German Cop

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Aus der Reihe: Mord und Nachschlag
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8.

Die Krathongs mit ihren Kerzen schaukelten wie kleine, runde Boote übers Wasser und trieben flussabwärts. Immer wieder kamen neue Krathongs um die Flussbiegung herum. Nur das unablässige Schrillen der Zikaden und die Rufe der Frösche hallten in die Nacht.

Es war Loy Krathong, das Lichterfest, und Nok schaute nervös zu, wie die Kerzen in den kleinen Booten aus Styropor flackerten und Räucherstäbchen Funken sprühten. Sie stand untätig herum, und sah zu, wie der junge Akha zwei Rucksäcke, die neben einem Motorrad standen, vom Boden aufnahm, sie schulterte und die Böschung hinabstieg, um sie in ein schmales Ruderboot zu legen, das am Ufer im seichten Wasser dümpelte.

»Du bist wahnsinnig«, maulte sie zu ihrem Bruder hin, der auf der Böschung auf und ab ging und die Uferstraße entlangschaute. »Ausgerechnet jetzt, bei all diesen Lichtern. Hattest du nicht etwas von Schleichwegen gesagt?«

»Gerade jetzt«, rief Ton herüber. »Da feiern die Grenzer, auf beiden Seiten. Nur einer nicht«, fügte er lachend hinzu.

»Du hast dein Versprechen gebrochen. Das war das letzte Mal, dass ich …« Nok verstummte. Von der nahen Grenze her kamen zwei Scheinwerfer schnell näher, und Nok erkannte bald, dass es ein Armeefahrzeug war, das auf sie zusteuerte.

»Bleib ruhig, Nok. Ich weiß, was ich tue.« Ton blieb gelassen stehen.

Auch der Akha schaute nur kurz auf und warf die Rucksäcke ins Boot. Er war ein stämmiger junger Mann mit großen, hellen Augen. Er lachte, als er Noks Aufregung bemerkte, und zeigte seine starken Zähne, die weiß im Dunkel leuchteten. Nok sprang über die Ufersteine an ihm vorbei ins Boot. Wenn das hier schiefgehen sollte, würde sie sich das Ruder schnappen und versuchen, schnell zum anderen Ufer zu gelangen. Oder lieber durchs Wasser waten? Das waren ja nur zehn, zwölf Meter bis an die thailändische Seite. Nok blieb unschlüssig im leicht schaukelnden Boot stehen. Sie suchte Balance zu halten und beobachtete, wie Ton auf den Wagen zuging, der scharf auf der Sandpiste bremste.

Ein Mann mit mürrischem Gesicht stieg bei laufendem Motor aus. Er trug eine olivfarbene Uniform mit einem großen roten Stern auf dem Ärmel seiner Jacke. Ton grüßte zackig wie ein Soldat, indem er die rechte Hand an die Stirn hielt, und lachte. Der Mann erwiderte nichts, ging auf Ton zu, und Nok hörte, wie Ton etwas auf burmesisch sagte. Der Mann hielt die Hand auf, und Ton legte einen Umschlag hinein, den der Grenzer schnell in der Innentasche seiner Uniform verschwinden ließ, ohne etwas zu sagen, ohne jegliche Regung. Der mürrische Blick blieb auf Ton haften, wechselte dann auf den Akha, der mit einem Fuß auf dem Bootsrand stand, und schließlich auf Nok. Kalt, ein kalter Bick, und Nok bekam von Neuem Angst, während sich einige der Krathongs mit ihren flackernden Lichtern an der Außenwand des Bootes vorbeimogelten. Kleine Stücke von Kiwis und Bananen lagen darin sowie chinesisches Gebäck. Nok erkannte die roten Schriftzeichen darauf, die aussahen wie gestempelt, wie postalische Absender aus China. Nok wusste, dass auch Fingernagelstücke und Haarsträhnen derjenigen darin lagen, die die Krathong aufs Wasser gesetzt hatten, vielleicht 500 Meter entfernt von hier, unter der Grenzbrücke. Eine Kerze auf einem der Krathongs war bereits im Wind erloschen, und Nok hätte sie am liebsten wieder angezündet, um die Wünsche, die mit diesem Krathong ausgesandt worden waren, erfüllbar zu halten, aber auch um etwas zu tun zu haben, da der Blick des Grenzers immer noch auf ihr lag. Dann drehte er sich abrupt um, stieg in den Wagen und fuhr mit hohem Tempo los. Sand spritzte auf. Nok nahm erst jetzt wieder die Zikaden und die Frösche wahr, als wären sie für Minuten verstummt gewesen.

Ton sprang die Böschung hinab und stieg ins Boot, während der Akha sich das Ruder nahm und mit langsamen Bewegungen das andere Ufer ansteuerte.

»Wenn du diese verdammten Pillen nicht wieder dabei hättest, könnten wir uns sogar das Boot sparen und durchs Wasser gehen«, hetzte Nok. »Aber das Zeug darf ja nicht nass werden.«

»Weißt du noch, wie du als Kind hier abgetrieben bist, bis dort drüben? Weil du dich mit der Strömung verschätzt hast?«

»Rubine können ruhig nass werden. Das schadet denen nicht.«

»Und wie Vater dich anschließend verprügelt hat, weil du ins Wasser gegangen bist, obwohl er es uns verboten hatte?«

»Er hätte besser dich verprügeln sollen!«

»Lass mal, Nok. Vielleicht haben wir solche Aktionen in Zukunft nicht mehr nötig.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass unser leider verblichene Bun gar nicht so unrecht hatte. Man kann das ganze Zeug doch viel leichter über Burma verkaufen. Auch die Steine, und mit den Amphetaminen, das geht dich ohnehin nichts an. Wir brauchen diesen Übergang hier eigentlich gar nicht. Dann sparen wir uns auch das Geld für diesen burmesischen Grenzer. Irgendwann wird der ohnehin noch gieriger oder er wird komisch, fängt an zu drohen, was weiß ich?«

»Ich sag’s dir doch: Das ist zu riskant, nicht nur wegen diesem Grenzer. Das alles gefällt mir nicht«, erwiderte Nok, während der Akha das Boot seitlich gegen den Uferrand der thailändischen Seite steuerte. »Das wird vor allem Dääng nicht gefallen. Wenn du an dem vorbeiwirtschaftest, kriegst du schnell ein Problem. Da kannst du sicher sein. Hast du schon mal daran gedacht, dass Bun vielleicht deswegen getötet worden ist?«

Ton antwortete nicht. Nok sprang aus dem Boot und lief flink die wenigen Meter die Böschung hinauf, schaute sich um und lauschte in die Nacht: nichts als Frösche und Zikaden. Drüben am Wegesrand stand das Motorrad, mit dem sie am Morgen gekommen waren, bevor sie übergesetzt hatten.

»Man darf das eben nicht so plump machen wie Bun«, rief Ton hinauf, während er sich vom Akha einen der Rucksäcke reichen ließ. Nok stand oben mit verschränkten Armen und beobachtete, wie der Akha den zweiten Rucksack ans Ufer legte und begann, das Boot an einem kleinen Steg zu vertäuen. Um das Motorrad drüben auf der burmesischen Seite würde sich ein Freund kümmern. Die Akha siedelten zu beiden Seiten der Grenze. Sie führten ein möglichst unabhängiges Leben und wickelten ihre Geschäfte ab, als wäre da keine Grenze. Und auch, wenn ihre Dörfer auf beiden Seiten immer mal wieder vom Militär nach Rauschgift durchsucht wurden, war die Gefahr, des Handels überführt zu werden, sehr gering, zumal Offiziere oft selbst in den Handel verstrickt waren. Die Kuriere, die an den Kontrollposten der thailändischen Armee und der Polizei im Hinterland erwischt wurden, waren »kleine Fische«, Gelegenheitsdealer, die so unvorsichtig waren, den Bus in die Provinzhauptstadt Chiang Rai zu nehmen.

Ton startete das Motorrad und wartete darauf, dass Nok und der Akha hinter ihm Platz nahmen. Die Strecke ins burmesische Hinterland, die sie am frühen Morgen genommen hatten, war weitaus beschwerlicher als das, was jetzt noch vor ihnen lag, ein paar Hügel, mehr nicht. Aber die 40 Kilometer bis zu diesem kleinen burmesischen Ort an der laotischen Grenze waren zu dritt kaum zu bewältigen. Mehrere Male musste der Akha absteigen und hinter dem Motorrad herlaufen, weil die Anstiege zu steil waren, während Ton seine Schwester auf der Bergkuppe absetzte und ein Stück weit zurückfuhr, um den Akha nachzuholen. Was für ein Aufwand!

Dann die endlos lange Zeit, die sie in der stickigen Hütte des Edelsteinhändlers beisammen hockten, weil Nok die Rubine ewig lange hin und her schob und von allen Seiten durch die Lupe ins Visier nahm, auf der Suche nach irgendwelchen Mängeln wie Gaseinschlüssen, Kratzern und Kerben, die mit einem Schliff nicht zu beseitigen waren. Nok hatte mehr Erfahrung als Ton. Sie holte sogar aus ihrer Handtasche eine kleine Kunststoffbox mit heller Immersionsflüssigkeit hervor, legte ein paar Steine hinein, um verborgene Mängel, Risse oder Einschlüsse besser erkennen zu können. Das dauerte, und das spindeldürre Männlein hinter dem groben Holztisch verdrehte genervt die Augen. Es verfluchte die Tatsache, dass Ton auf die Idee gekommen war, unbedingt seine Schwester mitbringen zu müssen.

Nok hatte schon früher in Mae Sai mit Rubinen gehandelt. Ihr machte man so leicht nichts vor. Lange Jahre hatte sie inmitten des Viertels der Edelsteinhändler ein kleines Geschäft betrieben, hatte wie alle anderen an der Straße mit einer Lupe gebeugt an einem Tisch gesessen, mit einer Pinzette in kleinen Häufchen von Rubinen gestochert und die aussortierten Steine an einen jungen Mann mit flinken Fingern weitergereicht, der hinter ihr am Schleifband saß. Schon damals reihte sich ein Laden an den anderen, immer mehr zwielichtige Händler waren hinzugekommen, die ahnungslose Touristen übers Ohr hauten. Einige Ladeninhaber sahen sich genötigt, auf großen Metallschildern zu verkünden, dass sie garantiert mit echten Steinen handeln würden. Das Geschäft im Ort war zusehends verkommen und das Misstrauen untereinander schnell gewachsen. Das war der eigentliche Grund, warum Nok nach Bangkok gewechselt war.

Als Nok die Lupe endlich beiseitegelegt hatte, und man sich nach weiteren zähen Verhandlungen über den Preis einigte, wünschte sich das Männlein, diese Frau nie wieder zu sehen, strich freudlos die thailändischen Banknoten ein und sah gequält lächelnd Ton an, während Nok die in kleine Cellophantüten verstauten und in Papier eingewickelten Steine in einen der Rucksäcke legte. Draußen fuhr sie sofort ihren Bruder an, weil sie diese kleinen, fest verschnürten Bündel im Rucksack entdeckt hatte, die nur zu einer Gelegenheit dort hineingekommen sein konnten: Als der Freund des Akha ihnen das Motorrad gleich hinter der Grenze überlassen hatte.

»Sag mal, wie leichtsinnig bist du eigentlich? Wir führen das ganze Zeug hier 40 Kilometer in Burma spazieren und jetzt wieder zurück! Schleichen zu dritt über die Berge mit diesem klapprigen Motorrad. Ich hatte doch deutlich gesagt, ich will das nicht. Schmeiß es weg!«

 

»Nun bleib mal ruhig, Schwesterchen! Ich mach das nicht zum ersten Mal, das weißt du. Vor allen Dingen schreie nicht so rum! Es gibt nicht wenige hier, die verstehen Thai. Und unsere Steinchen sind ja schließlich auch nicht gerade legal, wenn wir die so einfach über die grüne Grenze mitnehmen.«

Die nächtliche Rückfahrt war nicht ganz so anstrengend. Nur zwei Mal sah sich der junge Akha genötigt abzusteigen und einen steilen Berg zu Fuß hochzulaufen, bis Ton kam und ihn mit dem Motorrad nachholte.

Nun auf der thailändischen Seite tuckerten sie zu dritt die Hügel hinauf, während über ihnen erleuchtete Ballons in die Höhe stiegen. Zu Tausenden wurden sie von den Straßenrändern in Mae Sai emporgeschickt. Wie die kleinen Krathongs auf dem Grenzfluss sollten sie die Wünsche der Menschen weitertragen. Irgendwo dort unten saß auch Wagner und hatte zumindest einen Wunsch.

9.

Johann fläzte sich mit lang ausgestreckten Beinen auf einem Sessel im Café des Top North Hotels. Er hielt einen Teller mit Schwarzwälder Kirschtorte in der Hand und aß gemächlich, während er das Treiben auf der Hauptstraße nahe den Grenzanlagen beobachtete. Die Dämmerung setzte ein. In einer halben Stunde, um 18 Uhr, würde die Grenze geschlossen sein. Ein Stau hatte sich auf der linken Seite der Fahrbahn gebildet, meist Pickups mit allen möglichen Waren auf den Ladeflächen. Fliegende Händler mit Handkarren schoben sich dazwischen, Motorräder nutzten die Lücken und drängten sich geschickt in gewagten Slaloms nach vorn. Fußgänger mussten aufpassen, nicht angefahren zu werden. Auf der rechten Fahrbahn kamen Autos und Motorräder zügig von der Grenzbrücke herunter und verteilten sich eilig auf der dreispurigen Straße nach Mae Sai hinein.

Vor dem Eingang des Hotels stellten burmesische Händler ihre Karren mit Textilien, billigem Schmuck und allerlei Nippes auf. Der Nachtmarkt veränderte wie überall in Thailand allabendlich das Straßenbild.

Johann pflückte die Kirsche von der Torte und schob sie mit der Zunge am Gaumen hin und her. Er beobachtete Wagner, der im Stehen seinen kleinen Rucksack kontrollierte.

»Was willst du mit der Kamera? Ein Familienfoto machen, bevor sie dich schnappen?«

Wagner antwortete nicht. Er nahm ein kleines, blau-gelbes Wörterbuch heraus, nickte und stopfte es wieder in den Rucksack zurück.

»Ich sag’s dir nochmal: Du bist so schnell weg vom Fenster, da hast du noch nicht mal nachgeschlagen, was ›Bitte, bitte‹ heißt. Und denk daran, falls sie dich festnehmen: Wir kennen uns nicht, okay?«

An den Kontrollposten waren die beiden am frühen Morgen im Bus tatsächlich nicht kontrolliert worden. Während die Polizisten die Einheimischen und vor allem Burmesen sehr genau checkten, ließ man Farang meist in Ruhe. Aber verlassen konnte man sich darauf nicht, und Johann konnte es immer noch nicht fassen, mit welcher Naivität Wagner herumreiste. Andererseits fand er zunehmend Gefallen an der ganzen Angelegenheit. Es versprach spannend zu werden. Und mit etwas Distanz konnte er sich das, was da kommen würde, in Ruhe anschauen, ohne sich selbst zu gefährden.

Wagner zog den Reißverschluss zu und schulterte den Rucksack.

»Was musst du die lieben!«, spottete Johann mit der Kirsche im Mund. »Denk doch mal nach: Wenn die Eltern wissen, wer du bist, ist das allererste, was sie tun, die Polizei anzurufen. Schon allein, weil sie hoffen, dass die Nok dann in Ruhe lässt.«

»Glaube ich nicht. So sind die nicht!«

»Ach ja klar. Weil Nok von ihnen abstammt. Und weil die auch nicht so ist. Kennen wir, die Leier.« Johann stieß seine Gabel hart in die Torte und schob sich ein großes Stück in den Mund. Schokoraspeln regneten auf sein T-Shirt. Hinter ihm bearbeitete ein Amerikaner mit langem Pferdeschwanz den etwas zu fest gebackenen Mürbeteig einer Käsetorte. Das Top North Hotel war so etwas wie eine Absteige für Alt-Hippies, die sehnsuchtsvoll daran zurückdachten, wie sie vor 40 Jahren hoch oben in den Bergen Opium geraucht hatten. Nun saßen sie im zur Straße hin offenen Café, verzehrten Kuchen, wie sie ihn von ihren Großmüttern her kannten, und erzählten sich, was sie sonst noch alles vor 40 Jahren erlebt hatten. Bier zum Kuchen war hier nicht unüblich, und manche hatten sich mittlerweile der thailändischen Sitte angepasst und kippten Eiswürfel ins Glas. Was sie fast alle vereinte, stand ihnen ins Gesicht geschrieben: zu viel Alkohol. Müde Augen, verbrämte Gesichter, bei all der Erfahrung und den Abenteuern. Dagegen sah Wagner recht frisch aus. Er war ja auch das erste Mal in Thailand.

»Also: Thanon Müang Dääng, Soi Sii«, plapperte Wagner die Adresse nach, die Johann ihm bestimmt zehn Mal vorgesagt hatte.

»Genau. Wobei du Sii von oben nach unten betonen musst, sonst versteht dich niemand.«

Später, es war schon dunkel und Wagner hatte gar nicht nachfragen müssen, stand er in der Linkskurve einer schmalen Straße vor einem großen grünen Metalltor. Das musste die Adresse sein, wenn Johanns Recherchen richtig waren. Der hatte einfach in den Markthallen nach einer »Mää khai muu yong« gefragt, nach »der Mutter, die getrocknete Schweinefleischfasern verkauft.« Diese Information hatte er Nuan im Pub in Bangkok noch entlocken können, so angeschlagen, wie der war. Der kannte diese Fleischfasernmutter zwar nicht, aber Nok hatte ihm das wohl irgendwann mal erzählt. Dafür kannte man die Frau, die nicht nur Mutter der getrockneten Schweinefleischfasern, sondern auch Noks Mutter war, in den Markthallen umso besser.

Nun stand Wagner also vor dem Tor und lugte darüber hinweg auf ein großes weißes Haus. In der oberen Etage brannte Licht, zwei Neonröhren an den Außenwändern bestrichen matt das Grundstück, auf dem in einer langen Reihe Palmen standen.

Was tun? Wagner ruckte vorsichtig am Tor, das über Rollen in einer Führung geöffnet werden konnte. Sogleich gab eine kleine Glocke Laut. Sie war am oberen Rand des Tores befestigt. Ein Hund kläffte hell. Wagner war einigermaßen beruhigt. Das konnte zumindest kein großes Tier sein. Wagner schob das Tor ganz langsam zur Seite, um möglichst nicht wieder die Glocke zu betätigen, und schob sich durch die Lücke. Er schaute den sandigen Weg entlang auf die beleuchtete Terrasse. Er sah lange Reihen leerer Flaschen an der Schuppenwand, und Wagner musste gleich wieder an die Armut vieler Familien im Norden und Nordosten des Landes denken, so wie Nok ihm das erzählt hatte: Familien, die nicht zurechtkamen, wo die Männer zu viel Alkohol tranken und die Töchter gezwungen waren, an der Sukhumvit Road in Bangkok Geld zu verdienen. Aber ärmlich sah das hier nicht aus.

Zwei Männer saßen an einem Kunststofftisch über Teller gebeugt, eine ältere Frau hockte auf einem niedrigen Schemel und machte sich mit einer Zange auf einem Grillrost zu schaffen. Daneben ruckte der braun-weiß gefleckte Hund an der Leine und bellte unablässig. Die drei auf der Terrasse drehten die Köpfe, während Wagner schnell durch den Garten näher kam, die Hände schon zum Gruß vor der Brust gefaltet und eine Verbeugung andeutend. So viel hatte er immerhin schon gelernt. Die beiden Männer schauten ihn verwundert an. Die Frau drehte Fleischstücke auf dem Grill und lächelte Wagner an. Wahrscheinlich amüsierte sie sich, weil der sich so linkisch verhielt, und Wagner hoffte, dass sie die Mutter der getrockneten Schweinefleischfasern, und damit auch zwingend Noks Mutter war.

»Nok?«, fragte er rundheraus. »Nok?«

Der jüngere der beiden Männer, die sich ähnlich sahen, schaute misstrauisch herüber. Er hielt die Hand mit den Essstäbchen über den Suppenteller, fischte nach ein paar Nudeln und führte sie lauernd an den Mund. Es war Ton. Er sagte etwas zu dem älteren, grauhaarigen Mann, dessen Gesicht sofort strenge Züge annahm. Die Frau am Grill stand auf, streifte die Hände an der Schürze ab und ging eilig ins Haus.

Wagner wurde unsicher, aber Ton bot Wagner einen Stuhl an und lud ihn zum Essen ein. Er füllte ihm aus einem großen Topf eine Nudelsuppe mit Garnelen in eine Schüssel, dunkel gebratenes Rindfleisch lag auf einem Teller und diverse kleine Schalen mit Chilisaucen standen auf dem Tisch, daneben Broccolistücke in Sojasauce.

»She is not here«, kam es nach Minuten des Essens und Schweigens. Ton pflückte mit den Essstäbchen geschickt kleine Fleischbällchen aus seiner Schüssel. »We don’t know where she is.«

Wagner nickte, während er sichtlich Mühe hatte, die Nudeln mit den Essstäbchen zu fassen.

»But we know who you are.«

Wagner versuchte es mit den Rindfleischstücken, die waren leichter zu greifen, sehr schmackhaft in der Würze, aber unendlich zäh. Er kaute heftig darauf herum. Ton stellte ihm ein Glas Bier hin, mit Eiswürfeln.

»This is her father. I’m her brother.«

»I love Nok«, kam es unvermittelt aus Wagners Mund, der eigentlich noch mit Rindfleisch beschäftigt war. Direkter konnte man kaum sein, oder tumber. Und das in Thailand, wo man erst einmal drumherum redete, und über Gefühle viel später, wenn überhaupt. Aber woher sollte Wagner das wissen? Er war ohnehin mit der Situation überfordert.

»Yes, but she is not here.«

Ton wechselte ein paar Worte mit seinem Vater, der daraufhin aufstand und sich mit einem kurzen Nicken verabschiedete. Wagner sah, wie er im Haus eine Treppe aus teurem Teakholz aufwärtsstieg. Der Mann war sicherlich siebzig Jahre alt, aber so, wie er die Stufen nahm, schien er kerngesund.

Die Mutter der getrockneten Schweinefleischfasern kam wieder aus dem Haus und lächelte Wagner schüchtern an. Sie hatte etwas sehr Liebliches an sich, stellte Wager einen kleinen Teller mit Garnelen-Stäbchen hin und dazu zwei kleine Schalen mit Sojasauce und grüner Meerrettichpaste. Sie nickte einladend und lachte, setzte sich zurück an den Grillrost und unterhielt sich mit ihrem Sohn.

Wagner begann sich wohlzufühlen. Er lauschte den Fröschen nach, die drüben rund um einen Teich quakten, und schaute den Geckos zu, die an der Hauswand unter einem der Neonlichter Mücken jagten, während Ton ihm jedes Mal Bier nachfüllte, kaum dass er einen Schluck getan hatte – auch eine thailändische Sitte. Wagner warf dem Hund, der hechelnd unter dem Tisch bettelte und die Vorderpfoten auf den Rand des Stuhles gestellt hatte, ein Fleischstück zu. Bahnte sich hier eine neue Freundschaft an, ausgerechnet mit einem Hund, einer Spezies, mit der Wagner eigentlich überhaupt nicht konnte? Oder war das eine Art Kompensation, eine Ersatzhandlung, ein Beweis seiner Liebe zu Nok?

Man trank, plänkelte auf Englisch Belangloses, redete über Fußball und über Deutschland als Weltmeister und Wagner musste erklären, wie teuer in Deutschland Autos waren, wie viel man für Strom zu zahlen hatte und wie viel er verdiente. Stunden später wies Ton Wagner ein Zimmer im Erdgeschoss zu, ein kleiner, schlicht eingerichteter Raum, und Wagner war bald eingeschlafen. Später wachte er wieder auf, als er etwas Vertrautes spürte. Nok lag neben ihm, nackt. Sie liebten sich, wie es zwei tun, die völlig spontan zueinander finden, ohne Vorspiel. Da war reine, aber sanfte Begierde, keineswegs fordernd, beinahe absichtslos, als sei der Weg das Ziel. Nie hatte Wagner das Gefühl, dass ihre Hinwendung zu ihm so intensiv war. Genau deswegen war er hergekommen. Die Dinge begannen, für ihn zu laufen.

Am nächsten Morgen war Nok verschwunden. Als Wagner auf die Terrasse trat, saß Ton wieder am Tisch. Er aß eine Suppe, aus der ein Hühnerfuß ragte, und nickte Wagner kurz zu. Weit hinten im Garten bearbeitete der Vater mit einer Harke das Feld. Die Mutter sei schon früh am Morgen zum Markt gegangen, erzählte Ton beiläufig, und dass er nicht wisse, wo Nok sei. Er habe nur aus dem Fenster gesehen, dass sie noch in der Dunkelheit mit einer Reisetasche das Grundstück verlassen habe. Dass er gestern noch behauptet hatte, er wisse nicht, wo Nok ist, schien ihn nicht im Geringsten zu stören.

Wagner konnte es nicht fassen. Hatte er das alles heute Nacht nur geträumt? Was war das für ein Spiel, das sie mit ihm trieb? Wusste Ton, dass sie nachts zu ihm gekommen war? Hatte er sie deswegen womöglich fortgeschickt? Wagner wusste ja mittlerweile, dass es schwer war, die wahren Beweggründe von Thailändern zu erfahren, aber jetzt fühlte er sich völlig ratlos.

»I think she went to the bus station.«

Wagner glaubte Ton nicht, aber was sollte er tun?

»Maybe you stay here for a while and wait until she is back.«

Was sollte das? Wollte Ton verhindern, dass Wagner Nok suchte? Es war alles so rätselhaft.

»You stay here and in the evening we will have friends.« Es sei ja immer noch Loy Krathong, das Lichterfest, und das müsse gefeiert werden.

 

Den Tag verbrachte Wagner mit Spaziergängen durch die Stadt. Er hatte keine Lust auf die Besserwissereien Johanns, und er hatte keine Angst, doch noch von der Polizei aufgegriffen zu werden, nun nach Tagen. Er streifte durch einen kleinen Park, der von einem engen Kanal durchzogen war, kam an einer Siedlung vorbei, in der kleine, schmutzig-graue Häuser dicht beieinanderstanden. Kinder standen barfuß davor und beobachteten Wagner neugierig, weil sie sich nicht erklären konnten, was er hier wollte. Es war eine der Siedlungen von Burmesen. Tagelöhner, die von den Thailändern ausgenutzt wurden, weil sie für weniger Geld arbeiteten, meist auf Baustellen.

Ein paar Ecken weiter entdeckte Wagner einen kleinen Markt, auf dem frisches Gemüse, aber auch Fleisch und Fisch angeboten wurden. Einer der Fischhändler hatte einen kleinen, selbstgebastelten Ventilator mit leise surrendem Motor an die Stange eines Sonnenschirmes gehängt, um die Fliegen zu vertreiben. Wagner probierte am Nebenstand ein paar Stücke eines kleinen, weichen Gebäcks aus Kokosraspeln und Sojamilch. Die Verkäuferin beobachtete gemeinsam mit dem Fischhändler Wagners Reaktion. Sie lachten, als er ein wenig das Gesicht verzog. Es schmeckte sehr süß, sättigte aber auch schnell.

Am Abend kam er zurück, nachdem er eine Weile die Soi Sii gesucht hatte. Die Mutter war im Schuppen an der Kochstelle beschäftigt. Sie lächelte Wagner wieder liebevoll zu. Wusste sie, dass Nok nachts bei ihm war?

»Nok?«, fragte Wagner. »Nok?«

Die Mutter nickte und lachte. Es war ein Lachen aus Verlegenheit, weil sie nicht genau wusste, wie sie mit Wagner umgehen sollte. Sie wies hinüber zur Terrasse, auf der einige Männer am Tisch saßen. Tons Freunde, wie Wagner vermutete. Sie aßen tief über Schüsseln und Tellern gebeugt und palaverten laut miteinander. Man winkte Wagner heran und bald war er Teil der geselligen Runde. Die meisten tranken Bier mit Eiswürfeln, einige Mekongwhiskey mit Sodawasser. Immer wieder stießen sie mit Wagner an: »Chook dii«, was viel Glück bedeutete, aber auch zum Zuprosten verwandt wurde. Sie redeten auf ihn ein, auf Thailändisch, einige in gebrochenem Englisch. Wagner verstand kaum etwas. Und genau genommen unterhielten sie sich weniger mit ihm als über ihn.

Wagner hielt sich an das Essen. Er schnappte sich mit den Essstäbchen dunkel gebratenes Fleisch von einem der vielen Teller. Die gulaschartig aussehenden Stücke waren mit grünen Bohnen und Möhren garniert. Wagner tunkte das Fleisch in Chilisauce und schob es sich in den Mund. Rind war das nicht, dafür war es zu weich. Schwein konnte es auch nicht sein, dazu hatte es einen zu intensiven, geradezu rauen Geschmack. Wagner tippte auf Wild, also Kaninchen? Wagner kaute langsam und spürte dem Geschmack im Nachgang hinterher. »What is this?«, fragte er Ton, indem er mit den Stäbchen darauf zeigte.

»Ah, you don’t like it?«

»Yes, I like. But what is it?«

»Dog. Chook dii!« Ton prostete gut gelaunt Wagner zu. Das Fest war im vollen Gange, und am Himmel schwebten wieder die hell erleuchteten Ballons, während Wagner Mühe hatte, den Brechreiz zu überwinden, vor allem als ihm einfiel, dass er die ganze Zeit den weiß-braun gefleckten Hund nicht gesehen hatte. Eigentlich hätte er jetzt mit den Vorderpfoten auf dem Rand des Stuhls Wagner um Fleisch oder Fisch angebettelt. Wagner fürchtete, dass das jetzt nicht mehr möglich war. Er stand schnell auf und eilte zur Toilette, die im Haus gleich neben der Terrasse war. Er erbrach sich so leise wie möglich, schließlich galt es, bei allem die Etikette zu wahren beziehungsweise nicht unhöflich zu sein. Aber: Konnte man so grausam sein und den eigenen Hund essen?

Wagner ging zurück zur Terrasse, trank eilig zwei Gläser Whiskey und hielt sich von nun an ausschließlich an Gemüse, das er mit möglichst viel Chili aß. Ihm fiel ein, dass Nok ihm damals in Deutschland erzählt hatte, dass in einigen Gegenden Thailands Hund eine Delikatesse sei. Wagner versuchte sein Ekelgefühl zu verdrängen, was ihm aber schwer fiel, zumal Ton und seine Freunde ständig mit den Stäbchen am Hund mit Bohnen und Möhren herumstocherten, genüsslich rülpsten und weitertranken. Wagner konnte sich zwar vorstellen, einen Hund vom 14. Stock eines Hochhauses zu stoßen, wie er das damals mit dem Boxer von Kommissar Winterberger getan hatte, aber einem Hund auf dem Teller würde er in Zukunft garantiert ausweichen. Wagner trank weiter, verbrüderte sich mit Ton, der ihn für morgen zu einer Fahrt in die Berge einlud.

»I show you Akha people.«

Als er auf sein Zimmer gehen wollte, lag der Hund der Familie im Flur und wedelte mit dem Schwanz. In der Nacht schlief Wagner schlecht. Er lauschte den Zikaden und den Fröschen im Garten nach, gelegentlich schallten die Rufe eines Geckos durch die Dunkelheit. Nok kam nicht. Später träumte er von gewalttätigen Hunden, die mit Essstäbchen im Maul herumliefen.

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