen und Stillschweigen wahren, und plauderte bei Tisch die Neuigkeiten aus. Friederike lächelte; Wilhelm-Antonius schüttelte den Kopf und sprach: „Daraus wird sowieso nichts. Jugendliche Spinnereien, Tagträume. Anna könnte jederzeit eine Stellung auf dem Gut bekommen bis sie heiratet und eine Familie gründet.“ Friederike und Maria sahen sich vielsagend an und schmunzelten dabei, als wollten sie damit ausdrücken: „Na warte erst mal ab!“

 

Am frühen Nachmittag musste Franz Perloff einen verwaisten Lehenshof, der zum Gut gehörte, besuchen, um zu beurteilen, ob es sich lohnte, das Gebäude zu erhalten und zu verpachten oder ob es besser abgerissen würde. Er bat Anna, ihm den Weg dorthin zu zeigen und ihn zu begleiten. Diesmal wollte er mit einem geschlossen Zweisitzer fahren, denn es war bitterkalt und in der Kutsche konnte sich Anna mit einer Wolldecke warm halten.

Als Perloff sie abholte, war sie noch ganz in Gedanken an das Tischgespräch zu Mittag. Dass ihr Vater so relativ mühelos zu überreden war, hatte sie überrascht, aber sie gestand sich auch ein, dass es sich nur um einen Teilerfolg handelte. Gut gelaunt stieg sie in die Kutsche und freute sich auf den Ausflug mit dem Verwalter. Sie machte es sich mit der Wolldecke gemütlich und genoss die Aussicht auf die winterliche Landschaft.

„Sie scheinen heute besonders gute Laune zu haben, Fräulein Anna, ist das die Vorfreude auf Weihnachten?“

„Soll das etwa heißen, dass ich sonst mies gelaunt bin?“

„Nein, entschuldigen Sie, so war das natürlich nicht gemeint. Ich wollte damit nur ausdrücken, wie sehr es mich freut, Sie heiter zu sehen!“

Anna lachte und blickte Perloff amüsiert von der Seite an. Es war durchaus ihre Absicht gewesen, ihn ein wenig zu provozieren. Dabei spürte sie, wie wohl sie sich in seiner Nähe fühlte. „Meine Freude hat tatsächlich einen Grund“, sagte Anna und erzählte ihm von ihrem beruflichem Vorhaben, den Gesprächen mit ihrer Mutter und ihrem Vater. „Ich möchte jetzt so schnell wie möglich das Treffen mit Dr. Markowski arrangieren; was ist Ihre Meinung zu der ganzen Sache? Nein, lassen Sie mich raten! Sie als Mann stehen dem sicherlich ablehnend gegenüber, wie man es aus Ihrer finsteren Miene entnehmen kann!“

„So, ich schaue finster drein, meinen Sie?“

Perloff hatte ihr schweigend zugehört, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Er verlangsamte die Fahrt und hielt die Kutsche jetzt ganz an. Er beugte sich ein wenig zu ihr hinüber. „Ja, ich bin nicht erfreut. Weißt du, was das bedeutet, Anna?“

Er rückte noch ein Stück näher zu ihr. „Du wirst fast ständig in Berlin sein und wir können uns so gut wie nie mehr sehen!“

Anna hatte das Gefühl, als stiege ihr alles Blut in den Kopf und konnte kein Wort herausbringen. Franz nahm sie in die Arme und berührte sanft ihren Mund mit seinen Lippen. Sie ließ es gerne geschehen, und schlug ihre Arme um seinen Nacken. Nun küssten sie sich leidenschaftlich und als sie sich langsam voneinander lösten, sagte er: „Ich liebe dich, Anna, und ich möchte dich nicht verlieren.“

Anna konnte noch immer kein Wort herausbringen, aber sie spürte ebenfalls das überwältigende Gefühl der tiefen Zuneigung. Schließlich flüsterte sie: „Ich liebe dich auch, Franz, und du wirst mich nicht verlieren, wenn du es ernst meinst!“

„Und ob! Ich meine es verdammt ernst!“

Jetzt fand Anna ihre normale Sprache wieder. „Natürlich muss ich mich oft und lange in Berlin aufhalten, aber es gibt auch lange Ferien und die verbringe ich hier in Adlig-Linkunen. Außerdem wird dir der Herr Kokies bestimmt hier und da ein paar Tage freigeben und du kannst zu mir nach Berlin kommen. Wir gehen ins Theater oder Tanzen, das stelle ich mir wunderschön vor. Berlin muss toll sein, Hannes hat uns viel davon erzählt, er ist ganz begeistert von der Stadt!“

Franz hörte ihr lächelnd zu, dann nahm er sie erneut in die Arme und küsste sie.

Beim weiteren Verlauf ihres Ausflugs sprachen sie nicht mehr viel. Franz inspizierte den verlassenen Bauernhof und sie traten die Heimreise an. Kurz bevor sie zu Hause ankamen, hielt er erneut die Kutsche an; und suchte scheinbar nach irgendwelchen Worten, doch er brachte nichts heraus. Anna lächelte ihn liebevoll an und wartete geduldig. Plötzlich platzte es aus ihm heraus: „Anna, willst du meine Frau werden?“

Sie lachte laut auf und Franz befürchtete, er habe sich gründlich blamiert; bis sie schließlich antwortete: „Ist dir das so schwer gefallen? Hast du solche Angst vor meiner Antwort? In der Tat, jetzt ist es zu spät!“

Ihn verließ jegliche Hoffnung und Anna genoss seine Verwirrtheit.

„Wie gesagt, es ist zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Ja, Franz, ich will deine Frau werden!“

„Du bist ein kleines Biest, Anna, mir solch einen Schrecken einzujagen. Aber ein süßes Biest!“

Er küsste sie erneut, bevor er die Kutsche langsam wieder in Bewegung setzte. Offensichtlich hatte er es überhaupt nicht eilig, nach Hause zu kommen. Bevor Anna am Herrenhaus aus der Kutsche stieg, sagte Franz: „Ist es dir recht, wenn ich heute Abend deine Eltern besuche?“

„Nicht so eilig, junger Mann, sagen wir lieber morgen früh. Ich möchte in Ruhe meine Eltern vorbereiten. Für die Armen überschlagen sich sowieso momentan die Ereignisse meinetwegen!“ Dann fügte sie rasch hinzu: „Vergiss die Blumen für meine Mutter nicht!“, während sie schon aus der Kutsche sprang und zum Portal lief. Obwohl diese nicht verschlossen war, läutete sie an der großen Glocke und nach kurzer Zeit öffnete der Butler. Bevor dieser ein Wort sagen konnte, platzte es aus Anna: „Ich muss euch sprechen, beide. Mach nicht ein so erschrecktes Gesicht, sag lieber Mama Bescheid!“

„Mein Gott, Anna, was ist denn jetzt schon wieder los, du machst mir Angst. Willst du mit dem Männerchor nach Amerika verreisen oder auf den Mond?“

„Was für ein Männerchor? Außerdem brauche ich nicht gleich einen Chor, ein Mann reicht mir; und die Fahrt geht zu den Sternen!“

Doepius wurde keine Gelegenheit gegeben zu antworten, Anna rannte schon aus der Halle Richtung Gesindetrakt und rief: „Bin in eurem Zimmer und warte!“, und verschwand hinter der Tür. Friedrich blieb zunächst wie angewurzelt stehen, flüsterte vor sich hin: „Oh, dieses Mädchen!“, und machte sich dann auf die Suche nach Berta. Anna war gerade dabei, ein Feuer in dem Ofen des kleinen Wohnzimmers der Familie Doepius zu schüren, als ihre Eltern eintraten. Sie zitterte vor Kälte und Aufregung. Berta ergriff zuerst das Wort: „Was für eine Überraschung hast du jetzt für uns parat, mein Kind?“

„Ich hab euch Feuer gemacht, damit ihr nicht frieren müsst!“

„Anna, veralbere uns nicht, du willst uns sprechen, also sei so lieb und sag uns was los ist!“, antwortete Berta freundlich. Nachdem sich alle drei gesetzt hatten begann Anna verlegen lächelnd: „Nun, ich..., also, heute hat... äh, nein so geht das nicht. Also, ihr wisst doch, dass ich hin und wieder Herrn Perloff, also dem Verwalter...“

„Ach, der Verwalter heißt Perloff?“, unterbrach schmunzelnd Doepius, „ ist ja ganz was Neues!“

„Jetzt bist du albern, Friedrich! Lass Anna ausreden!“, funkte Berta dazwischen.

„Also, äh..., jetzt habt ihr mich aus dem Konzept gebracht!“

„Hattest du denn eins?“

„Friedrich, unterbrich sie nicht immer!“

Anna machte einen weiteren Versuch: „Habt ihr etwas dagegen, wenn Herr Perloff euch morgen früh einen Besuch abstattet?“

„Wieso will er uns besuchen?“, fragte Doepius.

„Mein Gott, bist du begriffsstutzig!“, stöhnte Berta. „Unsere Tochter hat sich verliebt!“

Annas Gesicht wurde purpurrot, andererseits war sie erleichtert, dass ihre Mutter für sie in die Bresche gesprungen war.

„Ja, Franz Perloff hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will und ich habe ja gesagt.“

Jetzt war es endlich draußen. Berta stand auf und umarmte Anna, und Friedrich tat es ihr gleich. „Er kommt also morgen und wird um deine Hand anhalten“, sagte Friedrich. „Der arme Kerl wird die ganze Nacht nicht schlafen können, ich kenn das!“

Und dann keimte in Doepius die Hoffnung auf, dass damit die beruflichen Pläne Annas hinfällig waren.

Am nächsten Morgen erschien Franz Perloff tatsächlich in seinem besten Anzug mit einem Blumenstrauß in der Hand. Kaum hatte er geläutet, als der Butler ihm öffnete; hinter ihm stand Frau Doepius. Man hatte ihn also erwartet. Perloff war furchtbar aufgeregt, aber alles verlief reibungslos in überaus freundlicher Atmosphäre. Zunächst sprachen Annas Vater und Franz Perloff alleine miteinander und nach dem förmlichen Antrag sagte Friedrich: „Willkommen in unserer Familie.“

Als Anna und Berta hinzukamen, einigten sie sich darauf, dass die anstehende Weihnachtsfeier im Herrenhaus der ideale Termin für die Bekanntgabe der Verlobung wäre. Viel Zeit für eine weitere Unterhaltung blieb nicht, denn die tägliche Arbeit musste erledigt werden.

In Zukunft musste Perloff keine Ortsunkenntnis vortäuschen, damit Anna ihn begleiteten konnte.

Die Nachricht über Anna und Franz verbreitete sich wie ein Lauffeuer über das gesamte Gut. Eine anstehende Verlobung und Hochzeit waren ein hervorragendes Gesprächsthema. Die erste, die davon, natürlich aus Annas Mund erfuhr, war Maria.

„Wirst du meine Trauzeugin sein?“

„Da brauchst du nicht zweimal zu fragen, Anna.“

„Ich werde Hannes schreiben, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen und gleichzeitig fragen, ob auch er Trauzeuge werden will.“

Plötzlich verschwand das Lächeln aus Marias Gesicht, aber sie hatte sich schnell wieder gefasst, so dass Anna nichts merkte und sie sagte: „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ein Hochzeitstermin steht ja noch gar nicht fest, Anna; und Hannes hat so viel zu tun, dass er sich darauf nicht festlegen kann. Aber an Weihnachten kommt er sowieso nach Adlig-Linkunen und dann können wir miteinander darüber sprechen.“

Im Verlauf der nächsten Tage fuhren Franz und Anna zu Familie Perloff; um Anna vorzustellen und gleichzeitig die Einladung zur Weihnachtsfeier zu übergeben. Seine Eltern empfingen Anna herzlich und schlossen sie sofort in ihr Herz. Von seinen drei Geschwistern, zwei Brüdern und einer Schwester, war nur der Älteste zu Hause. Er hieß Fritz, war verheiratet und sollte eines Tages den Lehenshof übernehmen, sofern die Familie Kokies die Pacht nach dem Tode des alten Herrn Perloff auf ihn übertragen würde.

Anna fühlte sich überglücklich und ihre beruflichen Pläne traten in den Hintergrund, vergessen hatte sie diese aber nicht. Bei all den vorweihnachtlichen Arbeiten und Vorbereitungen für die Verlobungsfeier musste das Treffen mit Dr. Markowski auf Anfang des nächsten Jahres verschoben werden. Vielleicht ergab sich auch eine Gelegenheit auf der Weihnachtsfeier, zu welcher der Arzt auch eingeladen war.

Eines frühen Morgens, Perloff war gerade aufgestanden und bei der Morgentoilette, pochte jemand heftig an die Tür des Verwalterhauses. Er hörte wie Erna, die Magd, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, zur Tür schlurfte, laut rufend: „Ich komm ja schon!“, weil sich das Pochen ständig wiederholte. Dann vernahm er eine aufgeregte Männerstimme und wie der Betreffende rasch die Treppe hinaufstieg und sich seinem Zimmer näherte und an die Tür klopfte. Perloff zog sich rasch einen Bademantel über und rief: „Herein!“ Peer, der Wildhüter trat ein und sagte mit atemloser Stimme: „Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen und die frühe Störung, Herr Perloff, aber es ist dringend. Seit gestern wurde einer der Waldarbeiter vermisst und alle glaubten, er habe sich aus dem Staub gemacht. Zuzutrauen wäre es ihm gewesen, er war ein wahrer Windhund und manche behaupteten, er würde hier und da was mitgehen lassen, was ihm nicht gehört. Aber eben habe ich ihn gefunden, tot, mausetot.“

„Ein Unfall?“, fragte Perloff.

„Weiß ich nicht, er hat ein Loch im Kopf, soweit ich das im Lichtschein meiner Fackel sehen konnte.“

„Wie heißt der Mann?“

„Hans Lambert, soweit ich weiß.“

„Ich werde versuchen, über das Telefon die Polizei und den Arzt in Hirschburg zu erreichen. Sie sagen keinem etwas von der Sache, ich möchte, dass es bis zum Eintreffen der Polizei niemand erfährt!“

Perloff zog sich so schnell wie möglich an und ging zum Herrenhaus. Dort läutete er und Doepius öffnete ihm. Er war offensichtlich schon länger auf. „Was willst du denn in aller Herrgottsfrühe hier?“, fragte er ihn. In Anbetracht der bevorstehenden familiären Ereignisse hatte man sich auf das vertrauliche Du geeinigt. „Ein Toter ist im Wald gefunden worden“, antwortete Perloff. „Ich möchte versuchen, über das Telefon des Herrn Kokies die Polizei und den Arzt zu erreichen. Außerdem bitte ich dich, Herrn Kokies Bescheid zu sagen, sobald er aufgewacht ist.“

 

Der Butler führte Perloff ins Arbeitszimmer des Gutsherrn, wo das Telefon stand. Der Fernruf klappte erstaunlich gut und bald waren Bouffier, Hinrich und Dr. Markowski in Marsch gesetzt.

Es war noch immer dunkel, als zunächst die Polizisten und dann der Arzt in Adlig-Linkunen eintrafen. Peer führte sie und den Verwalter zu der Fundstelle und als sie endlich dort eintrafen, dämmerte es bereits. Ein Mann lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Waldboden, am Hinterkopf konnte man eine klaffende Wunde sehen, aus der etwas Blut geronnen war. Markowski und Bouffier machten sich gemeinsam an die Untersuchung der Leiche.

„Erschlagen, der Mann muss sofort tot gewesen sein, sonst hätte die riesige Wunde mehr bluten müssen“, lautete Markowskis erste Diagnose. „Ja“, stimmte Bouffier zu, „und in unmittelbarer Nähe liegt kein Ast, der beim Herabfallen den Mann hätte tödlich treffen können. Sehen Sie hier irgendwo Schleifspuren, Hinrich?“ Der Angesprochene untersuchte den Boden um den Leichnam gründlich unter Zuhilfenahme einer Fackel und dann die weitere Umgebung. Schließlich erstattete er Bericht: „Nichts, Herr Leutnant, keine Schleifspuren, aber Fußspuren, zwei verschiedene. Aber es hat heute Nacht geschneit, dies könnte Spuren verwischt haben!“

„Nein“, gab Bouffier zurück, „nicht nach dem Tod des Mannes, die Leiche ist kaum schneebedeckt und die Fußspuren auch nicht unter dem Schnee verschwunden. Der Mann ist also hier ermordet worden!“ Bei dem Wort 'ermordet' zuckte Perloff leicht zusammen. „Hinrich, messen Sie die Fußspuren aus und machen Sie genaue Skizzen, Schuhprofil und so weiter, na Sie wissen schon, was Sie tun müssen“, ordnete Bouffier an. „Und dann lassen Sie den Mann wegschaffen.“

„Ich möchte mir die Leiche in Hirschburg genauer ansehen, bei der Kälte frieren einem ja die Finger ab“, sagte Markowski. „Der Leichnam ist steif gefroren, schätze, er liegt schon ein paar Stunden da. Na ja, die Kälte hat er nicht mehr gespürt, war ja, wie gesagt, sofort tot. Aber wir leben, und frieren fürchterlich. Gehen wir zu Ihrem Haus, Perloff.“

Der arme Hinrich musste zurückbleiben und seine Arbeit verrichten, während die anderen sich zurückzogen. Im Verwalterhaus angekommen, ordnete Perloff Erna an, allen einen heißen Tee zuzubereiten und eine Flasche Rum zu bringen.

„Was hat der Mann mitten in der Nacht da draußen im Wald gemacht?“, fragte Bouffier, mehr sich selbst als die anderen: „Er muss doch einen Grund gehabt haben, bei der Kälte da hinauszugehen.“

„Vielleicht war er auf der Flucht“, überlegte Perloff laut. „Peer sagte, der Mann sei schon als Dieb verdächtigt worden. Kann ja sein, er hat was geklaut, ist dabei erwischt worden und abgehauen. Dann wurde er verfolgt, im Wald gestellt, es gab ein Gerangel und er wurde dabei erschlagen.“

„Kann so nicht abgelaufen sein“, erwiderte Bouffier. „Es gab keinen Kampf, er wurde von hinten erschlagen und ist vornüber gefallen. Möglicherweise hat er seinen Mörder gar nicht gesehen. Ich hoffe, Hinrichs Analyse der Fußspuren gibt uns Aufschluss. Peer, hatte der Mann Angehörige?“

„Soweit ich weiß nein, er war noch nicht lange bei uns, vielleicht drei, vier Monate.“

„Wo hat er gewohnt?“, wollte Bouffier weiter von Peer wissen.

„In einer der Waldarbeiterhütten.“

„Alleine?“

„Nein, zusammen mit vier weiteren Waldarbeitern.“

„Und, war er nicht sehr zuverlässig?“

„Kann ich nicht sagen, als Arbeiter konnte er schon kräftig zupacken, nur bei seinen Kollegen war er nicht beliebt, es gab öfter Streit.“

„Wegen des Verdachts, er würde stehlen?“, fragte Bouffier.

„Ja“, antwortete Peer wahrheitsgemäß, „und es kam dabei auch hin und wieder zu Handgreiflichkeiten.“

Bouffier bat Peer, die Mitbewohner des Getöteten zu suchen und sie so schnell wie möglich herzubringen. Inzwischen war auch Hinrich zum Verwalterhaus gekommen. Bouffier wartete mit Spannung auf seinen Bericht.

„Es gibt, wie wir wissen, zwei verschiedene Fußspuren“, begann er seinen Rapport. „Von der Größe her von Männerschuhen. Die eine ist, wie nicht anders zu erwarten, von Lembert, dem Opfer. Er muss an der Stelle, wo er erschlagen wurde, eine Weile gewartet haben, denn seine Spuren zeigen, dass er auf einer Länge von etwa sechs Fuß hin- und hergegangen ist. Die andere Fußspur endet an der Leiche und weist anschließend in die entgegengesetzte Richtung, verliert sich dann aber im Schnee.“

„Gute Arbeit, Hinrich“, lobte ihn Bouffier.

„Das muss ich auch sagen“, bestätigte Perloff. „Damit muss man doch eine Menge anfangen können. Vielleicht ist einer der vier Kollegen des Mannes der Täter und Sie haben den Fall gleich gelöst.“ Aber dann gab er gleich zu bedenken: „Es sei denn, der Betreffende hat inzwischen die Schuhe gewechselt.“

„Glaube ich nicht“, wandte Peer ein. „Die Arbeiter besitzen meist nur ein Paar Schuhe, für mehr reicht ihr Lohn nicht. Manche besitzen noch ein Paar zum Ausgehen, aber die zieht keiner zur Arbeit an. Sie tragen Sommer wie Winter dieselben Schuhe.“

„Also wenn einer von ihnen der Täter war, haben wir ihn womöglich gleich“, resümierte Bouffier, aber ihm blieben noch beträchtliche Zweifel, das Ganze erschien ihm viel zu einfach. Er befürchtete unter anderem, dass sich der Betreffende auf die Flucht gemacht hatte. Aber dann kam Peer tatsächlich mit den vier Männern an. Sie wussten gar nicht, worum es ging, oder taten zumindest so. Hinrich führte sie in einen Nebenraum und begann sofort, ihre Schuhprofile und Schuhgröße zu überprüfen. Derweilen warteten die anderen gespannt nebenan. Schließlich trat Hinrich mit saurer Miene zu ihnen und schüttelte den Kopf: „Nichts, keines der Profile passt, nicht einmal die Schuhgröße. Einer von denen kann’s nicht gewesen sein.“ Bouffier sah man die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. „Dann holen Sie mir mal einen nach dem anderen herein“, bat er Hinrich.

„Tja, dann war’s wohl nichts mit einer schnellen Lösung des Falles“, stellte Perloff enttäuscht fest.

Der erste der vier Arbeiter betrat verlegen den Raum, seine Mütze in der Hand drehend. Er blieb kurz hinter dem Eingang stehen, so als wage er sich nicht weiter. Hinrich gab ihm einen kleinen Schubs, um ihm so klarzumachen, dass er weitergehen sollte und schloss dann die Tür. Der Mann fühlte sich deutlich unwohl angesichts solch geballter Obrigkeit. Als Erster sprach Markowski, ohne den Arbeiter zu beachten: „Ich werde wohl hier nicht mehr gebraucht, ich fahr dann mal zurück nach Hirschburg. Schönen Tag noch, die Herrschaften!“, und verschwand.

Bouffier begann mit dem Verhör: „Wann haben Sie Hans Lembert zum letzten Mal gesehen?“

„Gestern Abend.“

„Geht es etwas präziser?“

„Was?“

„Ich meine, geht es etwas genauer?“

„Hab keine Uhr.“

„Ist Lembert gestern mit Ihnen in den Wald zur Arbeit gegangen?“

„Ja.“

„Mann, lassen Sie sich nicht alles einzeln aus der Nase ziehen!“, fuhr Bouffier ihn an, merkte aber sogleich, dass er den total verängstigten Mann noch unsicherer machte und lenkte ein:

„Hören Sie Mann, Sie brauchen nichts zu befürchten; wir haben nur ein paar Fragen, die Sie beantworten sollen; vielleicht sind Sie ein wichtiger Zeuge.“ Der Mann fasste Mut und fragte: „Worum jeht es denn hier, keiner hat uns was jesagt, nur dass de Polizei uns sehen will.“

Erst jetzt ging Bouffier auf, dass der Mann keine Ahnung hatte, er selbst hatte Peer befohlen, Stillschweigen zu wahren. Plötzlich empfand er Mitleid mit dem Arbeiter. Der arme Kerl wurde vom 1. Wildhüter zusammen mit seinen Kollegen von der Arbeit weg zum Verwalterhaus gebracht, welches er sicherlich noch nie betreten hat. Er bekommt nur mitgeteilt, dass die Polizei auf ihn wartet. Bouffier versuchte eine Erklärung: „Hans Lambert ist ermordet worden und wir suchen Zeugen, die uns vielleicht wichtige Hinweise geben können.“ Bei dem Hinweis auf Mord bekam der Mann Todesangst und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er schon den Galgen vor sich sah. Panisch antwortete er: „Ich hab nich keinen umjebracht, bestimmt nich!“