Das Spiegelbild

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Plötzlich erschien Janine am Fenster, entdeckte den Mann auf der Straße, öffnete es und rief: »Warum starren Sie hier hoch? Was wollen Sie?«

Gleichzeitig rannte Christian auf ihn zu. Der Mann blickte ihn kurz an, drehte sich um und lief davon.

Christian blieb stehen, er war wie gelähmt. Auch wenn er nur für den Bruchteil einer Sekunde das Antlitz dieses Burschen gesehen hatte, erkannte er in ihm sein Spiegelbild.

Inzwischen war auch Janine auf ihn aufmerksam geworden. Sie stand am geöffneten Fenster und sah zu ihm. Als Christian ihren Blick erwiderte, lächelte sie.

»Kommen Sie hoch. Ich werde den Summer drücken, damit Sie ins Treppenhaus eintreten können.«

Er wartete geduldig vor der Wohnungstür bis sie öffnete und ihn hereinbat.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht ein Glas Wein?«

»Wenn es Ihnen keine allzu großen Umstände macht, gerne; ich möchte Sie aber ungern von Ihrer Arbeit abhalten.«

»Ach, eine kurze Pause tut mir ganz gut. Zumal ich mich nach diesem Schreck von eben sowieso nicht konzentrieren kann. Mögen Sie lieber roten oder weißen?«

»Roten.«

Ihre Wohnung war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet. Christian nahm auf einem kleinen Sessel im Wohnzimmer Platz, von wo sein Blick auf den Schreibtisch fiel. Dieser war übersät mit Büchern, Schnellheftern und unzähligen Blättern. Da die Wohnung fast schon pingelig aufgeräumt war, stach das Chaos auf dem Schreibtisch besonders ins Auge.

Als Janine mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein den Raum betrat und seinen Blick auf den Schreibtisch bemerkte, meinte sie entschuldigend: »Sieht furchtbar aus, nicht wahr? Aber bei der Lernerei lohnt es sich nicht, ihn ständig aufzuräumen.«

Er lachte und erwiderte: »Ich glaube, Sie würden von meiner Wohnung ziemlich geschockt sein. So ’ne tolle Ordnung wie Sie habe ich nicht. Und erst mein Schreibtisch im Büro! Dagegen ist ihrer ein friedliches Stillleben.«

Während sie Gläser hinstellte, nahm er die Flasche, um sie zu öffnen.

»Ich bin in Bezug auf Weine keine wirkliche Expertin. Bewahre Rotwein im Kühlschrank auf. Ist ein bisschen kalt, nicht wahr? Aber ihn jetzt in der Mikrowelle aufzuwärmen, wäre wohl der perfekte Fauxpas.«

Christian verzog ein wenig das Gesicht und flüsterte ihr zu: »Dann sind wir beide die gleichen Banausen. Ich trinke Rotwein am liebsten kalt. Der hier scheint die optimale Temperatur zu haben.«

Bei diesen Worten zierte wieder das unverwechselbare Lächeln ihr Gesicht, das ihn beinahe verzauberte und ihn momentan sogar fast verwirrte. Eine Zeit lang saßen sie sich beide etwas verlegen gegenüber, während sie an ihren Gläsern nippten, bis Christian schließlich das Wort ergriff: »Ich bin heilfroh, dass ich Ihnen beweisen konnte, nicht dieser, wie soll ich sagen, Spanner zu sein, der abends zu Ihrer Wohnung hoch glotzt.«

»Aber Sie müssen zugeben, dass die Ähnlichkeit frappierend ist. Nur die Frisur sieht etwas komisch aus.«

»Meine oder die des Typen?«

Sie hätte sich beinahe verschluckt vor Lachen.

»Die Ihres Doppelgängers natürlich.« Dann fügte sie hinzu: »Ihre gefällt mir besser.«

Eine leichte Röte stieg in sein Gesicht.

»Sie sind sich absolut sicher, dass in Ihrer Verwandtschaft niemand existiert, der Ihnen ähnlich sieht?«

»Absolut, das hier ist purer Zufall.«

Er wusste, dass seine Antwort gelogen war. Um auf ein anderes Thema zu sprechen zu kommen, fragte er: »Wie kommen Sie mit den Vorbereitungen für Ihre Klausuren zurecht?«

»Eigentlich ganz gut. Übermorgen hab ich’s hinter mir. – Was machen Sie eigentlich beruflich? Ich weiß überhaupt nichts von Ihnen.«

Was soll ich jetzt bloß antworten?, schoss es ihm in den Kopf, und ihm fiel nichts Besseres ein als: »So ’ne Art Öffentlichkeitsarbeit. Allgemeine Informationen und so.«

»Aha, mehr wollen Sie mir wohl nicht mitteilen.«

»Ist nicht so besonders interessant, was ich mache, würde Sie nur damit langweilen. – Aber, was haben Sie denn vor, wenn Ihr Semester vorbei ist?«

Janine seufzte: »Ich würde gerne ein Praktikum in einer Werbeagentur machen, aber die Aussichten sind nicht besonders gut.«

»Nein? Haben Sie sich denn schon irgendwo beworben?«

»Schon lange und bei mehreren Agenturen. Aber die sitzen alle auf dem hohen Ross. Es hat noch keiner geantwortet.«

»Das ist ja wirklich blöd. Gibt’s denn hier viele solcher Werbefritzen?«

»Das schon, aber ich würde halt gerne in einer richtig renommierten Firma Praktikum machen, zum Beispiel bei Maurer, der hat einen wirklich guten Ruf. Wird wahrscheinlich ein ziemlich arroganter Pinkel sein, aber man kann sicherlich viel lernen dort. Haben Sie schon mal von diesem Betrieb gehört?«

Christian versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken, als er antwortete: »Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Aber ›Maurer‹ heißen ja verdammt viele Leute.«

»Allerdings, das ist eher ein Sammelbegriff als ein Name«, erwiderte Janine vergnüglich lachend.

Christian verschluckte sich und musste husten. Es war ihm furchtbar peinlich.

»Ist der Wein nicht doch etwas zu kalt?«, fragte sie besorgt.

Nachdem er tief Luft geholt hatte, schüttelte er den Kopf. »Nein, nein, alles in Ordnung.«

Sie schaute ihn eine Weile an und meinte dann: »Warum umgeben Sie sich mit einer so geheimnisvollen Aura? Sie wollen scheinbar gar nichts von sich preisgeben. Mir fragen Sie Löcher in den Bauch, aber bei Fragen nach Ihrem Beruf weichen Sie aus.«

»Wirklich? Empfinden Sie das so? Ich sagte Ihnen doch, mein Leben ist eher langweilig. Aber lassen wir das Thema, ich stehle Ihnen sowieso schon zu viel von Ihrer kostbaren Zeit.«

»Sehen Sie, Sie weichen schon wieder aus.«

»Tu ich das?«

»Ja, natürlich, das würde ein Taubstummer merken.«

Ein paar Sekunden herrschte Schweigen, dann fragte Janine: »Soll ich etwas Musik machen? Worauf stehen Sie? Zu Ihnen würde irgendwie Klassik passen.«

»Stimmt sogar, aber nicht nur. Alte Rockbands hör ich auch gern.«

Sie stand auf und ging zu einem CD-Regal.

»Mal sehen, was wir da so haben.«

Christian wäre gerne noch geblieben, aber er hatte das Gefühl, dass es heute nicht angebracht sei. Er war nicht ehrlich zu ihr, verschwieg seine Identität.

»Uriah Heep, würde Ihnen das gefallen?«

»So alte Klamotten haben Sie? Klar, das gefällt mir.«

Sie nahm die CD und wollte sie gerade in den Player schieben, als sie bemerkte, dass Christian dicht hinter ihr stand. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie keinesfalls erschreckt, im Gegenteil, sie drehte sich zu ihm um und empfand ein wohliges Gefühl. Als er seine Hände vorsichtig auf ihre Schultern legte, spürte sie eine angenehme Wärme in sich aufsteigen.

»Janine.«

»Ja, Christian?«

»Ich hoffe, dass dies nicht der letzte Abend ist, an dem wir uns treffen. Oder besser gesagt, dass es der Anfang von vielen Treffen ist. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Seien Sie mir bitte nicht böse.«

Das wohlige Gefühl bei ihr war wie weggeblasen.

»Wenn Sie meinen«, erwiderte sie kühl, »vielleicht haben Sie ja recht. Ich hab tatsächlich noch ’ne Menge zu tun. Es ist wirklich besser, wenn Sie gehen.«

»Sie sind sauer, nicht wahr?«

»Überhaupt nicht. Nach der CD hätte ich Sie sowieso weggeschickt.«

Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Auf der Straße angekommen, zündete er sich als Erstes eine Zigarette an und blieb noch eine Weile nachdenklich stehen. Er schaute dann nach oben zu den Fenstern ihrer Wohnung und entdeckte sie hinter der Gardine stehend. Sie deutete mit leicht erhobenem Arm ein Winken an. Christian erwiderte ihren Abschiedsgruß, danach entfernte sie sich vom Fenster. Langsam schlenderte er zu seinem Wagen, der um die Ecke in einer Seitenstraße geparkt war.

In seiner Wohnung griff er nach dem Telefon, zögerte aber noch eine Weile, bevor er Wolfgangs Nummer wählte. Es läutete mehrmals, bis sich eine verschlafene Stimme meldete.

»Ja! Andorrer.«

»Hallo Wolfgang! Ich bin’s, Christian.«

Ein Moment Schweigen.

»Weißt du, wie spät es ist?« Wolfgangs Stimme klang etwas verärgert, doch dann fügte er in besorgtem Tonfall hinzu: »Ist etwas passiert? Geht’s dir nicht gut? Soll ich zu dir kommen?«

»Nein, mir geht’s prima. Hör mal, bei uns muss sich eine gewisse Janine ...«, er musste einen Moment überlegen, um sich an den Namen auf dem Schildchen neben der Wohnungstür zu erinnern, »... Janine Steinbiss als Praktikantin beworben haben.«

Sein Gesprächspartner antwortete nicht, daher fuhr er fort: »Ist dir was davon be­kannt?«

Es war ein lautes Ausatmen zu hören, dann Wolfgangs Stimme: »Ich glaube nicht, dass es dir gut geht. Du rufst mich zu nachtschlafender Stunde an, um mich nach einer Be­werbung irgendeiner Praktikantin zu fragen. Hast du vollends den Verstand verloren?«

»Mensch Wolfgang, sei nicht so pingelig. Es ist noch nicht einmal 24.00 Uhr.«

»Ach ja richtig, geschlagene fünf Minuten müssen noch bis Mitternacht vergehen, das ist in der Tat noch eine halbe Ewigkeit. Da können wir locker noch alle Bewerbungs­schreiben der letzten drei Jahre durchgehen. Das Dumme daran ist nur, dass weder du noch meine Wenigkeit etwas damit zu tun haben. Solche Angelegenheiten bearbeitet Richard. Ist dir das entgangen?«

»Mein Gott, sei nicht so miesepetrig. Hör jetzt zu, was ich dir zu sagen habe. Du holst dir morgen das Bewerbungsschreiben von Janine Steinbiss und rufst sie an.«

 

»Moment mal, wie komme ich dazu, so etwas zu tun, ich meine, sie anzurufen? Ich kann dir meinetwegen morgen Abend den Wisch mitbringen, dann kannst du die Sache erledigen.«

»Das geht leider nicht.«

»Warum?«

»Erklär ich dir, wenn wir uns morgen treffen. Also du rufst sie an und bittest sie um ein Gespräch ins Büro. Das muss aber vor 9.00 Uhr geschehen, danach ist sie nicht mehr zu Hause. Bestell sie für den Nachmittag.«

»Was soll das Ganze? Du tickst wohl nicht mehr richtig; leg dich ins Bett und schlaf dich aus. Morgen sprechen wir noch mal darüber.«

»Ich lass nicht gern den Chef heraushängen, aber jetzt tu ich es. Also noch einmal: Ruf sie morgen vor 9.00 Uhr an.«

»Bin ich sonst gefeuert?«

Christian seufzte: »Nein, natürlich nicht. Entschuldige bitte. Aber ich fleh dich an, tu mir bitte diesen Gefallen.«

Es kam keine Antwort, die Leitung schien unterbrochen.

»Wolfgang, bist du noch dran?«

»Ja. Bin ich.«

»Dann sag doch was. Wirst du meine Bitte erfüllen?«

»Ich blick zwar überhaupt nicht durch, aber des lieben Friedens Willen und nicht zu­letzt wegen meiner verdienten Nachtruhe versprech ich’s dir. Um wie viel Uhr möchtest du diese Janine Dingsbums in deinem Büro sprechen?«

»Überhaupt nicht.«

Wieder herrschte eine Weile Stille, bis sich Wolfgang zu Wort meldete: »Aha! Darf ich das Ganze als einen Versuch deinerseits verstehen, mich mit in den Wahnsinn zu treiben?«

»Du wirst sie in dein Büro bestellen und ihr nach dem Gespräch mitteilen, dass sie den Job bekommt, verstanden?«

»Nein.«

»Du darfst mich mit keinem Sterbenswörtchen erwähnen, klaro?«

»Nein.«

»Janine weiß nicht, wer ich bin.«

»Das verstehe ich allerdings, ich weiß es nämlich inzwischen auch nicht mehr.«

»Das Mädchen sucht einen Job als Praktikantin in einer renommierten Werbeagentur, und den soll sie haben.«

»Okay, auch das verstehe ich, das muss dann verdammt schnell gehen.«

»So ist es.«

»Klar, denn wenn du so weitermachst, kann man bald das Wort ›renommiert‹ in Zusammenhang mit der Agentur Maurer streichen.«

»Mein Gott, Wolfgang, ich hab sie kennen gelernt und es liegt mir am Herzen, dass sie den Job bekommt. Sie weiß nicht, dass der Typ, mit dem sie über ihren Wunsch, bei uns zu arbeiten, gesprochen hat, Christian Maurer ist. Ist das wirklich so schwer zu kapieren?«

Sein Gesprächspartner pfiff durch die Zähne. »Du hast dich heftigst verknallt, da liegt also der Hase begraben. Du meine Güte, unser Chef ist liebeskrank. Da wird Kerstin Augen machen!«

Christian quittierte die letzte Bemerkung mit einem »Grrh!« in einer Lautstärke, dass es Wolfgang beinahe das Trommelfell zerrissen hätte, und fügte dann hinzu: »Wenn du nur die winzigste Andeutung dieser Frau gegenüber machst, kaufe ich einen Strick und erschieße dich damit in der Weise, dass die Klinge auf der anderen Seite heraus­schaut.«

Wolfgang lachte herzlich. »Meine Bemerkung bezüglich Kerstin war nur die Retour­kutsche für deine nächtliche Ruhestörung. Ist doch klar, dass ich ihr nichts sage, könnte ja sonst gleich einen öffentlichen Aushang in der Firma aufhängen.«

»Gut, erledigst du die Sache nun für mich, und zwar so diskret wie nur irgend mög­lich?«

»Mach ich, Christian.«

»Ehrenwort?«

»Indianerehrenwort. Aber jetzt lass uns endlich schlafen. Wir sehen uns ja morgen, äh ...«, Wolfgang schaute offenbar auf seine Uhr, » ... heute Abend. Gute Nacht.«

»Ebenso. Vielen Dank.«

Christian rieb triumphierend die Hände und war sich absolut sicher, einen seiner besten Coups eingeleitet zu haben, eine geniale Werbekampagne in eigener Sache.

Im Badezimmer war er versucht, den verhangenen Spiegel etwas zu lüften, in der Hoffnung sein Alter Ego sei an seinen ordnungsmäßigen Platz zurückgekehrt.

Aber dann entschloss er sich, es besser bleiben zu lassen. Seine gute Laune wollte er mit in den Schlaf nehmen und nicht durch einen Blick in den Spiegel verderben lassen.

Den nächsten Morgen ließ er, wie schon an den vergangenen Tagen, langsam angehen, obwohl er eine gewisse innere Anspannung nicht verleugnen konnte. Nachdem er aus­giebig geduscht und sich sorgfältig angekleidet hatte, schlenderte er zum Bistro und ließ sich an seinem Stammplatz nieder.

Janine konnte er zunächst nirgends entdecken, was ihn ein wenig melancholisch stimmte. Aber plötzlich stand sie, wie aus dem Nichts kommend, neben seinem Stuhl.

»Guten Morgen, Christian. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«

»Danke, und Sie?«

»Ebenso.«

»Ist dieser Kerl gestern noch einmal vor Ihrem Haus aufgetaucht?«

»Ich habe nicht darauf geachtet. Glaub aber kaum, dass der es gewagt hätte, noch einmal zu erscheinen, nachdem er Ihnen begegnet war. – Ich komme gleich an Ihren Tisch zurück.«

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis sie mit Christians Frühstück wiederkehrte. Als sie die Sachen auf dem Tisch servierte, bemerkte er ihre zittrige Hand; die Espres­sotasse wäre ihr beinahe hingefallen.

»Die bevorstehende Klausur scheint Sie reichlich nervös zu machen«, bemerkte er eher beiläufig.

Sie schaute ihn an, schien kurz zu überlegen und setzte sich dann auf den ihm gegenüber stehenden Stuhl.

»Nanu, heute keine Angst vor Antonios Rüge?«, fragte er amüsiert.

»Ach, der kann mich mal. – Nein, die Klausur hab ich fast schon vergessen. Stellen Sie sich vor: Ich habe heute Morgen einen Anruf erhalten, raten Sie mal von wem. – Ach was, kommen Sie sowieso nie drauf. Können Sie sich an unser gestriges Gespräch über Werbeagenturen erinnern?«

Er nickte und schaute sie fragend an.

»Die Agentur Maurer war dran.«

»Nein, wirklich?«, fragte er scheinheilig. »Dieser, wie nannten Sie ihn gestern? Dieser arrogante Pinkel hat angerufen?«

»Ich sagte, wahrscheinlich ist er ein arroganter Pinkel; woher soll ich das wissen, kenne den Typen doch gar nicht. Außerdem war er nicht selbst am Apparat.«

Christian nippte an seinem Orangensaft und Janine fuhr fort: »Nein, nehme an, es war einer seiner Sklaven.«

Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da verschluckte er sich derart heftig, dass er den Orangensaft ausprustete und eine Hand hektisch vor den Mund hielt.

»Um Gottes Willen, was ist passiert?«

Nachdem er tief Luft geholt hatte, antwortete er mit krächzender Stimme: »Ihre Wortwahl – einer seiner Sklaven. Köstlich, hat mich einfach furchtbar amüsiert.«

Janine konnte in diesem Moment seine Auffassung von Humor nicht so recht teilen, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern fuhr fort: »Die haben mich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, heute Nachmittag. Verstehen Sie? Vielleicht krieg ich ’ne Chance, ein Praktikum dort zu machen.«

Sie sah ihn erwartungsvoll an.

»Sind Sie die Einzige oder gibt es mehrere Bewerber?«

Darüber hatte sie offenbar noch gar nicht nachgedacht.

»Sie verstehen es prima, mir Mut zu machen«, erwiderte sie in einem leicht resignierten Tonfall. »Was weiß ich? Ich habe nicht danach gefragt. Ein gewisser Herr ..., wie hieß er noch gleich? Herr ..., Herr ... klang so ähnlich wie der Name eines Kleinstaates ...«

Unwillkürlich musste Christian lächeln und wäre ihr nur zu gerne mit der Nennung Wolfgangs Nachnamen zu Hilfe gesprungen, konnte es sich aber verbeißen.

»Andorra! Ganz genau, so heißt er.«

»Sie meinen diesen Sklaven?«

»Genau den mein ich. Also, der hat gesagt, meine schriftliche Bewerbung klänge sehr vielversprechend. Ich solle heute Nachmittag vorbeischauen, dann würde alles Weitere geklärt werden.«

»Na, das klingt doch wirklich sehr gut. Demnach bekommen Sie den Job bestimmt.«

Janines Gesichtsausdruck hellte sich deutlich auf.

»Ich drücke jedenfalls beide Daumen für Sie.«

»Das ist lieb von Ihnen. Falls es klappt, habe ich es also Ihnen und Ihren Daumen zu verdanken.«

Gott sei Dank hatte Christian bei ihrem letzten Satz keinen Orangensaft im Mund, sonst wäre ein weiteres Verschlucken unvermeidlich gewesen.

Von der Theke war plötzlich die Stimme Antonios zu hören: »Janine!«

Sie verdrehte die Augen und rief zurück: »Schon gut, bin schon unterwegs!« und fügte leise hinzu: »Der ist mich sowieso bald los, wenn’s mit dem Praktikum klappt.«

Sie stand auf, um zur Theke zu gehen, Christian hielt sie am Arm fest, diesmal schüttelte sie ihn nicht ab.

»Können wir uns heute Abend sehen? Ich bin furchtbar gespannt, was aus Ihrer Bewerbung wird.«

»Tut mir leid, geht leider nicht. Wenn ich schon heute Nachmittag nichts für meine morgige Klausur lernen kann, muss der Abend dafür herhalten.«

»Und wie steht’s mit morgen Abend?«

Sie verzog ein wenig das Gesicht. »Da wollten wir, also meine Kommilitonen, eigentlich ... Ach was, die können auf mich verzichten. Gut, abgemacht, morgen Abend. In der Früh werd ich übrigens nicht hier sein, wegen der Klausur.«

»Verstehe, ich ruf Sie heute Abend an und frag, ob’s mit dem Praktikum geklappt hat, einverstanden?«

»Einverstanden.«

Als sie ihn in ihrer typischen Art und Weise anlächelte, fühlte er sich wie ein Stück Butter, das in der Sonne dahinschmilzt.

Als Janine an der Theke ankam, raunte Antonio sie an: »Wenn du berufliche Kontakte knüpfen willst, ist das hier der falsche Ort.«

Beinahe fassungslos erwiderte sie: »Was soll denn das bedeuten?«

»Was hast du denn mit dem Typen eben besprochen?«

Wütend zischte sie zurück: »Das geht dich einen Scheißdreck an«, drehte sich um und murmelte, ohne dass Antonio es hören konnte, zu sich selbst: »Glaubt der etwa, weil ich Psychologie studiere, mach ich mit einem seiner Gäste eine Psychoanalyse?«

Als Christian sein Frühstück beendet hatte, zahlte er bei Antonio an der Theke.

»Was wollte die Kleine eigentlich von dir?«

Christian schaute ihn erstaunt an und meinte: »Wieso? Wüsste nicht, was dich das angeht.«

»Ich möchte dich nur warnen: Sie studiert Psychologie, und da ist es schwer, einen Job zu bekommen. In deiner Branche stellt man doch Seelenklempner ein, bist ja selber einer. Vielleicht ist ihr Interesse an dir rein pragmatischer Natur.«

»Blödsinn, sie weiß gar nicht, was ich beruflich mache ... – oder hast du ihr etwa gesteckt, wer ich bin?«

Antonio winkelte beide Arme leicht an, zuckte mit der Schulter und sagte: »Ich halte es wie die drei Affen: Nix hören, nix sehen, nix sagen. Von mir hat Janine nichts erfahren, dachte, du wirst es ihr wohl erzählt haben.«

»Hör zu Antonio: Du wirst ihr auch in Zukunft nichts über mich mitteilen; ist das klar?«

Schmunzelnd erwiderte der Angesprochene: »Ganz wie du willst. Scheinst ein Versteckspiel mit der Kleinen zu treiben. Man könnte fast meinen, anstatt dich vor ihr zu warnen, müsste es umgekehrt sein. Aber ich halt meinen Mund.«

»Das will ich dir auch geraten haben, wenn du ...«

Er wurde jäh von Antonio unterbrochen: »Ich glaub, ich seh’ mir die Spiele im Fernsehen gar nicht mehr an. Bayern wird sowieso immer Meister.«

Ist Antonio jetzt übergeschnappt? Dann hörte er Janines Stimme hinter sich.

»Zwei Espresso und zwei Croissants für Tisch sechs.«

Christian drehte sich um und sie lächelte ihn an.

»Wollte ..., äh, wollte gerade gehen, tschüss, bis morgen.«

»Bis morgen.«

Als sie ihren Blick von Christian ab- und zu Antonio hinwandte, gefror ihr Lächeln zu einer eisigen Miene.

Vergnügt eilte Christian die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Er stellte verwundert fest, dass Melanie vor der Tür auf ihn wartete.

Die Art und Weise, wie sie ihn anschaute, ließ nichts Gutes erahnen.

»Hallo Melanie! Schön dich zu sehen. Willst du auf ’ne Tasse Tee oder Kaffee mit reinkommen?«

Er hatte noch nicht den Schlüssel ins Schloss gesteckt, da spürte er eine heftige Ohrfeige von Melanies Hand in seinem Gesicht. Vor Schreck ließ er den Schlüssel fallen.

»Du Scheißkerl, du bist ein richtig mieser Typ!«, brüllte sie ihn an.

Noch bevor er etwas erwidern konnte, schrie sie weiter: »Mit so einem Mistkerl wie dir will ich nichts mehr zu tun haben. Scher dich zum Teufel, du Arschloch!«

Sie holte für eine zweite Ohrfeige aus, aber diesmal war Christian vorbereitet und hielt ihren Arm fest.

»Moment mal, was ist denn los mit dir? Warum drehst du denn so durch?«

 

Sie riss sich los und polterte von Neuem, wobei ihr die Tränen übers Gesicht liefen: »Das fragst du noch? Kannst du überhaupt noch in den Spiegel schauen?«

»Kommt drauf an, ob im Bad oder Flur.«

Melanie hatte die Antwort zweifellos nicht verstanden, aber ihre Wut nahm noch weiter zu.

»Mach dich nur über mich lustig. Ab heute kenne ich dich nicht mehr, nicht mal grüßen werde ich, wenn ich dir auf der Straße begegne. Ich würd’ dich am liebsten erschießen, aber du bist die Kugel nicht wert, die dabei verschwendet würde.«

Sie kramte aus der Handtasche einen kleinen Schmuckkasten hervor, knallte ihn auf den Boden, wobei er zerbrach und sich etliches Kleinod vor der Wohnungstür verteilte. Christian erkannte die Schmuckstücke, die er Melanie während ihrer Beziehung geschenkt hatte: Ohrstecker, Kreolen, Ringe, sogar das Collier, das er ihr anlässlich ihrer letzten Versöhnung gekauft hatte, fehlte nicht.

Jetzt herrschte absolute Stille.

Melanie drehte sich um und ging schnellen Schrittes davon. Christian wollte etwas sagen, aber sein Hals war wie zugeschnürt, er brachte keinen einzigen Ton heraus. Noch eine Weile betrachtete er fassungslos die am Boden liegenden Schmuckstücke. Irgendwo in seiner Etage wurde vorsichtig und leise eine Wohnungstür geschlossen.

Langsam hob er nun die Sachen und seinen Schlüssel auf. Beim Betreten der Wohnung bemerkte er, wie ein Tropfen einen kleinen nassen Fleck auf seiner Hemdmanschette hinterließ. Auch ihm waren die Tränen gekommen.

Als Janine die Büroetage der Firma Maurer betrat, war sie einigermaßen beeindruckt. Sie ging durch einen lang gezogenen, hell beleuchteten Flur, der so breit war, dass auf beiden Seiten des Ganges verschiedene Sitzmöbel platziert waren, teilweise Designerstühle, aber auch kleine Sessel im klassischen Stil, dazu die passenden Tischchen. Die Wände waren mit modernen Ornamenten bunt dekoriert, hin und wieder unterbrochen durch ein Bild mit moderner Kunst.

Insgesamt wirkte der Flur sehr elegant mit einem avantgardistischen Touch. Die Türen waren in demselben farblichen Grundton gehalten wie die Wände, so dass man auf den ersten Blick nur an den Namensschildern erkennen konnte, dass es Eingänge waren.

Janine suchte nach dem Büro »Andorrer«, als sie von einer jungen Frau angesprochen wurde.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»Ja, gerne, ich habe einen Termin bei Herrn Andorrer, wo finde ich ihn?«

»Ich zeig’s Ihnen, kommen Sie bitte mit.«

Die freundliche und heitere Art der Dame wirkte irgendwie ansteckend. Sie war etwa in Janines Alter, hatte schwarzes Haar, leuchtende Augen und machte einen lebhaften Eindruck. Janine dachte angestrengt nach, denn die Frau kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sie nicht recht einordnen.

Wahrscheinlich war sie irgendwann mal im Bistro gewesen.

»Hier sind wir, ich frage kurz nach, ob er da ist. – Ach was, wenn Sie einen Termin bei ihm haben, wird er auf jeden Fall da sein, gehen wir direkt zu ihm.«

Sie betraten ein Vorzimmer, wo eine Sekretärin intensiv am Computer beschäftigt war, ihre Arbeit jetzt aber unterbrach, um Janine zu begrüßen und sie ins Büro ihres Chefs zu geleiten. Wolfgang bot ihr einen Platz an einer kleinen Sitzgruppe an und setzte sich ihr gegenüber. Der Mann war ihr an sich nicht unsympathisch, aber ihr missfiel sein musternder Blick; sie war es durchaus gewohnt, dass der ein oder andere Gast sie im Bistro bewundernd anschaute, aber bei einem Bewerbungsgespräch hatte sie etwas anderes erwartet.

Das Gespräch neigte sich dem Ende.

»Gut, Sie haben den Job, Frau Steinbiss«, meinte Wolfgang schließlich, »wenn Sie wollen, können Sie schon morgen anfangen.«

»Das geht leider nicht. Ich muss morgen eine Klausur hinter mich bringen.«

»Auf den einen Tag kommt’s auch nicht an. Sagen wir einfach: Sie kommen zum nächstmöglichen Termin. Jetzt wollen Sie sich sicherlich unsere Räumlichkeiten kurz anschauen. Einen Moment bitte.«

Er griff zum Telefon und wählte eine Kurznummer. Der Freisprecher war eingeschaltet, Janine konnte das Gespräch mitverfolgen.

»Ja bitte?«, meldete sich eine weibliche Stimme.

»Hast du im Moment was zu tun?«

»Nein, natürlich nicht. Du weißt doch, dass ich hier den ganzen Tag nur rumsitze und Däumchen drehe.«

Jetzt erkannte Janine die Stimme als zu der jungen Frau gehörend, die ihr vorhin geholfen hatte und musste unwillkürlich amüsiert über deren kecke Antwort lächeln, wobei sie eine Hand vor den Mund hielt.

»Wenn dem so ist, kannst du Frau Steinbiss unsere Büros zeigen.«

»Gerne, bin sofort da. Sie kann von mir auch einen Kaffee bekommen, denn so wie ich dich Stoffel kenne ...«, Wolfgang nestelte umständlich an seinem Telefon herum und versuchte die Freisprechanlage auszuschalten, was ihm jedoch nicht gelang, »... hast du ihr keinen angeboten.«

Janine musste sich größte Mühe geben, um nicht hörbar zu lachen.

Das Telefongespräch wurde von Wolfgang abrupt beendet, bevor seine Gesprächspartnerin noch weitere Peinlichkeiten von sich geben konnte. Er blickte verlegen zu Janine, zuckte mit den Schultern und meinte: »Chefsekretärinnen sind von besonderer Natur, glauben, sich alles herausnehmen zu können.«

Ein paar Sekunden später erschien die junge Frau fröhlich lächelnd in seinem Büro, um Janine abzuholen. Als sie auf dem Flur angelangt waren, fragte sie: »Werden Sie bei uns arbeiten?«

»Ja, als Praktikantin.«

»Mein Name ist Kerstin. Bei uns ist es übrigens üblich, dass sich alle duzen.«

»Einverstanden, ich heiße Janine. Duzen Sie ..., Entschuldigung, duzt du auch deinen Chef?«

»Klar, wie gesagt, ist üblich hier.«

»Ich als Praktikantin werde mich das aber am Anfang nicht getrauen. – Wie ist er eigentlich so, der Herr Maurer?«

»Chrissie? Och, der ist ganz in Ordnung. Zurzeit steckt er in einer Krise, total überarbeitet, weißt du. Ist im Moment nicht in der Firma, weil er ein paar Tage Urlaub macht. Das ist auch besser so, denn wenn er schlechte Laune hat, kann er hin und wieder unerträglich sein. Du wirst ihn sicher bald kennen lernen.«

»Und dieser Herr Andorrer, was muss man von dem erwarten?«

»Wolfgang ist der ruhende Pol in der Firma, ein Pragmatiker, sozusagen das Gegenstück zu unserem Chef. Während Chrissie unheimlich kreativ und ideenreich ist, setzt Wolfgang die Gedanken unseres Chefs in die Tat um.«

»Demnach ergänzen die beiden sich recht gut.«

»So ist es. Die beiden kommen prima miteinander aus. Wolfgang wird auch sicherlich bald Teilhaber in der Firma.«

Kerstin führte Janine noch durch etliche Zimmer und stellte ihr alle möglichen Leute vor, deren Namen sie aber sofort wieder vergaß. Zum Schluss tranken sie noch gemeinsam Kaffee.

Ich glaube, mit dieser Kerstin werde ich gut auskommen, dachte Janine, als sie die Büroräume verließ; irgendwie kommt die mir bekannt vor. Ich werd sie bei passender Gelegenheit mal fragen.

Auf dem Bürgersteig angekommen, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen, als sie Christian auf der anderen Straßenseite entdeckte, der sie allerdings noch nicht bemerkt hatte. Sie wollte gerade nach ihm rufen, da merkte sie, dass es sich gar nicht um Christian handelte; die Frisur stimmte nicht. Oh mein Gott!, schoss es ihr in den Kopf, Das ist dieser Spanner. Sie wäre am liebsten zu ihm hingegangen, um ihm ordentlich ihre Meinung zu geigen.

Aber der Verkehr war so dicht, dass sie die Straße nicht rechtzeitig überqueren konnte und den Mann dadurch bald aus den Augen verlor. Die verblüffende Ähnlichkeit zu Christian hatte sie auch diesmal wieder in Erstaunen versetzt. Ihre gute Laune konnte dieser Kerl aber jetzt nicht verderben, zu groß war ihre Freude über den Job bei der Agentur Maurer. Sie überlegte kurz, ob sie Christian über das Ergebnis des Bewerbungsgespräches informieren sollte; er hatte ihr seine Handynummer gegeben. Also kramte sie ihr Telefon aus der Handtasche und rief ihn an.

»Hallo!«

»Hallo! Ich bin’s, Janine. Ich dachte mir, es interessiert Sie vielleicht, ob ich den Job bekommen habe.«

»Und ob. Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

»Ich hab ihn.«

»Super, das müssen wir morgen Abend feiern. Wann fangen Sie dort an?«

»In zwei Tagen.«

»Herzlichen Glückwunsch, hat mein Daumendrücken also geholfen.«