Blutsbande

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Aus der Reihe: Lindemanns #208
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Ein sicherer Griff um die Taille mit einem kleinen Ausflug seiner Hände in den Bereich der jugendlichen, straffen Brüste und ein Blick in das Gesicht überzeugten ihn rasch davon, dass die Suche für diesen Tag abgebrochen werden konnte. Für das leibliche Wohl schien hinreichend gesorgt an diesem Festtag. Da stand neben ihm ein Körper, der erforscht sein wollte und der es wert schien, einer gewissenhaften Prüfung unterzogen zu werden. Seine weiteren Bemühungen in diese Richtung schienen höchst willkommen zu sein und sie zeigte ihr tiefes Wohlbehagen bei jedem folgenden Schritt seiner Forschungsreise durch ihre Anatomie.

Sie hatte ein junges Gesicht mit ebenmäßigen Zügen. Die dunklen Haare waren kurz, etwas asymmetrisch und gezackt geschnitten; dennoch hatte sie Fülle und unterstrichen die feinen Linien des Gesichts. Die Augen blickten schelmisch, erstaunt, als sei sie ebenso überrascht von der zufälligen Begegnung, als fragten sie: „Wo kommst du denn so plötzlich her?“

Er schätzte sie auf zwanzig Jahre, vielleicht etwas älter, aber nicht viel. Sie war nur leicht geschminkt und trug keine karnevalistischen Attribute. Ein enges schwarzes T-Shirt brachte ihre schönen Brüste eindrucksvoll zur Geltung. Ihr Becken, das sich seinem entgegenräkelte, war in schwarze enge Jeanshosen gepackt. Auch die untere Partie des Körpers war sehr ansehnlich und gut proportioniert, soweit er dies im Gedränge ausmachen konnte. Die Beine erschienen lang, der Hintern eher klein. Sie war nicht besonders groß, etwa 1 Meter 70, und trug Schuhe mit flachen Absätzen. Nach ihrer Kleidung zu schließen hatte sie sich nicht auf den höchsten Festtag des Rheinlandes vorbereitet. Sie war wohl nur zufällig oder vielleicht auf Druck der Kolleginnen in den Faschingstrubel geraten. Sie machte jedoch nicht den Eindruck, als sei ihr die außerplanmäßige Dienstgestaltung unangenehm. Sie lachte viel und amüsierte sich.

Eine Rheinländerin war sie nicht. Rother bemerkte dies auch an der Sprache. Für den Schwaben hatte sie einen leichten berlinerischen Einschlag. Möglicherweise war sie Studentin, eine der wenigen weiblichen an der TH. Sie konnte auch der medizinischen Fakultät angehören; dort gab es erheblich mehr weibliche Studierende. Er hatte sie allerdings noch nie in der Gerichtsmedizin gesehen; sie wäre ihm dort mit Sicherheit aufgefallen.

Seine Frauenbekanntschaften hatten sich bisher immer enttäuscht gezeigt, dass er kein Chirurg oder Internist war, sondern sich in diesem unappetitlichen Institut verborgen hatte, und besonders fragwürdig war es selbst für seine Freunde und seine Familie, dass die Arbeit ihm sogar noch Spaß machte. Die Krimiserien im Fernsehen hatten zwar sein Fach so weit bekannt gemacht, dass er nicht jedem von A bis Z erklären musste, was er denn beruflich so trieb. Viele meinten aber, da wäre er doch besser gleich Kriminalbeamter geworden, dann könne er direkt auf Verbrecherjagd gehen, statt in den Indizien und Beweisen herumschnüffeln zu müssen – und das bei dem Gestank.

Das waren Gedanken, die ihm so durch den Kopf gingen; er hätte seine Fragen nach ihrer Identität sicher beantwortet bekommen, wenn er gefragt hätte. Aber das tut man an Weiberfastnacht nicht, das hatte er begriffen; der Reiz des lustigen Spiels ist die Anonymität selbst in der Intimität. Wenn man sich dann später zufällig wieder treffen sollte, konnte es durchaus passieren, dass die beiden Partner vorgaben, sich noch nie gesehen zu haben, und grußlos aneinander vorbeigingen. Das waren nun einmal die Regeln, an die auch er sich erst hatte gewöhnen müssen.

Eine regelrechte Unterhaltung war in der Kneipe nicht möglich, dafür war es viel zu laut und ständig wurde man von wildfremden Leuten angequatscht und geherzt. Seine Hand hatte längst den Weg unter ihr T-Shirt gefunden und der erste Knopf ihrer schwarzen Jeans hatte bereits seinen hinhaltenden Widerstand aufgegeben. Die junge Frau verhielt sich keineswegs passiv, sondern verfolgte durchaus eigene Ziele, ohne bei Rother den Eindruck zu erwecken, sie sei aufdringlich. Zunächst standen sie eng beieinander in der Nähe des Fensters, von allen Seiten angerempelt und zusammengedrückt; man hätte überhaupt nicht auf Distanz gehen können. Dann hatten sie einen Sitzplatz hinter einem Tisch ergattert; dessen Platte und Tischtuch ihre Hände den Blicken von Neugierigen entzogen, wenngleich ohnehin jeder mit etwas Schönerem beschäftigt war als dem Voyeurismus.

Sie wurden allmählich zum sozialen Fremdkörper auf ihrer Bank, nicht weil sie sich wesentlich anders verhalten hätten als ihre Umgebung, sondern weil sie ausschließlich mit sich befasst waren und ihre Umgebung nicht mehr wahrnahmen. Wann immer jemand sie ansprach, ob Bekannter oder Wildfremder, sie gaben eindeutig zu verstehen, dass sie nicht gestört werden wollten, was zu entsprechenden Kommentaren Anlass gab. Andererseits zeigten die Mitzecher durchaus Verständnis für die Situation, denn die meisten hofften im Verlauf des Tages in einer ähnlichen zu landen. Nur mussten sie nicht einen der begehrten Plätze besetzen, jetzt, da sie schon zum Ziel gelangt waren.

Diese Erkenntnis dämmerte den beiden auch, weshalb sie wortlos übereinkamen, die Kneipe zu verlassen. Es dauerte einige Zeit, bis Rother die fünf kleinen Alt bezahlt und sie sich durch die schmale Gasthaustür gezwängt hatten. Davor herrschte ebenso dichtes Gedränge; jeder wollte durch die Tür hinein. Es war noch hell draußen, aber die Sonne war schon hinter dem Rathaus verschwunden. Der gesamte Marktplatz war schwarz von Menschen, schunkelnden, grölenden Jecken. Die meisten hatten alkoholische Getränke in der Hand und viele waren bereits gezeichnet von den Exzessen des Tages.

Die beiden eng umschlungenen Gestalten kämpften sich durch die Menge, ohne nur für eine Sekunde den gegenseitigen Körperkontakt zu verlieren. Sie erschienen als monolithischer Block in den anbrandenden Zufälligkeiten der Begegnungen: Keine Macht schien sie trennen zu können. Plötzlich standen sie vor einem Hauseingang. Das Mädchen nahm einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete. Rother hatte nicht den Eindruck gehabt, als hätte sie bewusst eine bestimmte Richtung eingeschlagen, ein vages Gefühl, manipuliert zu werden, überkam ihn. Er war ein wenig überrascht. Aber alles wirkte so natürlich, so als seien sie beide bereits viele Male durch diese Tür gegangen und ihr gemeinsames Heimkommen das Selbstverständlichste der Welt. Sie stiegen eine schmale Treppe nach oben und das Mädchen öffnete die Tür zu einer Wohnung, die auf den ersten Blick recht gemütlich wirkte. Für mehr hatte Rother keine Augen. Sobald die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war, fielen sie übereinander her, rissen sich alles vom Leib und hinterließen eine Spur abgelegter Kleidungsstücke durch den Flur zum Zimmer, in dem das große Bett stand. Ohne Worte zu wechseln, warfen sie sich darauf, umschlangen sich. Rother drang ungestüm in sie ein und kam innerhalb weniger Sekunden zum Höhepunkt. „So eine Scheiße“, dachte er und überlegte, wie er ihr diese Ungeschicklichkeit erklären sollte. Er war zunächst völlig ernüchtert, der Rausch war verflogen und er wollte sich abwenden, denn das von ihr sogleich eingeleitete Manöver konnte nicht gelingen; das glaubte er aus Erfahrung zu wissen und er hielt sich für erfahren.

Sie nahm keinerlei Notiz von der vermehrten Flüssigkeit zwischen ihnen und ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, als er etwas umständlich zu erklären begann. Sie stopfte seinen Mund mit ihren Küssen und ihrer Zunge, setzte ihre Hände ein, ihr Becken, in sanften Bewegungen.

Sie übernahm die Regie und zeigte sich als fantasievoll und besonders geschickt. Sie schien ihn besser zu kennen, als er sich selbst kannte, und langsam merkte er, dass die Kraft wieder kam. Das Mädchen erahnte was er sich gerade erträumte, und führte dies dann aus. Die Realität überstieg jedoch bei Weitem seine Vorstellungen. Nach einer Ewigkeit voller Glücksgefühle schliefen sie für kurze Zeit ein.

Als er erwachte, lag sie auf dem Rücken ausgestreckt, quer über dem breiten Bett, mit leicht gespreizten Beinen. Rother richtete sich leicht auf und musterte seine Partnerin, den Kopf auf eine Handfläche gestützt. Dass ihr Gesicht schön war, das war ihm schon seit Stunden bewusst, und er fand seinen Eindruck bestätigt, auch post coitum, wenn der Mensch eher etwas kritischer hinschaut. Die Beleuchtung entsprach natürlich nicht der seines Arbeitsplatzes, sondern war eher gedämpft, was möglicherweise dem optischen Eindruck zum Vorteil gereichte. Der hübsche Kopf saß auf einem schönen Körper, der makellos schien. Die Proportionen stimmten und ihm war rasch klar, dass dieser Körper durchtrainiert war. Selbst im Schlaf waren die Muskelpartien, besonders die der Beine, durch die Haut erkennbar. Die Muskulatur war aber nicht zu stark definiert, sondern sie schien harmonisch entwickelt, nicht zum Selbstzweck, sondern um körperliche Leistungen zu erbringen. Die Beine waren muskulös, aber nicht dick, das Becken eher schmal, mit einem wohl proportionierten, straffen Po. Die Hüfte schmal und der Oberkörper für eine Frau eher kräftig. Die Brüste waren wohlgeformt, selbst jetzt, da sie auf dem Rücken lag. Die Arme waren ebenfalls muskulös, bei doch zartem Körperbau, die Hände schmal und langgliedrig.

„Bist du zufrieden mit der Beute, die du heute gemacht hast?“, fragte sie unvermittelt, ohne die Augen zu öffnen oder sonst ein Zeichen gegeben zu haben, dass auch sie wach war.

Rother wurde etwas verlegen, setzte zu einer Entschuldigung an, die sie aber sofort unterbrach: „Du musst dich nicht entschuldigen; ich finde es ganz normal, dass man nach einem solchen Erlebnis Nachforschungen anstellt, mit wem man es denn gehabt hat. Auch ich bin unheimlich neugierig und würde dich gerne einer genaueren Inspektion unterziehen; dazu hatten wir ja vorher keine Zeit!“

„Wie heißt du eigentlich?“

 

Auf diese Frage brachen beide in ein gemeinsames Gelächter aus, das jedes Mal, wenn es sich gelegt hatte, immer wieder aufflackerte und sie einander in die Arme trieb.

„Ich heiße Sylvie.“

„Und ich Mathias, Mathias Rother. Bist du Belgierin oder woher kommt dein französischer Name?“

„Nein, ich bin Deutsche, in Neubrandenburg geboren, von deutschen Eltern. Ich weiß nicht genau, warum ich den Namen habe. Meine Mutter behauptet wegen einer französischen Sängerin, die zur Zeit meiner Geburt auch in der DDR populär war. Mein Vater sagt, wegen der internationalen Solidarität hätten sie sich damals bewusst für einen ausländischen Namen entschieden. Der Standesbeamte soll diesen Aspekt bei seiner Beratung auch hervorgehoben haben. Ich glaube, die eingesperrten Bürger der DDR träumten von der großen weiten Welt und sie konnten sich diesen Traum wenigstens ansatzweise verwirklichen, wenn sie ihre Kinder mit Namen des Klassenfeindes belegten.“

Rother spürte eine gewisse Bitterkeit in dieser Erklärung und wollte dieses Thema deshalb nicht weiter vertiefen. Die Frau neben ihm war körperlich viel zu interessant, als dass er sich jetzt mit eventuellen Problemen ihrer Heimat auseindersetzen wollte.

Auch Sylvie hatte keinerlei Interesse, über gestörte Verhältnisse zu philosophieren, jetzt, da sich möglicherweise ein neues, Erfolg versprechendes aufbauen ließ. In wortlosem Einverständnis wechselten sie das Thema, indem sie sich wieder der körperlichen Lust zuwendeten.

3

Die Wettervorhersagen waren günstig für die Tage, an denen Sylvie und Mathias zum ersten Mal einen Ausflug geplant hatten, den man gern als „das Aachener Wochenende“ bezeichnet. Sylvie kannte die flachen Landschaften Hollands und Belgiens noch nicht, die sie an ihre vorpommersche Heimat erinnern sollten.

Es war noch recht früh im Jahr und deshalb machten sich an diesem Freitagnachmittag noch nicht solche Menschenmassen in Richtung Zeeland auf den Weg, wie das im Hochsommer die Regel ist, wenn sich die Familienkutschen der Stadt, vollgepackt mit Spielsachen und Sportgeräten, mit und ohne Wohnwagenanhänger auf die Autobahn quälen und sich dann in langen Schlangen in Richtung Westen bewegen. So fuhren sie in Mathias’ Citroën Deux Chevaux auf die deutsche A 4, wurden an der Zollstation Laurensberg von den holländischen Zöllnern durchgewunken, um – nach wenigen Kilometern auf der limburgischen A 76 – sich plötzlich auf der belgischen A 2 zu befinden.

Sylvie konnte es nicht fassen, wie leicht die Bürger der Bundesrepublik von einem westlichen Nachbarland in das andere fahren konnten. Die deutsch-holländische Grenze war zwar noch als solche zu erkennen und der Grenzverkehr wurde durch Beamte auf beiden Seiten offenbar noch teilweise überwacht, aber am Grenzübergang Kleine Meers zwischen Stein in den Niederlanden und Maasmechelen in Belgien erinnerte nichts mehr an eine Grenzanlage. Und dies auf einer durchgehenden Autobahn, über die ein starker Güterverkehr abgewickelt wurde.

„Wie schön einfach ist es doch hier im Westen zu leben und zu reisen! Wenn ich das mit unseren Grenzkontrollen in der DDR vergleiche – vom antiimperialistischen Schutzwall ganz zu schweigen –, dann befinden wir uns hier in einer ganz anderen Welt.“

„Das Schengener Abkommen ist umgesetzt, und es gibt überhaupt keine Grenzen mehr zwischen den Beneluxstaaten, Frankreich und der Bundesrepublik“, erwiderte Mathias und lehnte sich zufrieden zurück, so als habe er einen aktiven Anteil an der positiven Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft gehabt. „Es ist die erste Regelung in der EG, die dem einfachen Bürger wirklich etwas bringt, besonders für uns, die wir in den Grenzregionen leben, etwas, wovon wir zweifelsfrei profitieren. Unsere Grenzkontrollen waren natürlich nie mit denen in der DDR zu vergleichen, lästig waren sie aber doch.“

Nachdem sie die Bergbau- und Industrieanlagen westlich der Maas hinter sich gelassen hatten, durchquerten sie das große Heidegebiet, in dem auch die Rennstrecke von Zoldern liegt, um sich schließlich über Genk Antwerpen zu nähern. Die Landschaft war zwar nicht spektakulär, aber die Dörfer machten einen behäbigen und wohlhabenden Eindruck, die Autobahn war in einem sehr gepflegten Zustand. Besonders beeindruckt war Sylvie von der Tatsache, dass über die gesamte Strecke die Fahrbahnen beleuchtet werden konnten, wie sie dies nur aus Städten kannte.

Die Fahrt an Antwerpen und seinem riesigen Hafengelände vorbei führte die beiden zügig, so zügig, wie dies eben bei den 24 PS der kleinen Ente möglich war, aus Belgien heraus in die Provinz Zeeland, genauer auf die Halbinsel Walcheren. Belgien hatte Sylvie schon recht gut gefallen. Nachdem sie die Autobahn verlassen und über Landstraßen das flache Land mit seinen schmucken Höfen durchquert hatten, nachdem sie sich durch die malerischen Gassen von Goes und Middelburg gequält hatten und durch die sauberen Dörfer Zeelands gefahren waren, da glaubte sich Sylvie in Disneyland. Die Niederlande, aber besonders deren ländlich geprägte Gebiete, erwecken schon bei Bundesdeutschen oder Franzosen häufig den Eindruck einer Puppenstube, so gepflegt und adrett bieten sich Haus und Hof, Dorf und Stadt dar. Um wie viel stärker muss der Anblick der heilen Welt auf Sylvie gewirkt haben, die nur die heruntergekommenen, völlig vernachlässigten Dörfer und Städte der DDR kannte. Sie war in ihrem Entdeckerdrang nicht zu bremsen.

„Schau da, die Kirche, die Windmühle, die Ziehbrücke über den Kanal! Das sieht ja aus wie ein Gemälde von van Gogh! Lass uns anhalten und den Anblick genießen. Wie schade, dass ich keinen Fotoapparat dabei habe.“

„Das ist auch besser so, sonst kämen wir heute überhaupt nicht mehr nach Domburg. Ich habe uns für das Abendessen angemeldet, und die Holländer pflegen nicht zu spät zu essen.“

Kurz vor Sonnenuntergang kamen sie dann schließlich doch an ihrem Zielort an; das Hotel „Bosch en Zee“ lag unweit der Dünen am Rande des Dorfes und war ein traditionelles Gasthaus, keiner der Neubauten, welche den alten Stil nur nachzuahmen versuchen, sondern war ursprünglich und bodenständig. Sie wurden herzlich empfangen, und Sylvie wunderte sich, dass an der Rezeption keine Ausweise verlangt wurden. Das Meldegesetz wurde in der DDR strikt befolgt. Leiter und Inhaber von Unternehmen, die der gewerbsmäßigen Beherbergung dienten, waren verpflichtet, ein Gästeverzeichnis über alle beherbergten Personen zu führen und eine jede mit dem Meldeschein der Deutschen Volkspolizei innerhalb von zwölf Stunden zu melden. Die Gastgeber mussten die Richtigkeit der Angaben durch Vergleich mit den Eintragungen im Personalausweis überprüfen. Deshalb war es für Sylvie unfassbar, dass sie noch nicht einmal nach ihrem Namen, geschweige denn nach ihrem Familienstand gefragt worden war. Der Tatbestand der Kuppelei war 1968 in der DDR entkriminalisiert worden; dass dies – für die einfache Kuppelei – auch in der Bundesrepublik nahezu gleichzeitig umgesetzt worden war, hatte man den Bürgern der DDR vorenthalten. Zum Bild eines reaktionären Staates – und als solchen sahen die Sozialisten des Ostens die Bundesrepublik – passte wesentlich besser auch eine restriktive Sexualmoral. Dieses Vorurteil wurde gleichermaßen auf die Niederlande und die gesamten westlichen Demokratien übertragen.

Über die mit dicker roter Teppichware ausgelegten Gänge, die rochen, wie längere Zeit unbewohnte Etablissements eben riechen – Tabakrauch vermischt mit dem Geruch von Desinfektionsmittel, der Sylvie entfernt an „Wofasept“ erinnerte, das in der DDR übliche und im Übermaß versprühte Produkt aus Wolfen, das den Großteil des typischen DDR-Dufts ausmachte –, wurden die beiden Gäste zu ihrem Zimmer geführt. Es lag im zweiten Stock am Ende des Ganges zum Strand hin und war nach ortstypischem Geschmack ausgestattet. Auf Mathias machte alles einen etwas altbackenen Eindruck, Sylvie war begeistert, dass das Zimmer so adrett und sauber war und sogar über ein eigenes Bad mit Dusche und Badewanne verfügte. Mathias hatte den Eindruck, als würde sich ihre innere Spannung allmählich lösen, die sie bei den Grenzübertritten, die ja nur ein Durchwinken waren, und an der Rezeption gezeigt hatte.

„Du scheinst Probleme zu haben, wenn du befürchtest, dass du jemandem deinen Ausweis zeigen musst. Die Grenzposten dürfen nur noch aus gegebenem Anlass die Bürger der Schengenzone kontrollieren. Und ob das Mädchen von der Rezeption deinen Pass sieht, ist doch völlig unerheblich.“

„Das kannst du nicht verstehen“, erwiderte sie nach kurzem Nachdenken und offensichtlich etwas verlegen. „Du hast also gemerkt, dass mich diese Situationen nervös machen?“

„Ich denke, ich kenne dich in der Zwischenzeit gut genug um zu bemerken, wenn du dich aufregst und ins Schwitzen kommst.“

„Die Angst vor Kontrollen durch die Staatsorgane und solche Stellen, die mit diesen zusammenarbeiten müssen, wie zum Beispiel die Frau an der Rezeption, ist ein Erbe meiner DDR-Vergangenheit und besonders meiner Flucht. Ich habe eben das Trauma eines vom Staat eingesperrten Bürgers, dessen Bewegungen ständig überwacht werden, noch nicht überwunden. Und die Einreise in die Bundesrepublik hat mir auch nicht vermitteln können, dass meine persönlichen Freiheiten hier mehr respektiert werden. Die Verhöre in der Botschaft der BRD in Helsinki waren alles andere als eine Vertrauen bildende Maßnahme. Und wie später der Bundesnachrichtendienst – oder wer das auch immer war – in Köln mit mir umgegangen ist, hat mein Bild von der liberalen Gesellschaft und vom Respekt vor der Menschenwürde massiv erschüttert. Aber davon sollte ich eigentlich gar nicht sprechen.“

„Entschuldige, ich wollte nicht deine Gefühle verletzen.“ Mit diesen Worten nahm Rother die Freundin in den Arm und zog sie auf das Bett, und Sylvie war bereit, sich ganz dem Wochenende und dem Geliebten hinzugeben.

Der Samstagmorgen war wolkenlos, eine leichte Brise wehte von der Nordsee her, als sich die beiden, nach einem ausgiebigen Frühstück, zum nahen Strand aufmachten, um einen Spaziergang durch die Dünen zu beginnen. Zum Sonnenbaden war es Anfang April noch zu frisch und Strandkörbe, wie Sylvie sie von der Ostsee kannte, gab es nicht oder sie waren noch nicht aus ihren Winterlagern geholt worden. Zunächst gingen sie mit ausgreifenden Schritten zügig der Sonne entgegen und diese, verbunden mit der Bewegung, wärmte sie allmählich auf. Sylvie tollte geradezu über den Strand und durch die Dünen, wie ein Kind, legte auch schon mal einen kurzen Sprint ein und forderte Mathias zu einem Kräftemessen auf, bei dem er stets unterlag.

„Ich habe mich immer für sportlich und durchaus trainiert gehalten, aber gegen dich habe ich keine Chance.“

„Mach dir nichts draus, ich bin einfach auf dem Sportplatz geboren und aufgewachsen. Wenn ich eine Fläche sehe, auf der ich rennen kann, dann mache ich einen Sprint, wenn ich einen Ball sehe, muss ich damit spielen, und wenn ich ein Seil finde, dann hüpfe ich oder mache Gymnastik.“

„Wieso bist du auf dem Sportplatz aufgewachsen?“

„Mein Vater war Trainer des Olympia-Kaders am Leistungszentrum für Leichtathletik der Nationalen Volksarmee, und so lange ich mich zurückerinnern kann, habe ich dort gelebt. Ich kenne keine andere Heimat als den Sportplatz und die Übungshallen.“

„Erzähl! Ich hatte bisher immer das Gefühl, dass du ungern über deine Vergangenheit, über deine Kindheit reden möchtest.“

„Für DDR-Verhältnisse hatte ich eine unbeschwerte, ja privilegierte Kindheit; für den Sport hat der Staat ja alles getan, hat die Leistungsträger und deren Trainer verwöhnt und gehätschelt. So betrachtet, darf ich mich wirklich nicht beklagen. Ich habe nur mein Leben lang – und das tue ich noch heute – darunter gelitten, dass ich ein ungewolltes Kind war, wenigstens von Seiten meiner Mutter. Sie hat mir immer wieder vorgehalten, dass meine Geburt ihre internationale Karriere als Siebenkämpferin in der Leichtathletik beendet habe, obwohl ich für meine eigene Geburt doch wirklich nicht verantwortlich gemacht werden kann. Aber der eigentliche Übeltäter, mein Vater, stand immer außerhalb jeder Kritik und so musste ich eben als Sündenbock herhalten. Meine Mutter hat nie ein Hehl daraus gemacht“, fuhr Sylvie fort, „dass ich für sie zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt gezeugt worden bin. Mein Vater, Josef Schumacher, Trainer der Siebenkämpferinnen am Leistungszentrum in Neubrandenburg, willigte nicht ein die Schwangerschaft zu unterbrechen, weil die Republik ja schließlich Kinder haben müsse, und zwar gesunde Kinder von gesunden und klassenbewussten Eltern. Mir gegenüber gestand er später, dass er die Schwangerschaft als willkommenes Instrument ansah, die ehrgeizige Mutter auf natürliche Art und Weise davon abzulenken, dass sie einfach nicht talentiert genug war, um eine internationale Karriere zu starten, und nur diese konnte das Ziel sein, zum Ruhme des sozialistischen Vaterlandes.“

 

Nachdem er sich als Trainer nicht in der vorgesehenen Weise für sein Vaterland hatte nützlich machen können, versuchte der Vater es dann eben auf die andere, natürliche Art und Sylvie erblickte das Licht der Welt am 26. Juni 1966 in der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe des Bezirkskrankenhauses Neubrandenburg. Die Geburt verlief nicht problemlos. Sylvie erinnerte sich natürlich nicht mehr an die ersten Tage ihres Lebens, aber auch sekundär war ihr Gedächtnis nicht nachentwickelt worden. Liebende Mütter bewirken so etwas bei ihren Kindern, indem sie ihnen ständig von allen möglichen Vorkommnissen in ihrer frühesten Kindheit erzählen, so dass das wirklich Erlebte und Erinnerte übergangslos in das Erzählte übergeht, ohne dass das Kind wüsste, in welche Kategorie gewisse Fakten einzuordnen wären.

Sylvie wusste aber definitiv von nichts, was ein gewisses Licht auf das gebrochene Verhältnis von Mutter Schumacher zur Existenz und Person der einzigen Tochter warf. Sylvies Erinnerungen begannen mit dem Sportplatz, besser: dem Trainingsgelände, wo sie und ihre Eltern im wörtlichen Sinn zuhause waren. Ihr Leben begann auf dem Sportplatz, wo sie, wie sie erzählte, tagein, tagaus mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen herumtollte. Aber auch dies konnte ja nicht der absoluten Wahrheit entsprochen haben, denn in Neubrandenburg herrscht zeitweise tiefer Winter und in einem solchen dürfte auch die liebloseste Mutter ihre Tochter nicht einfach unbegrenzt draußen herumtollen lassen.

„Ich habe die emotionale Kälte, mit der mir meine Mutter begegnete“, begann Sylvie nach einigem Nachdenken wieder, „immer auf den Umstand zurückgeführt, dass ich ihrem sportlichen Ehrgeiz im Wege stand oder sie mich für das Ende ihrer Karriere verantwortlich machte. Sie hat mir nie mütterliche Gefühle entgegengebracht, im Gegenteil, sie ließ ihre Launen an mir aus und als Reaktion darauf wendete ich mich meinem Vater zu oder den anderen Kindern und Erwachsenen des Kollektivs. Wir lebten ja sehr eng auf dem Sportgelände zusammen. Wir hatten auch schon frühzeitig Betreuerinnen, die sich um uns Kinder – und wir waren etwa zehn in meinem Alter – kümmerten, damit die Erwachsenen ihrer staatstragenden Arbeit nachgehen und Olympiasieger produzieren konnten. Ich bin sicher, dass meine Mutter eine besondere Rolle im Leistungszentrum innehatte, obwohl sie offiziell ja nur die Ehefrau des Kadertrainers Schumacher war. Jedermann auf dem weiten Gelände des Zentrums, aber auch außerhalb, in der Stadt, begegnete ihr mit großem Respekt, ich hatte oft das Gefühl: auch mit Angst. Ich weiß nicht, und ich will es auch nicht wissen, ob sie einen hohen inoffiziellen Posten bei der Staatssicherheit hatte oder ob sie nur über besonders gute politische Verbindungen verfügte. Sie und damit unsere Familie stand jedenfalls unter dem besonderen Schutz der Partei und des Staatsapparates, und die Versorgungslage war in unserem Haushalt immer bestens. Wir mussten nicht in den üblichen HO-Läden Schlange stehen, wenn ich mit Mutter einkaufen ging; wir wurden, wie übrigens alle anderen Spitzensportler, über das Leistungszentrum versorgt, und wenn es etwas Außergewöhnliches zu kaufen gab, dann bekam sie das als Erste angeboten. Klar, mir gefiel das als Kind zunächst, aber ich fühlte mich im Laufe der Zeit zunehmend von meinen Freundinnen und Kumpanen isoliert, weshalb ich nicht unglücklich war, als die Sportförderung mich nach Halle ins Internat schickte. Dort war ich dann eben eine von vielen und hatte keine besonderen Privilegien.“

„Meine Mutter war offenbar der exakte Gegenentwurf zu deiner. Sie erdrückte mich förmlich mit ihrer Mutterliebe“, erwiderte Mathias. „Sie behandelte mich als etwas Besonderes, ohne übertrieben fürsorglich zu sein. Ich konnte mit all meinen Wehwehchen und meinen Sorgen jederzeit zu ihr kommen, und ich war sicher, dass sie mich trösten oder mir helfen würde.“

„Ich habe nicht allzu sehr gelitten unter der Gefühlskälte meiner Mutter. Mein Vater war mir eine große Stütze, und ich konnte mich voll und ganz auf ihn verlassen. Er übernahm für mich die Mutterrolle. Außerdem war, wie gesagt, die ganze Familie im Leistungszentrum besonders geachtet und umworben, also auch ich.“

„Na ja, etwas Besonderes waren wir Rothers in Horb auch: die Familie des Doktors der Stadt, mit einem schönen Haus, mit großem Garten, mit immer der neuesten S-Klasse in der Garage. Wir gehörten zu den bürgerlichen Honoratioren, und alle begegneten uns mit Respekt und großem Wohlwollen. Im Gegensatz zu dir hat mich das allerdings überhaupt nicht gestört, ich habe es geradezu genossen; selbst solche netten Übertreibungen wie mein Spitzname ‚Prinz von Horb‘ haben mir eher geschmeichelt, als dass sie mich geärgert hätten.“

Die beiden Verliebten hatten es sich an einem windgeschützten Platz in den Dünen gemütlich gemacht. Der endlose Blick über die bewegte Wasserfläche, die unzähligen Reflexe der Dünung, der endlos scheinende Horizont vermittelten eine Stimmung der Ruhe und Gelassenheit.

„Die Brandung hier vermittelt mir das Gefühl der Weite, der Endlosigkeit“, sinnierte Sylvie vor sich hin. „Wir kennen eben nur die Ostsee, und sie ist der Prototyp eines Meeres für uns Bürger der DDR. Brandung gab es dort ja praktisch nie, nicht wie hier an der Nordsee, und Brandung ist für mich ein Symbol der Freiheit. Ich fühle mich gerade zum ersten Mal wirklich frei, in der Freiheit angekommen – auch nachdem ich ohne Kontrolle über mehrere Staatsgrenzen gefahren bin und weiß, dass mich niemand daran hindern würde, bis nach Amerika weiterzufahren.“

„Zur Einreise in die USA bräuchtest du allerdings ein Visum,“ warf Mathias scherzend ein. „Das würde dir aber niemand verwehren.“

„Ich bin froh, dass ich den Entschluss gefasst habe, die DDR zu verlassen, auch wenn der Start im sogenannten freien Westen nicht einfach war.“ Über ihre Erfahrungen mit den Sicherheitsorganen der Bundesrepublik nach ihrer Republikflucht sprach Sylvie nicht, das wäre der Stimmung abträglich gewesen, wenngleich durchaus Verständnis, dass sich der westdeutsche Staat vor einer Infiltration durch Mitarbeiter der Staatssicherheit schützen musste.

„Erzähl noch mehr von deiner Schulzeit und von der Förderung des Leistungssports in der DDR. Ich frag mich schon lange, wie ein so kleines Land zu einer führenden Sportnation werden konnte. Genetisch unterscheiden wir uns im Westen ja nicht von euch im Osten.“

„Wie die DDR das geschafft hat, ist mir auch nicht in allen Einzelheiten klar, obwohl ich ja Teil des Erfolges, sozusagen mitten drin im System war. Ich fand es als Kind schön, spielerisch an den Leistungssport herangeführt zu werden, und die Erfolge taten später ein Übriges. Wir leben nach dem agonalen Prinzip und haben dieses verinnerlicht, das heißt, wir stehen immer im Wettstreit untereinander und definieren uns über Erfolge. Dies gilt für jedes Individuum genauso wie für Vereine, Städte und Nationen. Die DDR war immer das Schmuddelkind unter den beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches, klein, hässlich, wirtschaftlich erfolglos und von kaum einer anderen Nation wirklich anerkannt, geschweige denn geliebt. Selbst unsere sozialistischen Bruderrepubliken betrachten uns mit Argwohn. Wir haben zwar das Erbe der Nazidiktatur nie angenommen, sondern uns Sozialisten als deren erste Opfer definiert, unsere Nachbarn konnten aber natürlich nicht vergessen, dass viele unserer Bürger überzeugte Nationalsozialisten gewesen und an den Gräueln der Besatzungen beteiligt waren. Über den Sport konnten wir die Anerkennung gewinnen, die uns auf den anderen Gebieten versagt blieb.“