Blutsbande

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Aus der Reihe: Lindemanns #208
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„Was wir hier im Westen so über die Sportförderung in der DDR hören, erinnert mich aber mehr an Kinderarbeit als an kindliche Freude an Spiel und Bewegung, vom Verdacht des systematischen Dopings ganz zu schweigen.“

„Von Doping weiß ich überhaupt nichts; das ist sicherlich eine der Unterstellungen aus dem imperialistischen Ausland, das unsere Überlegenheit nicht anerkennen will.“ Sylvie reagierte auf das Stichwort Doping ungewohnt heftig und war sichtlich erregt; vielleicht auch deshalb wollte sie das Thema nicht vertiefen und fuhr fort: „Ich habe mein Training nie als Kinderarbeit empfunden, obwohl wir natürlich nicht nur gefördert sondern auch gefordert waren. Das galt besonders in meiner Disziplin, der rhythmischen Sportgymnastik. In den KJS, den Kinder- und Jugendsportschulen, gingen unsere Betreuer natürlich nicht so behutsam mit uns um, wie ich das von denen am Forschungszentrum kenne, die ihren Nachwuchs in Watte packen. Unser Ehrgeiz wurde angestachelt. – Außerdem darfst du nicht vergessen, dass die Sportkader neben wenigen Funktionären die einzigen Gruppen in der DDR sind, die ins imperialistische Ausland reisen dürfen. Und davon hast du ja auch profitiert. Wenn ich nicht Leistungssportlerin gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht hier!“

Mit diesen Worten rückte sie Mathias wieder näher und begann das von ihr so hervorragend beherrschte Spiel der Verführung.

„Was machst du da?“, fragte Mathias verblüfft. „Das geht doch nicht, hier in aller Öffentlichkeit“

„Uns sieht schon keiner. Wir sind sicher nicht die Ersten, die sich hier vergnügen. Und außerdem können wir etwas Abwechslung gebrauchen. Wir haben noch nie zusammen unter freiem Himmel gevögelt.“

„Mir ist es zu kalt hier.“

„Ich bringe dich schon auf die richtige Temperatur.“

Mit diesen Worten hatte sie den Gürtel seiner Hose geöffnet.

Nach einem durchaus erfüllenden Zwischenspiel in den Dünen brachte Mathias das Gespräch noch einmal auf Sylvies sportliche Vergangenheit. „Deine Eltern waren doch beide Leichtathleten, du bist in einem Leistungszentrum aufgewachsen, du hast dich dort in allen möglichen Sportarten getummelt, und es hat dir offenbar Spaß gemacht. Wieso bist du da ausgerechnet auf die rhythmische Sportgymnastik gekommen?“

„Zuerst habe ich mich, wenn auch spielerisch, in den verschiedenen Disziplinen der Leichtathletik versucht. Ich wurde dann aber umdelegiert.“

„Was heißt denn das? Umdelegiert? Warst du Mitglied einer offiziellen Delegation?“

„Nein, so nannten wir das in der DDR, wenn ein Sportler von einer Sportart in die andere wechseln musste.“

„Und das hast du so einfach mitgemacht? Wurdest du denn wenigstens gefragt, ob du das willst?“

„Nein, ich wurde nicht gefragt; aber meine Eltern machten mir klar, dass ich mich der Entscheidung des ESA zu beugen habe. Darüber wurde auch gar nicht lange diskutiert; wir waren ja im Sinne der Partei erzogen, du kennst das: ‚die Partei, die Partei, die hat immer recht‘. Und wir hatten die Prinzipien der Planwirtschaft verinnerlicht, auch für den Sport.“

„Was ist das für eine ominöse Institution, das ESA?“

„ESA steht für das Nationale Komitee für die einheitliche Sichtung und Auswahl der Sportverbände der Deutschen Demokratischen Republik. Dort saßen die Experten, die uns jenen Sportarten zuwiesen, in denen wir den größten sportlichen Erfolg versprachen.“

Die mit der Umdelegation verbundene „Umsetzung“ an die KJS Friedrich Engels nach Halle sah Sylvie eher als Auszeichnung, und sie war trotz ihres Alters von gerade einmal zehn Jahren nicht zu sehr von Heimweh geplagt. Das Leben mit gleichgesinnten und ebenso talentierten sportlichen Kindern zog sie der abweisenden Atmosphäre im elterlichen Hause vor, denn die Mutter hatte immer noch eine so enge, an Hörigkeit gemahnende Abhängigkeit gegenüber ihrem früheren Trainer und langjährigen Ehemann beibehalten, dass für die Tochter eigentlich kein Platz war. Sie empfand sich als störend, war immer im Weg und war deshalb nicht unglücklich, in Halle im Internat vom Kollektiv und den Betreuern geschätzt und umsorgt zu werden.

Die rhythmische Sportgymnastik gehörte zu den trainingsintensivsten Sportarten, was für Sylvie bereits als 10-Jährige eine 60-Stunden-Woche bedeutete. Das Training nahm jede Woche 40 Stunden in Anspruch und die Schule etwa 20. Der Unterricht galt eher als Erholungsphase im knochenharten Trainingsalltag, und die körperliche Belastung der noch im Wachstum befindlichen Mädchen war ungeheuer. Es war in der Tat Kinderarbeit, die von Sylvie gefordert wurde, Kinderarbeit zum Ruhme des Sports der DDR und des Sozialismus.

Solche Erörterungen wurden nicht mit Klein-Sylvie geführt; das war auch nicht notwendig, denn Mutter und Vater Schumacher hatten beschlossen, dem Wunsch der Partei und der Republik nachzukommen, und hatten ihre Tochter entsprechend programmiert: Der Staat verlangt von dir, dass du deine Pflicht erfüllst, und dies wird dir nicht zum Nachteil gereichen. Der letzte Teilsatz war nie ausgesprochen worden, aber das Wohlwollen der Partei zu erhalten und es möglicherweise noch zu mehren war auch für die Eltern Schumacher durchaus von Bedeutung. Im Nachhinein fühlte sich Sylvie von ihren Eltern verraten und instrumentalisiert und von ihren Betreuern missbraucht. Dies war ihr damals nicht bewusst, sie erkannte jedoch, je tiefer sie Einblick in den Sportbetrieb der DDR erlangte, dass das System letztlich das Individuum benutzte, um eine politische Idee umzusetzen und, was sie besonders bestürzte, dass ihre eigenen Eltern dies wussten und aktiv an ihrem Missbrauch teilnahmen.

„So schlimm habe ich mir das System DDR nicht vorgestellt. Klar, dass du nicht mehr dort leben wolltest, selbst wenn es Dir, wie du sagst, vergleichsweise gut ging.“ Nach kurzer Pause und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen fuhr er fort: „Aber eigentlich sollte ich den Schumachers und der SED von Herzen dankbar sein, denn sie haben dich schließlich in meine Arme getrieben.“

5

„Nein, nicht schon wieder!“, war die spontane Reaktion, als Oberstaatsanwalt Dr. Schwarz telefonisch Professor Valentin über den Fund des 17. Drogentoten innerhalb der vergangenen 24 Monate informierte. Die beiden kannten sich recht gut.

„Sie müssen diesmal selbst zum Fundort der Leiche kommen und sich ein Bild machen von den Begleitumständen. Für diese ungewöhnliche Häufung von Opfern muss es eine Erklärung geben; und wenn wir die nicht bald finden, dann wird der Druck aus Düsseldorf und Bonn unerträglich. Die Bundesregierung wird bereits von unseren NATO-Partnern bestürmt, die Aufklärung voranzutreiben und zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Wenn wir nicht rasch Ergebnisse vorweisen können, dann schicken die uns das Bundeskriminalamt oder sogar US-Drogenfahnder auf den Hals.“

„Etwas Hilfe von außen wäre ja vielleicht gar nicht schlecht.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage! Das könnte das größte und bevölkerungsreichste Bundesland, in dem dazu noch die Bundeshauptstadt liegt, doch nicht eingestehen, dass seine Polizei ein solch triviales Problem nicht alleine lösen könnte. Wenn wir uns unfähig erweisen sollten, dann bekommen ich und der Polizeipräsident riesen Ärger.“

„Also gut, ich komme, aber versprechen Sie sich nicht zu viel. Ich kenne mich mit Spurensicherung nicht aus. Vielleicht bringt uns der Blick eines Unvoreingenommenen weiter. Ich bringe den jungen Rother mit, der ist mit hinreichend Fantasie begabt. Sie wissen doch, der Unglücksrabe, der mich da in die AIDS-Geschichte hineingeritten hat.“

„Sind Sie den noch nicht los?“

„Nein – er soll die Suppe auch mit auslöffeln, die er uns eingebrockt hat.“

„Also bis gleich. Nicht weit vom Ponttor wurde die Leiche gefunden, im Pontdriesch 6 in der Mansarde. Ich habe die Beamten angewiesen nichts anzurühren und nichts zu verändern.“

Chef und Assistent stiegen in den Mercedes des Professors und fuhren die wenigen 100 Meter zur Innenstadt. Der Pontdriesch war ab seiner Einmündung in die Pontstraße von der Polizei abgesperrt. Der kontrollierende Beamte ließ den Wagen passieren, nachdem sich Professor Valentin ausgewiesen hatte.

„Sie können direkt vor dem Haus parken. Der Oberstaatsanwalt erwartet Sie bereits.“

Die Rettungssanitäter packten gerade ihre Sachen zusammen und der Notarzt zeigte sich verwundert, dass der Ordinarius für Gerichtsmedizin persönlich am Fundort der Leiche eines Junkies auftauchte; er konnte sich nicht erinnern, in seiner fast 10-jährigen Praxis jemals einen Gerichtsmediziner an einem Tatort gesehen zu haben, und nun kamen gleich zwei zu einem Fall, einem Routinefall, der eindeutiger nicht hätte sein können.

Valentin und Rother wurden von einem Vollzugsbeamten sehr höflich empfangen und in das von außen recht ansehnliche Haus geleitet. Der Eingang war gepflegt, die Treppe zu den Stockwerken sauber; alles machte einen gediegenen Eindruck. Das änderte sich, sobald sie die enge Stiege unter das Dach betraten. Der von Roland Schwarz benutzte Ausdruck Mansarde war eine sehr euphemistische Beschreibung der Wohnstatt des Verstorbenen. Unter den blanken Ziegeln befand sich eine Art Holzkäfig, in dem einiges Gerümpel herumstand. Auf einer völlig verdreckten Matratze, ohne Bettlaken oder Kopfkissen, lag eine ausgemergelte Gestalt, völlig verwahrlost, voller offener Wunden und mit Borken und Krusten übersät. Eigenartigerweise stank es nicht, was daran lag, dass sowohl durchs Dachfenster als auch durch die Ziegel ungehindert die Luft strömen konnte.

Nur mit Widerwillen näherte sich Professor Valentin dem Opfer. Er bemerkte, dass eine größere Menge Blut offensichtlich aus der Injektionsstelle oberhalb des Schlüsselbeins, durch die sich der Fixer den finalen Todesschuss verabreicht hatte, ausgetreten war. Es schien nicht recht geronnen zu sein. Eine Injektionsnadel und eine leere Spritze lagen in Reichweite des Toten. Neben dreckiger Wäsche und Essensresten.

 

Valentin erkannte sofort, dass er zur Aufklärung des Sachverhaltes nicht viel beitragen konnte. Zu lange war es her, dass er sich um die tägliche Routine der Gerichtsmedizin gekümmert hatte; er fühlte sich unsicher und hilflos, was er verbergen musste. Oberstaatsanwalt Schwarz und die Vollzugsbeamten durften nicht merken, dass ihn die Situation überforderte, weil er seit einem Jahrzehnt sein Fachgebiet nur vom Schreibtisch aus, selten genug am Seziertisch, doch niemals mehr an Tatorten ausgeübt hatte. Er spielte seine Unsicherheit herunter, indem er selbstbewusst verkündete, hier könne er nicht gewissenhaft arbeiten; die Inspektion des Fundortes der Leiche sei reine Routine und das könne sein Assistent erledigen; dazu brauche es ihn nicht.

„Sie können ja zu Fuß zurück ins Institut gehen, es ist ja nicht weit, oder Sie kommen mit dem Leichenwagen.“

Mit diesen Worten verabschiedete sich der Professor und ließ Schwarz, die Polizisten und seinen Assistenten verdutzt zurück.

Der Drogentote Nummer 17 wurde ins Institut für Gerichtsmedizin verbracht und eine gerichtliche Leichenöffnung wurde angeordnet. Valentin hatte sich lange geweigert, routinemäßig Sektionen bei Junkies durchzuführen, denn der Sachverhalt war offensichtlich, die Schuldfrage stellte sich nicht und alle seine Mitarbeiter murrten, einschließlich der akademischen, weil sie befürchten mussten, sich an den Drogentoten zu infizieren. Die vor wenigen Jahren bekannt gewordene Erkrankung AIDS galt nun einmal als absolut tödlich, die Lebenserwartung wurde in der medizinischen Statistik mit wenigen Monaten, bei bester Pflege mit maximal wenigen Jahren angegeben, und nicht einmal im Ansatz war irgendeine Form der Therapie bekannt. Jede Infektion bedeutete das Todesurteil des Erkrankten.

Bagatellverletzungen sind in der Gerichtsmedizin nun einmal an der Tagesordnung, und als Chef nahm er die Verpflichtung zur Fürsorge für seine Mitarbeiter sehr ernst. Es wäre ja auch nicht vertretbar, weder gegenüber der Gesellschaft noch gegenüber dem eigenen Gewissen, wenn sich ein junger, gesunder, zu größten wissenschaftlichen Erfolgen fähiger Wissenschaftler, aber natürlich auch irgendein anderer Mitarbeiter infizieren würde, nur weil der Chef eine unnötige, ja sinnlose Obduktion verlangte.

Schließlich hatte er dem Druck der Politiker nachgeben müssen: Die Zahl der Drogentoten hatte innerhalb der letzten Monate in beängstigendem Maße zugenommen, Aachen hatte seit einigen Monaten den Spitzenplatz in der Landesstatistik inne, was so gar nicht zum Image der Kur- und Wissenschaftsstadt passen wollte. Sie präsentierte sich gern als bürgerlich und beschaulich, stolz auf ihre Geschichte als Residenz Karls des Großen, mit dem Münster als Weltkulturerbe, Sitz einer weit über die Landesgrenzen hinaus hoch geschätzten Technischen Hochschule, Stifterin des Karlspreises und des Ordens wider den tierischen Ernst, weltweit bekannter Treffpunkt der Reitereliten und Zentrum der Euregio Rhein-Maas. Und nun das: In Aachen starben im vergangenen Jahr mehr Junkies an ihrer Heroinsucht als sonst irgendwo in der Welt. Eine Krisensitzung jagte die andere, das städtische Gesundheitsamt wurde mit Fragen überhäuft und der Direktor des Instituts für Gerichtsmedizin der Medizinischen Fakultät an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule wurde vom Oberbürgermeister persönlich aufgefordert zu überprüfen, ob auch wirklich jeder gemeldete Todesfall mit einer Überdosis von Heroin in Verbindung gebracht werden müsse oder ob nicht auch andere Todesursachen in Frage kommen könnten. Mit Bedauern musste Professor Valentin den zweiten Teil dieser Frage verneinen. Die Konzentration des Rauschgiftes im Blut eines jeden der Verstorbenen sei so hoch, dass eine andere Todesursache ausgeschlossen sei. Es gebe keinerlei Hinweise, wie die Opfer auf andere Weise zu Tode gekommen sein könnten. Fremdverschulden schließe er definitiv aus. Es bestünden noch wenige Unklarheiten in einigen Details, denen man gewissenhaft nachgehen werde, aber an seiner Grundaussage werde dies sicherlich nichts ändern: Im Jahre 1985 gab es 16 Drogentote in Stadt- und Landkreis Aachen, und niemand kannte einen hinreichenden Grund, an dieser Zahl zu zweifeln.

Eine befriedigende Erklärung gab es für dieses Phänomen nicht, und auch deshalb reagierten die Stadträte und sogar das Landesgesundheitsministerium fast hysterisch, so dass er sich wider besseres Wissen sich genötigt sah, seine restriktive und fürsorgliche Haltung, was die Indikation zur Autopsie der Opfer betrifft, revidieren zu müssen. Aber das hatte ihm keinerlei weitere Erkenntnisse gebracht. Er und seine Mitarbeiter fanden das, was sie erwartet hatten: menschliche Wracks, Körper, die sich im Verlauf von wenigen Jahren verbraucht hatten. Im Prinzip zeigten die Toten Spuren jeder erdenklichen Krankheit, auch von solchen, die bereits seit Jahrzehnten überwunden schienen, wie z. B. der Organtuberkulose. Aber das waren alles keine neuen Erkenntnisse, besonders keine, die tiefere Einsichten in die Eigenheiten dieser mysteriösen Erkrankung AIDS hätten bringen, geschweige denn eine sinnvolle Therapie hätten begründen können.

Selbstverständlich waren noch nicht alle denkbaren Kombinationen von Symptomen und Begleiterkrankungen im Rahmen des völligen Zusammenbruchs der Immunabwehr des menschlichen Körpers bekannt. Das Signal, die Krankheit intensiv zu erforschen, war von den USA ausgegangen, als auch US-Bürger erkrankten und starben. Die amerikanischen Wissenschaftler hatten die Forschungs- und Meinungsführerschaft übernommen und alle wichtigen Ergebnisse, welche das Entstehen der Erkrankung, in der Sprache der Wissenschaft: die Ätiologie und Pathologie, betrafen, waren bislang in den US-amerikanischen Fachzeitschriften veröffentlicht worden – die USA hatten ja auch einen gehörigen Vorsprung an beobachteten Fällen.

Auch bei Opfer Nummer 17 blieb Valentin keine Wahl: Roland Schwarz hatte die Sektion angeordnet und deshalb musste sie auch durchgeführt werden. Valentin hatte seinen erfahrensten Oberassistenten, Dr. Christian Pfeiffer, gebeten, diese für ihn zu leiten, Rother sollte ihm dabei assistieren.

„Achten Sie besonders auf die Blutgerinnung, da stimmt meines Erachtens etwas nicht. Ich habe selten so große Mengen aus einer Punktionsstelle austreten sehen.“ Mit diesen Worten zog sich der Chef zurück und überließ die Arbeit seinen nachgeordneten Ärzten.

„Selbstverständlich, Herr Direktor“, erwiderte der Oberarzt, um dann leise in den Bart brummelnd fortzufahren: „Mal wieder typisch, der Chef macht sich die Hände nicht gern schmutzig. Was solls, fangen wir an. Und, Rother, ziehen Sie sich bitte zwei Schichten von Gummihandschuhen an, außerdem Mundschutz und eine Schutzbrille. Viren können auf den verschiedensten Wegen in uns eindringen, und zum Sterben sind wir beide noch zu jung.“

Die Sektion verlief wie immer. Unter den geschickten Händen des erfahrenen Arztes lief alles wie am Schnürchen und ohne Zwischenfälle. Sie fanden das Übliche, nur bei der Eröffnung der Brusthöhle fanden sie eine Ansammlung nicht geronnenen Blutes in der Zwerchfellkuppel. Ein solcher Befund war ungewöhnlich.

„Bitte rufen Sie mal die Laborassistentin“, bat Pfeiffer einen Sektionsgehilfen, der sich im Hintergrund hielt und sich demonstrativ mit Aufräumen beschäftigte. Er durfte zwar den Raum nicht verlassen, denn er hätte ja von den beiden Ärzten gebraucht werden können, er machte aber mit seinem Verhalten deutlich, dass er es für nicht hinnehmbar hielt, dass nun schon wieder einer dieser Junkies seziert werden musste und damit alle Mitarbeiter des Institutes unnötigerweise der tödlichen Gefahr einer HIV-Infektion ausgesetzt würden. Grummelnd setzte er sich in Richtung der Labore in Bewegung und nach einer endlos erscheinenden Zeitspanne erschien endlich eine MTA.

„Können Sie bitte einmal den Quick-Wert und die anderen Gerinnungsparameter bestimmen?“

„Kein Problem.“

Die Assistentin kam nach wenigen Minuten zurück.

„Dieses Blut gerinnt nicht. Es ist so, als wäre der Junkie vollständig heparinisiert.“

„Können Sie denn die Heparinkonzentration in dieser Probe bestimmen?“

„Im Prinzip ja, aber das dauert einige Stunden.“

„Machen Sie es trotzdem.“

Die Assistentin zog sich zurück, und Rother konnte sich nicht zurückhalten und fragte: „Wie soll denn ausgerechnet Heparin in den Patienten gekommen sein? Wenn ich mich recht erinnere, gibt es eine Vollheparinisierung ausschließlich in der Herzchirurgie, wenn die Patienten an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden und die Blutgerinnung völlig unterdrückt werden muss.“

„Das stimmt schon, aber an diesem Opfer ist von dritter Seite manipuliert worden, das ist eindeutig, und warum soll er nicht heparinisiert worden sein?“

„Sie sind also sicher, das er kein direktes Opfer der Drogen, sondern einer anderen, kriminellen Handlung ist?“

„Von kriminell habe ich nichts gesagt, lediglich von Fremdeinwirkung habe ich gesprochen.“

„Und wenn dies bei meinen Fällen, Sie wissen schon, wovon ich spreche, ebenfalls so gewesen sein sollte?“

„Dass auch an denen manipuliert worden sein sollte? Nein, Rother, nicht noch einmal Ihre ‚Blood‘-Geschichte, davon haben wir alle die Nase voll.“

„Und wenn ich Sie um einen ganz kleinen Gefallen bitte?“

„Wie klein?“

„Wir könnten den Test machen, ob es sich beim Blut des Toten überhaupt um menschliches Blut handelt oder vielleicht doch um artfremdes.“

„Jetzt sind Sie aber völlig übergeschnappt!“

„Aber das kostet doch nichts und geht ganz schnell. Wenn sich mein Verdacht als Hirngespinst herausstellen sollte, vergessen wir das einfach. Ich kann mich einfach nicht mit meiner Fehldiagnose in meinem ‚Blood‘-Artikel abfinden und suche nach einer Erklärung; und dabei kam mir die Idee, es könnte sich im Blut der Junkies um rote Blutkörperchen von Rindern handeln, die sind etwas kleiner als menschliche bei sonst gleichem Aussehen.“

„Wenn der Chef das mitbekäme, wäre er stinksauer. Er will nicht mehr an die Story erinnert werden, geschweige denn sie wieder neu aufrollen lassen. Ich kann das offiziell nicht erlauben. Nehmen Sie sich einfach ein paar Milliliter und machen Sie den Test selbst. Aber erst wenn wir hier fertig sind.“

„Danke, Herr Pfeiffer. Mich lässt diese Geschichte nicht los und ich muss herausfinden, warum wir abgeschmettert wurden mit meinem Artikel.“

„Mit eurem gemeinsamen, mein Lieber, das ist das Problem.“

6

Die Tage an der Saale versprachen anstrengend, aber auch höchst interessant zu werden. Es war der erste Besuch des für das Gesundheitswesen der Stadt Karlsruhe zuständigen Bürgermeisters bei den Brüdern und Schwestern in der „Zone“ und er war voller Neugier, ja Vorfreude in der Erwartung, einmal jenen Teil des Landes kennenzulernen, der ihm bisher immer verschlossen geblieben war. Er hatte es schon als Student und junger Anwalt stets vermieden, über die Transitwege nach West-Berlin zu reisen, aber dieses Mal war die Einreise in die DDR nicht zu vermeiden, denn er wollte nach Halle. Er war sozusagen Staatsgast des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden und sollte sich ungefährdet fühlen. Die Schikanen der DDR-Grenztruppen waren ihm früher nicht nur lästig, er hatte sie gar als bedrohlich empfunden; und einem totalitären Staat ausgeliefert zu sein, auch nur während der Stunden des Transits durch die DDR, hatte ihn stets bedrückt.

Obwohl eine offizielle Einladung des Magistrats der Stadt Halle in der Tasche und mit den nötigen Einreisepapieren versorgt, fühlte er sich zu seiner Empörung auch diesmal keineswegs gastfreundlich empfangen, als ihn die Grenzer mit Maschinenpistolen im Anschlag am Kontrollpunkt Rudolphstein in der Deutschen Demokratischen Republik auf ihre Weise willkommen hießen.

„Was sollen wir hier, Herr Roth“, wandte er sich an seinen Fahrer. „Das ist nicht meine Welt. Als Liberaler kann ich es nicht akzeptieren, wie dieser Staat mit seinen Bürgern und seinen Gästen umgeht ...“

„Aber Herr Bürgermeister, das geht doch schon seit 40 Jahren so, und wir alle haben uns daran gewöhnt, dass die Staatsorgane uns schikanieren, sobald wir nur einen Fuß auf den Boden der DDR, einschließlich der Transitwege, setzen. Haben Sie die Blockaden von Berlin vergessen und die zahllosen Behinderungen im Verkehr? Dem unterwerfen sich die Berliner jedes Mal, wenn sie in Urlaub fahren wollen oder zu Freunden in der Bundesrepublik.“

 

„Ich habe den Transit, wenn immer es möglich war, vermieden und bin geflogen, und das war offensichtlich gut so.“

„Deshalb haben Sie eben noch nie die Normalität der zwischenstaatlichen Beziehungen am eigenen Leibe erlebt. Höchste Zeit, dass Sie das einmal mitmachen.“

„Ich könnte gut und gern darauf verzichten.“

Nur langsam kamen die vor der Kontrolle wartenden Autos voran, die Grenzbeamten verließen dann und wann ihre Häuschen, um im Abfertigungsgebäude auf ungewisse Zeit zu verschwinden.

„Können wir nicht in eine andere Abfertigungsreihe wechseln, das dauert ja ewig.“

„Das würde ich Ihnen nicht empfehlen, denn das mögen die Herren Grenzsoldaten überhaupt nicht. Jetzt können Sie sich ein Bild machen vom Begriff der ‚schleppenden Abfertigung’, von der Sie so häufig in den Nachrichten hören.“

„Roth, das macht mich verrückt, lassen Sie uns umkehren!“

„Ich glaube, das würde der Oberbürgermeister überhaupt nicht schätzen, wenn Sie unverrichteter Dinge zurückkämen. Wir müssen da durch!“

„Ich gehe jetzt da hin und beschwere mich!“

„Auch davon würde ich dringend abraten, aber Sie könnten ja versuchen, ob Sie als offizieller Gast der Stadt Halle eine Vorzugsbehandlung erfahren.“

Der Bürgermeister verließ seinen Dienstwagen und ging auf einen Beamten zu, der das Kommando zu haben schien. Ihn beschlich die Angst, denn die Aufmerksamkeit der Soldaten und damit deren Waffen richteten sich nun konzentriert auf ihn.

„Sie müssen in Ihrem Wagen bleiben“, herrschte ihn der Grenzer an. „Wir verrichten unsere Arbeit gewissenhaft und so schnell wie möglich.“

„Ich bin vom Magistrat der Stadt Halle zu einem offiziellen Besuch eingeladen.“

„Wer sind Sie?“, fragte der Major jetzt schon etwas freundlicher.

„Ich heiße Fritz Odenwald und bin Bürgermeister von Karlsruhe, der Partnerstadt von Halle.“

Die Miene des Grenzbeamten hellte sich schlagartig auf.

„Wir haben Sie bereits erwartet“, entgegnete er ausgesprochen höflich. „Sie stehen in der Tat in der Transitreihe völlig falsch, Sie dürfen natürlich in die DDR einreisen. Wo steht Ihr Wagen?“

„Ich kann meinen Fahrer bitten vorzufahren.“

Die Grenzformalitäten waren innerhalb weniger Minuten abgewickelt, der Wagen an der Schlange der Wartenden vorbeigewinkt und der Bürgermeister mit besten Wünschen zur Weiterfahrt aufgefordert.

An die Straßenverhältnisse in der DDR musste er sich erst gewöhnen. Nachdem sie die Autobahn bei Weißenburg verlassen hatten, die sich wegen der Finanzierung der Transitwege durch die Bundesregierung noch in einem akzeptablen Zustand befand, fuhren sie über Landstraßen nach Norden, an denen nach dem Ende des Weltkrieges offenbar niemand mehr Hand angelegt hatte. Der Asphalt war an vielen Stellen beschädigt und die Straßen durch die Städte und Dörfer waren durchgehend mit Kopfsteinen gepflastert. Fehlende waren nicht ersetzt worden, und der Bürgermeister lobte wieder einmal die Großzügigkeit seiner Stadt, die ihm – wie seinen Kollegen – einen Mercedes als Dienstwagen zugebilligt hatte. Er bedauerte die Fahrer der Trabants, deren Federung sich mit der seiner Limousine nicht messen konnte.

Sie fuhren durch Weißenfels, das trostlos und heruntergekommen wirkte, vergleichbar mit westdeutschen Städten unmittelbar nach dem Krieg, und näherten sich Merseburg. In der Umgebung der Chemiewerke von Buna und Leuna sah die Landschaft gespenstisch aus. Es war früher Nachmittag, aber die Dämmerung zog bereits auf. Im fahlen Licht der verschwindenden Sonne – von einem Sonnenuntergang konnte nicht die Rede sein, denn sie versankt nicht am Horizont, sondern in einem undurchdringlichen Dunst, der selbst in den finsteren Zeiten der beginnenden Industrialisierung nicht hätte schlimmer sein können – blickte der völlig unvorbereitete Besucher auf ein Szenario, das einem Science-Fiction-Film entnommen schien und Endzeitstimmung vermittelte. Die gesamte Landschaft, jeder Baum, jeder Strauch, war bedeckt mit einer dünnen, glänzenden Schicht, in der sich die letzten Strahlen der Sonne spiegelten. Auch die Straße war von dieser Schicht überzogen und machte sie rutschig, fast so als hätte sich mitten im Frühsommer noch einmal Eis gebildet. Das Fahren war gefährlich, besonders in den gepflasterten Abschnitten. Roth fuhr nur noch im Schritttempo und fühlte sich dennoch unsicher.

Dazu kam noch ein unglaublicher Gestank, der ihnen das Atmen schwer machte.

„Nach was riecht es denn hier?“

„Sie können es ruhig stinken nennen, Herr Bürgermeister! So etwas Penetrantes habe selbst ich noch nicht gerochen, obwohl ich in Mannheim groß geworden bin, und damals kamen die Industrieabgase und stinkenden Schwaden von der BASF in Ludwigshafen ungereinigt direkt zu uns über den Rhein.“

„Aber hier wohnen doch Menschen. Wie halten die das aus?“

„Ich gehe davon aus, dass die den Gestank nicht mehr wahrnehmen, die haben sich dran gewöhnt.“

„Das kann doch nicht sein!“

„Da unterschätzen sie die menschlichen Fähigkeiten. Die Ludwigshafener meinten immer, wir Mannheimer seien hysterisch, denn dort stank es noch mehr, und sie fühlten sich bei uns wie im Luftkurort.“

„Jetzt übertreiben Sie aber.“

„Das tun wir alle, wir Mannheimer.“

Nach Schkopau wurde die Luft etwas erträglicher, oder der Gewöhnungsprozess hatte schon eingesetzt, die Straßen wurden wieder befahrbar und sie kamen über die Lenin-Allee, früher die Merseburger Straße, nach Halle. Auf Höhe des Stadtkrankenhauses und der Poliklinik Süd wurden sie von einem Volkspolizisten gestoppt.

„Was will den der schon wieder?“

„Ich habe die Aufgabe, Sie zum Gästehaus der Stadt zu geleiten“, meinte dieser höflich. „Die Stadt ist zurzeit etwas unübersichtlich, weil große Wohnungsbauprojekte durchgeführt werden, und deshalb war der Oberbürgermeister der Meinung, die VoPo solle Sie abholen.“

„Das ist überaus freundlich von Ihnen. Wir folgen Ihnen.“

Sie erreichten das Hochufer der Saale. Allerdings nicht auf dem direktesten Weg. In einem kleinen Park stand die alte Villa mit etwas modernerem Anbau, die als Gästehaus der Stadt diente. Die Einfahrt war mit einem Posten besetzt; nicht jeder Bürger hatte das Recht des Eintritts. Er salutierte vor den Gästen, und sie konnten ohne Kontrolle einfahren. Vor dem Tor wurden sie von zwei Herren in dunklen Anzügen erwartet, und der Bürgermeister streifte schnell sein Jackett über und zog die Krawatte enger, bevor er ausstieg.

„Willkommen in Halle, Herr Bürgermeister Odenwald. Ich begrüße Sie recht herzlich in Ihrer Partnerstadt, auch im Namen des Oberbürgermeisters und des gesamten Rates der Stadt. Ich bin Ihr Kollege Schreiner und ich habe die Aufgabe, nein, das Privileg und das große Vergnügen, Sie während Ihres Aufenthaltes hier an der Saale hellem Strande betreuen zu dürfen.“

„Sie haben uns einen eindrucksvollen Empfang bereitet; ohne die Hilfe des Polizisten hätten wir kaum so schnell hierher gefunden. Wir konnten in Karlsruhe keinen Stadtplan von Halle auftreiben, und so wären wir völlig hilflos gewesen. Vielen Dank für Ihre herzliche Begrüßung. Ich freue mich, dass Sie sich selbst die Zeit nehmen und uns durch Ihre Stadt führen wollen. Sie hätten sicherlich Wichtigeres zu tun, als Fremdenführer zu spielen.“

„Es ist mir ein besonderes Vergnügen. Wir haben ja nicht so häufig Gäste aus der BRD hier bei uns, und ich will sichergehen, dass Sie bestens informiert werden. Ist dies Ihr erster Besuch in der Deutschen Demokratischen Republik?“

„Ja, und ich bin natürlich neugierig, was mich hier erwartet.“